AVRO MANHATTAN
Der Vatikan
und das
XX. Jahrhundert
AVRO MANHATTAN
Der Vatikan und das XX. Jahrhundert
AVRO MANHATTAN
Der Vatikan
und das
XX. Jahrhundert
VERLAG FÜR GANZHEITLICHE FORSCHUNG UND KULTUR
Reihe
Hintergrundanalysen
Band 7
Titel der englischen Originalausgabe:
THE CATHOL1C CHURCH
AGAINST THE TWENTIETH CENTURY
Deutsch von Hermann O. Lauterbach
Lizenzausgabe des Verlags Volk und Welt,
Berlin (DDR)
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten.
Verlag für ganzheitliche Forschung und Kultur,
2257 Struckum / Nordfriesland
Druck + Herstellung: Bäuerliche Druckerei, 2800 Bremen
ISBN: 3-922314-33-3
INHALT
Vorbemerkung des Verlages IX
I Die katholische Kirche in der modernen Welt 1
II Der Vatikanstaat 9
III Der Vatikan als geistig-religiöse Macht -
Wie die katholische Kirche regiert wird . . 19
IV Der geistige Totalitarismus des Vatikans 32
V Religiöse Orden 53
VI Die grundlegenden Ursachen der Weltunruhe,
wie die katholische Kirche sie sieht 62
VII Die Politik des Vatikans zwischen den Weltkriegen .... 70
VIII Spanien, die katholische Kirche und der Bürgerkrieg .... 78
IX Italien, der Vatikan und der Faschismus 100
X Deutschland, der Vatikan, der erste Weltkrieg, Hitlers Aufstieg 131
XI Nazismus, Vatikan und zweiter Weltkrieg 161
XII Österreich und der Vatikan 208
XIII Die Tschechoslowakei und der Vatikan 236
XIV Polen und der Vatikan 254
XV Belgien und der Vatikan 263
XVI Frankreich und der Vatikan 276
XVII Die Sowjetunion, die orthodoxe Kirche und der Vatikan . . . 318
XVIII Die katholische Kirche und der amerikanische Kontinent —
Die USA und der Vatikan 344
XIX Der Vatikan, Lateinamerika, Japan und China 377
XX Schlußfolgerungen ' 393
Namenverzeichnis 396
Dieses Buch ist all denen gewidmet,
die, unabhängig von ihrer Nationalität,
ihrer Rasse oder Religion,
danach streben,
die Völker aus den dunklen Schatten
der Vergangenheit
in eine Welt zu führen,
in der die Kraft der menschlichen Vernunft
das private und gesellschaftliche Leben
einer betrogenen
und leidenden Menschheit erhellt.
AVRO MANHATTAN wurde 1910 in
Mailand geboren. Er studierte Philosophie
und Soziologie. Mit 21 Jahren trat er das er-
stemal als Schriftsteller an die Öffentlich-
keit. Als junger Student mußte er sein Land
verlassen, nachdem er sich aktiv am Wi-
derstandskampf gegen das Mussolini-Regi-
me beteiligt hatte; danach verbrachte er
viele Jahre in Frankreich, der Schweiz,
Deutschland, Belgien, Brasilien, Argenti-
nien und anderen Ländern. Seit dem zwei-
ten Weltkrieg lebt Manhattan als Schrift-
steller und Publizist in London.
VORBEMERKUNG DES VERLAGES
Wer in Deutschland weiß,
daß Reichskanzler Franz von Papen, päpstlicher Geheimkämme-
rer und ein Mann der katholischen Zentrumspartei, den entschei-
denden Beitrag zu Hitlers Machtergreifung und zur Schaffung des
Reichskonkordats leistete und 1934 für diese poütische Tätigkeit
vom damaligen Papst mit dem Christusorden ausgezeichnet wur-
de?
daß die Auflösung der Zentrumspartei im Juli 1933 sowie die
zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen von Bischöfen zugun-
sten des Nationalsozialismus auf unmittelbare Weisung des Vati-
kan erfolgten?
daß für die direkte Unterstützung Hitlers der damalige Kardi-
nalstaatssekretär Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., ver-
antwortlich war?
daß überall, wo faschistische Regierungen gebildet wurden, der
Vatikan seine Hand im Spiel hatte?
daß es der katholischen Kirche in den letzten Jahrzehnten ge-
lungen ist, selbst in den weitgehend protestantischen USA eine be-
herrschende Stellung im gesellschaftlichen und politischen Leben
zu erringen?
Avro Manhattan schrieb sein Buch Anfang der fünfziger Jahre. Sei-
ne Schlußfolgerungen wurden durch die Ereignisse der folgenden
Jahre weitgehend bestätigt, so daß der Leser ohne Schwierigkeiten die
in der Vergangenheit festgestellten Tendenzen der vatikanischen Poli-
tik in der Gegenwart wiederfindet.
Der Verfasser richtet sich weder gegen die Religion im allgemeinen
noch gegen die katholische Religion im besonderen. Nicht die religiö-
sen Glaubenssätze der katholischen Kirche sind das Thema, sondern
die politischen Taten des Vatikan. Der Glauben bedeutet für den Vati-
kan ohnehin kaum mehr als ein Mittel zur Einflußnahme. Der Verfas-
ser mißt daher nicht mit religiösen, sondern mit politischen Maßstä-
ben. Wo allerdings die politische Vernunft und wichtige humanisti-
sche Grundprinzipien mit den religiösen Dogmen und deren Konse-
quenzen in Widerstreit geraten, läßt er keinen Zweifel daran, wessen
Partei er ergreift.
Manhattan geht in seinem Buch bei der Analyse des Geschehens
zum Teil von Positionen aus, die seiner Erkenntnis der Zusammen-
hänge und ihrer Darstellung Grenzen setzen. Er überschätzt die Rolle
des Vatikan, sieht ihn zu sehr als selbständigen Machtfaktor und zu
wenig als Spitze eines überstaatlich organisierten Netzwerkes, das ne-
ben anderen Netzwerken steht, die miteinander eng verflochten sind
und sowohl Treibende wie auch Getriebene einer sich immer mehr in
den Vordergrund schiebenden materialistisch und imperialistisch
orientierten Entwicklung darstellen. Auch der Faschismus und Natio-
nalsozialismus werden zu einseitig betrachtet, Elemente aus der geg-
nerischen Kriegs- und Nachkriegspropaganda kommen verdeckt zum
Tragen, insbesondere findet der Verfasser kaum einen Zugang zu den
völkisch-freiheitlich-sozialen Bestrebungen, die im Nationalsozialis-
mus anfangs stark vertreten, später aber zurückgedränkt wurden.
Der Sammelbegriff Sozialismus wird zu wenig differenziert ange-
wandt, auch sieht der Verfasser zu unkritisch die Rolle des Sozialismus
marxistischer und bolschewistischer Prägung sowie der dagegen ge-
richteten Abwehrbewegungen.
Trotz dieser Mängel entschloß sich der Verlag, dieses Buch neu her-
auszugeben. Die Veröffentlichung erfolgt in der Reihe Hintergrund-
analysen, die einer Diskussion über die Hintergründe vergangener
und gegenwärtiger Politik dienen soll, ohne daß sich der Verlag die
Standpunkte der einzelnen Autoren uneingeschränkt zu eigen macht.
Das Werk von Manhattan enthält zu viele wichtige Tatsachen und Ge-
sichtspunkte, als daß es in dieser Diskussion fehlen dürfte.
Der Verlag
Kapitel I Die katholische Kirche in der
modernen Welt
Die katholische Kirche als geistige und moralische Autorität - Ihre Möglichkeiten,
auf soziale und politische Fragen Einfluß zu nehmen — Der Vatikan als religiöse und
politische Großmacht
Auf den ersten Blick mag es wie Zeitvergeudung aussehen, über den Ein-
fluß zu schreiben, den die Religion im allgemeinen und das Christentum im
besonderen auf die Ereignisse in einem Jahrhundert ausübt, das mit solch
gigantischen ethischen, sozialen, ökonomischen und politischen Problemen
belastet ist wie das unsere. Die Religion, obwohl noch tief in der modernen
Welt verwurzelt, könne sich heute nicht mehr ernsthaft mit den ökonomi-
schen und sozialen Kräften messen, die die Zivilisation unserer Tage bewe-
gen und erschüttern. Diese Meinung wird vor allem hinsichtlich eines be-
stimmten Zweiges des Christentums vertreten — des Katholizismus. Man gibt
wohl zu, daß der Katholizismus als Religion in einer Reihe von Ländern
noch durchaus mächtig ist, neigt aber gleichzeitig dazu, die Rolle zu unter-
schätzen oder gar zu leugnen, die er in den sozialen, politischen und mili-
tärischen Auseinandersetzungen unserer Zeit spielt.
Die allgemeine Einstellung zur Religion, vor allem zum Christentum,
ist, daß beide Kirchen, die protestantische und die katholische, obwohl beide
nach Macht streben, in Wirklichkeit bereits in den Hintergrund gedrängt
seien; zumindest aber seien sie nicht mehr in der Lage, den Lauf der
Dinge sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik der Völker zu
bestimmen.
Es ist eine Tatsache, daß die Religion überall an Boden verloren hat und
weiterhin verliert. Heute beschäftigen sich der einzelne und die Gesellschaft
vordringlich mit Lohnfragen, mit der Gewinnung von Bodenschätzen, mit
dem Finanzhaushalt, mit der Arbeitslosigkeit, mit dem Wettrennen zur
Herstellung perfektester Zerstörungsmittel, mit der Freisetzung kosmischer
Gewalten und mit tausend anderen Problemen praktischer Art. Diese Tat-
sache trägt dazu bei, eine Illusion aufrechtzuerhalten, die nicht nur im
Widerspruch zur Wirklichkeit steht, sondern auch für die Zukunft gefähr-
liche Folgen haben kann.
Das bezieht sich vor allem auf die Rolle der katholischen Kirche. Denn
der politische Katholizismus ist, ungeachtet seiner enormen zahlenmäßigen
Einbuße an Macht und Einfluß, lebendiger und aggressiver denn je. Er
übt auf das nationale und internationale Geschehen, das seine äußerste
1
Zuspitzung im ersten und zweiten Weltkrieg fand, einen größeren Einfluß
aus, als es uns auf den ersten Blick möglich dünkt.
Die Ansicht, daß der politische Katholizismus nach wie vor eine gewaltige
geistige Macht darstellt, die den Lauf der Weltgeschichte beeinflußt, stützt
sich nicht auf theoretische Überlegungen, sondern auf harte Tatsachen.
Andere Religionen oder religiöse Bekenntnisse beeinflussen ebenfalls mehr
oder weniger die moderne Gesellschaft. Aber ihre Fähigkeit, den Lauf des
geschichtlichen Geschehens mitzubestimmen, hält keinen Vergleich mit dem
Einfluß der katholischen Kirche aus. Dies hat seine Ursache in einigen
Besonderheiten der katholischen Kirche :
1. a Ihre zahlenmäßige Stärke — ungefähr 400 Millionen Gläubige *
b Die Tatsache, daß der Hauptteil der katholischen Bevölkerung in
Europa und Amerika lebt,
c Die Tatsache, daß die katholische Kirche in allen Ländern der Erde
Anhänger hat.
2. Die Auffassung der katholischen Kirche, daß es ihre Mission sei, die
gesamte Menschheit nicht zum Christentum schlechthin, sondern zum
Katholizismus zu bekehren.
3. Die Tatsache, daß sich die katholische Kirche, im Unterschied zum
Protestantismus und zu anderen Religionen, auf eine gewaltige, über
den ganzen Erdball reichende religiöse Organisation stützt. An der
Spitze dieser Organisation steht der Papst. Er hat die Aufgabe, die
Un Veränderlichkeit gewisser Glaubensprinzipien, auf denen der Katho-
lizismus beruht, zu verkünden und aufrechtzuerhalten und den Einfluß
und die Macht der katholischen Kirche in der ganzen Welt zu fördern.
Bei der katholischen Kirche haben wir es also mit einem religiösen Block
zu tun, dem wirksamsten und kämpferischsten Block seiner Art in der mo-
dernen Welt.
Die katholische Kirche kann sich, im Gegensatz zu anderen Bekenntnis-
sen, nicht auf die rein religiöse Sphäre beschränken. Schon ihre Mission, die
geistige Herrschaft des Katholizismus über die Welt aufrechtzuerhalten
und zu erweitern, bringt sie unweigerlich in Kontakt - und sehr oft in
Konflikt — mit allen der Religion benachbarten Sphären. Die religiö-
sen Grundlagen bestehen nicht nur aus theologischen und spirituellen
Auffassungen, sondern berühren in jedem Fall auch moralische und
* Es gibt etwas mehr als zwei Milliarden Menschen auf der Erde, unter ihnen sind
900 Millionen Buddhisten, Hindus usw.; 400 Millionen Katholiken; 250 Millionen
Protestanten; 250 Millionen Mohammedaner; 200 Millionen Schismatiker, orthodoxe
Christen usw.; 16 Millionen Juden.
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häufig auch soziale Prinzipien. Da man aber das eine vom anderen nicht
ohne weiteres trennen kann und da es unmöglich ist, jede Erscheinung
dieser Art nach ihrem religiösen, moralischen oder sozialen Ursprung zu
kennzeichnen, ist es außergewöhnlich schwierig, die jeweiligen Elemente
auseinanderzuhalten. Wo immer religiöse Dogmen zur Debatte stehen, sind
moralische und soziale Prinzipien zwangsläufig einbezogen.
Da aber die religiösen Grundsätze die moralischen und sozialen Grund-
sätze mitbestimmen, ist es nur ein Schritt von diesen in die wirtschaftliche
und damit in die politische Sphäre. In vielen Fällen ist diese Konsequenz
unvermeidlich. Selbst wenn man sich bemüht, die religiösen Probleme streng
auf die religiöse Sphäre zu beschränken, wird es eben wegen der komplexen
Natur der geistigen Prinzipien nicht gelingen. Die praktische Schlußfolge-
rung daraus ist, daß sich jede Proklamation, Verdammung oder Unter-
stützung eines bestimmten geistigen Prinzips durch eine kirchliche Insti-
tution auf halbreligiöse und sogar nichtreligiöse Sphären auswirken wird.
Aus diesem Grund beeinflußt die Kirche, ob sie will oder nicht, Probleme,
die sie gar nicht unmittelbar angehen.
Der Katholizismus ist auf geistigem Gebiet weitaus starrer als jede andere
Religion, daher tritt dieser Zug bei der katholischen Kirche besonders kraß
in Erscheinung. Hinzu kommt, daß ein Katholik seiner Kirche blinden Ge-
horsam schuldet und die kirchlichen Interessen über alle sozialen und poli-
tischen Belange zu stellen hat. Wenn man weiterhin berücksichtigt, daß
die Anhänger der katholischen Kirche - und das sind Millionen solcher über
die ganze Welt verteilter Katholiken — von dem Willen des Papstes gelenkt
werden, ist es nicht schwierig, die weitreichende Macht zu erkennen, die
der Vatikan auch in der nichtreligiösen Sphäre ausübt.
Ein Beispiel soll das erläutern: Die katholische Kirche dekretiert in ihrer
Eigenschaft als religiöse Institution, daß keine Macht der Welt das Band der
Ehe zwischen Mann und Frau lösen kann, wenn es durch das Sakrament
geheiligt worden ist. Die moderne Gesellschaft hingegen räumt ein, daß
eine Eheschließung unter gewissen Umständen eine Fehlentscheidung ge-
wesen sein kann, und hat zu diesem Zweck ethische und juristische Grund-
lagen geschaffen, die eine Lösung der ehelichen Bande ermöglichen. Da die
katholische Kirche dies verurteilt, fühlt sie sich gleichzeitig verpflichtet,
diese ethischen und juristischen Grundlagen mit allen ihr zu Gebote stehen-
den Mitteln zu bekämpfen. Sie verdammt diese Grundlagen nicht nur in der
religiös-moralischen Sphäre, sondern weist darüber hinaus alle Katholiken
an; sowohl die gesetzlichen Grundlagen der Ehescheidung als auch die
Praxis der Scheidung abzulehnen und zu bekämpfen. Deshalb muß ein
Katholik, wenn er Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft eines Landes
ist, in der ein Gesetz zur Legalisierung der Ehescheidung beraten wird,
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seine religiöse Pflicht über alles stellen, das Gesetz bekämpfen und dagegen
stimmen. Auf diese Weise bleibt die religiöse Frage der Ehescheidung nicht
nur eine Frage moralischer und ethischer Prinzipien, sondern verwandelt
sich in ein erstrangiges soziales Problem.
Ein anderes typisches Beispiel: Die moderne Gesellschaft und die moderne
Ethik haben die Theorie und die Praxis der Geburtenkontrolle gebilligt.
Diese Auffassung wird von der katholischen Kirche verdammt, da sie den
alleinigen Zweck der geschlechtlichen Vereinigung in der Fortpflanzung
erblickt. Diese Auffassung ist bindend, unabhängig von jeder sozialen und
ökonomischen Gegebenheit. Sie fragt nicht danach, ob die Kinder, die ge-
boren werden, auch ausreichend ernährt und menschenwürdig aufgezogen
werden können. Dieses religiöse Gebot hat zur Folge, daß Millionen ver-
heirateter Paare Kinder in die Welt setzen, nur um die Gesetze ihrer Kirche
zu befolgen, unabhängig davon, ob es ihrer eigenen sozialen und wirtschaft-
lichen Situation oder der ihres Landes zuträglich ist. Dadurch werden ernst-
hafte Schwierigkeiten bevölkerungspolitischer, ökonomischer oder politischer
Art heraufbeschworen oder verschärft.
Die Kirche behauptet von sich, daß sie das Recht habe, nicht nur religiöse,
sondern auch moralische Grundsätze zu lehren. Sie proklamiert zum Beispiel
die Unverletzlichkeit des Privateigentums, einen Grundsatz also, der im
Widerspruch zu der gewaltigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen
Bewegung steht, die unter dem umfassenden Begriff Sozialismus bekannt
ist. Da der Sozialismus in seinen verschiedenen Formen eine rein soziale
und politische Bewegung ist, die sich bemüht, ihre Grundsätze auf das wirt-
schaftliche, soziale und politische Leben der Gesellschaft zu übertragen, zieht
er sich unvermeidlich die Feindschaft der katholischen Kirche zu. Diese
Feindschaft führt die Kirche zwangsläufig in die Arena sozialer und politi-
scher Kämpfe; denn Katholiken müssen, da sie ihrer Kirche blinden Gehor-
sam schulden, als Staatsbürger, als Parlamentarier oder als Mitglieder einer
politischen Partei Theorie und Praxis des Sozialismus bekämpfen.
Es gibt ungezählte Beispiele, aus denen zu ersehen ist, daß die katholische
Kirche nicht davon Abstand nehmen kann, sich in das soziale und politische
Geschehen einzumischen. Diese ständige Einmischung in das soziale und
politische Leben der Gesellschaft im allgemeinen und bestimmter Staaten
und bestimmter Personen im besonderen kann behutsam oder gewalttätig
erfolgen, je nachdem, wie die nichtreligiöse Sphäre auf den Ruf der Kirche
reagiert.
Daher kommt es, daß katholische Länder, deren Legislative entsprechend
den Prinzipien der katholischen Kirche aufgebaut ist, in allen Fragen die
Meinung der katholischen Kirche vertreten. Eine katholische Regierung
wird zum Beispiel Gesetze einführen, die die Scheidung verbieten und den
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Gebrauch von Mitteln zur Empfängnisverhütung bestrafen, und wird jede
auf die Abschaffung des Privateigentums gerichtete Aktivität in Acht und
Bann tun. Infolgedessen werden in einem solchen Land Gesetze gegen die
Scheidung erlassen und alle Geschäfte geschlossen, die Mittel zur Empfäng-
nisverhütung verkaufen, wird jede Bewegung verboten und jede Person ein-
gesperrt, die gegen das Privateigentum auftritt.
Wenn aber der KircKe statt einer gehorsamen katholischen Regierung
ein indifferentes oder gar feindseliges Parlament gegenübersteht, ist der
Konflikt unausbleiblich. Der Staat und die Kirche erklären einander den
Krieg. Der Konflikt kann in einem Waffenstillstand enden, oder es wird ein
Kompromiß gefunden, aber der Kampf kann auch in eine offene, andauernde
Feindschaft münden. Der Staat wird die Gesetze erlassen, die er für notwen-
dig hält, ohne Rücksicht auf die Kirche. Er kann die Ehescheidung legali-
sieren und jeder politischen Partei das Recht zuerkennen, für die Aufhebung
des Privateigentums einzutreten. Die Kirche wird darauf mit der Anwei-
sung an ihre Priester antworten, gegen diese Gesetze zu predigen und alle
Katholiken zu verpflichten, diese Gesetze und die Regierung, die sie erlassen
hat, zu bekämpfen. Alle Zeitungen, die sich im Besitz von Katholiken be-
finden, werden gegen die Regierung Stellung nehmen, einzelne katholische
Mitglieder des Parlaments werden gegen jedes Gesetz stimmen, das im
Widerspruch zu den Prinzipien der Kirche steht; die von Katholiken ge-
gründeten und beherrschten religiösen, sozialen und politischen Organi-
sationen werden diese Gesetze boykottieren. Eine politische, möglichst
katholische, Partei wird gegründet werden und die Aufgabe erhalten, eine
Regierung ans Ruder zu bringen, die den Standpunkt der Kirche vertritt,
und alle Kräfte gegen die Parteien ins Feld zu führen, deren Doktrinen
denen des Katholizismus widersprechen. Ein erbitterter politischer Kampf
wird beginnen. Hierbei sollte man nie aus dem Auge verlieren, daß alle
Katholiken in ihrem politischen Kampf von den strengen und dogmatischen
Leitsätzen des Katholizismus und von dem höchsten Führer der katholischen
Kirche, dem Papst, geleitet werden.
Katholische Gläubige erklären häufig, der Papst mische sich niemals in
politische Angelegenheiten. Wir werden später nachweisen, daß er es doch
tut — manchmal sogar unmittelbar. Mittelbar mischt er sich bereits dann
ein, wenn er den Gläubigen die Weisung erteilt, bestimmte Gesetze, Sozial-
lehren oder politische Parteien zu bekämpfen, die seiner Meinung nach mit
dem Katholizismus unvereinbar sind. Ein klassisches Beispiel dafür ist die
Enzyklika Rerum Novarum Leos XIII. Ihre Verkündung bedeutete einen
Sprung in die politische Arena, obwohl sie sich keineswegs unmittelbar in
einzelne politische Fragen jener Zeit einmengte. Der Papst verurteilte in der
Enzyklika ausdrücklich die sozialen und politischen Lehren des Sozialismus
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und gab den Gläubigen den Rat, sich in besonderen katholischen Gewerk-
schaften zu organisieren und eigene katholische Parteien zu gründen.
Diese Macht der katholischen Kirche, sich in soziale und politische An-
gelegenheiten einzumischen, wird dadurch noch gefährlicher, daß sie keines-
wegs auf bestimmte Länder beschränkt ist; sie erstreckt sich auf alle Länder,
in denen katholische Gläubige wohnen. Die katholische Kirche kann also
indirekt und direkt in innerpolitischen und internationalen Fragen einen
bestimmenden Einfluß ausüben. Durch die Gründung oder Unterstützung
politischer Parteien oder Gruppierungen in bestimmten Ländern und die
gleichzeitige Bekämpfung anderer Parteien und Gruppierungen kann sie
eine politische Kraft ersten Ranges werden. Dieser Umstand gewinnt da-
durch an Bedeutung, daß die katholische Kirche auch imstande ist, als po-
litische Macht in der internationalen Sphäre tätig zu sein. Sie kann zum
Beispiel gewisse katholische Länder und Regierungen veranlassen, be-
stimmte internationale Entwicklungen zu unterstützen oder zu bekämpfen
oder die Wünsche der Kirche auf internationalen Foren vorzutragen. So war
es zwischen den beiden Weltkriegen der offensichtliche Wunsch der Kirche,
die Sowjetunion nicht zum Völkerbund zuzulassen, und während des Abes-
sinienfeldzuges forderte sie die Aufhebung der Sanktionen, die der Völker-
bund gegen das faschistische Italien verhängt hatte.
Wie hoch ist der Prozentsatz der Gläubigen, die den Weisungen der
katholischen Kirche in sozialen und politischen Angelegenheiten folgen?
Diese Frage wurde angesichts des gewaltig zunehmenden Skeptizismus inner-
halb der Masse ihrer Anhänger akut. Ein großer Teil der modernen Ge-
sellschaft lehnt in wachsendem Maß die mittelbaren und unmittelbaren Ein-
mischungsversuche der Kirche in politische Angelegenheiten ab.
In nominell katholischen Ländern (Frankreich, Italien, Spanien) übt die
katholische Kirche trotz der verbreiteten Indifferenz der Bevölkerung noch
immer einen maßgeblichen Einfluß aus, der allerdings erst durch die Be-
mühungen einer ehrgeizigen Minderheit wirksam wird. 'Untersuchungen
haben ergeben, daß man die Bevölkerung eines nominell katholischen Lan-
des bezüglich ihrer Einstellung zur Kirche wie folgt aufgliedern kann: Ein
Fünftel ist aktiv antiklerikal, ein Fünftel aktiv proklerikal; drei Fünftel
sind weder aktiv feindselig, noch unterstützen sie die Kirche aktiv, werfen
aber in gewissen Fragen ihr Gewicht entweder für die eine oder die andere
Gruppe in die Waagschale (Professor Salvemini, Harvarduniversität, USA),
Auf der Grundlage dieser Berechnung verfügt der Papst in jedem nominell
katholischen Land immer noch über eine beachtenswerte Armee aktiver
Parteigänger, die auf sozialem und politischem Gebiet seine Schlachten
schlagen. In den protestantischen Ländern, in denen die Katholiken in der
Minderheit sind, ist der Prozentsatz der aktiv proklerikalen Katholiken
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gewöhnlich weit hoher. Diese Millionen aktiver Parteigänger des politischen
Katholizismus stellen, von einem Befehlszentrum geleitet und auf das
gleiche Ziel — die Machterweiterung der katholischen Kirche — ausgerichtet,
eine Kraft in der nationalen und internationalen politischen Arena dar, die
in ihrer Wirkung kaum überschätzt werden kann.
Der geistige Kopf dieser Bewegung, der die verschiedenen katholischen
Organisationen und Parteien auf dem Gebiet des regionalen, nationalen
und internationalen, des sozialen und politischen Kampfes leitet, befindet
sich im Zentrum des Katholizismus — im Vatikan. Die katholische Kirche
verfügt, um ihre Aktivität auf beiden Geleisen, dem religiösen und dem po-
litischen, besser entwickeln zu können, über zwei Instrumente: einmal über
die religiöse Institution, die Kirche, zum anderen über ihren politischen
Machtapparat, den Vatikan. Obwohl sich beide, wann immer es nützlich
scheint, getrennt voneinander mit den politischen und religiösen Fragen
befassen, stellen sie in Wirklichkeit eine Einheit dar. An ihrer Spitze steht
der Papst, der einerseits das religiöse Oberhaupt der katholischen Kirche als
einer rein geistlichen Macht und andererseits das Oberhaupt des Vatikans,
eines weltweiten diplomatisch -politischen Zentrums und eines unabhängigen,
souveränen Staates, ist.
Entsprechend den jeweiligen Umständen handelt der Papst, um die Macht
der katholischen Kirche zu erweitern, entweder als religiöses Oberhaupt oder
als Führer eines diplomatisch -politischen Zentrums oder in beiden Funk-
tionen zugleich. Die Rolle der katholischen Kirche als politische Kraft tritt
offen zutage, wenn sich der Papst mit sozialen oder politischen Bewegungen
auseinandersetzt, wenn er mit bestimmten Staaten Verträge schließt oder
mit ihnen ein Bündnis eingeht, um einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen.
Manchmal steht die katholische Kirche vor der Notwendigkeit, sich mit
Kräften zu verbinden, die nicht nur nichtreligiös oder nichtkatholisch, son-
dern sogar religionsfeindlich sind. Dieser Fall tritt ein, wenn die katholi-
sche Kirche sich Feinden gegenübersieht, die sie nicht allein zu überwinden
vermag. Dann ist sie gezwungen, Verbündete zu suchen, die dieselben
Feinde haben und deren Vernichtung wünschen. So traten zum Beispiel
nach dem ersten Weltkrieg, als der Kommunismus in Europa im Vordringen
war, in einigen europäischen Ländern politische Bewegungen in Erschei-
nung, die diese Entwicklung aufhalten wollten. Diese Bewegungen fanden
sofort einen tatbereiten Verbündeten in der katholischen Kirche, deren
Bannstrahl gegen die sozialistischen Lehren um so heftiger wurde, je mehr
sich diese Lehren verbreiteten. Einige dieser Bewegungen wurden unter
dem Namen Faschismus, Nazismus, Falangismus usw. bekannt. Der Papst
machte die Bündnisse mit ihnen wirksam, indem er sowohl den Einfluß der
katholischen Kirche als einer religiösen Institution als auch den Einfluß des
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Vatikans als eines diplomatisch -politischen Zentrums in die Waagschale
warf. So wurden einerseits die Gläubigen darauf hingewiesen, daß es ihre
Pflicht und Schuldigkeit sei, diesen oder jenen Politiker, diese oder jene
Partei zu unterstützen; dabei brauchten diese Politiker und Parteien keines-
wegs unbedingt katholisch zu sein, es genügte, daß sie sich die Vernichtung
der Todfeinde der katholischen Kirche als Ziel gesetzt hatten. Andererseits
wurden durch die Botschafter des Vatikanstaates, durch die Kardinäle oder
durch die örtliche Hierarchie entsprechende Abkommen getroffen. Darüber
hinaus wurden die Leiter der katholischen Parteien und sozialpolitischen Or-
ganisationen angewiesen, die vom Vatikan erwählten Verbündeten zu unter-
stützen. In einigen Fällen wurde ihnen sogar befohlen, sich selbst aufzu-
lösen, um einer nichtkatholischen Partei den Weg zu ebnen, die größere
Aussichten hatte, jene politisch -soziale Bewegung zu zerstören, in der die
Kirche ihren Hauptfeind sah. Wir werden in den folgenden Kapiteln Ge-
legenheit haben, wahrhaft erschütternde Beispiele dieser Taktik kennen-
zulernen.
Für seine Aktivität auf religiösem und auf nichtreligiösem Gebiet steht
dem Papst eine weitreichende Maschinerie zur Verfügung, mit deren Hilfe
er die katholische Kirche in der ganzen Welt regiert. Die wichtigste Funk-
tion dieses Apparates ist es, die Interessen der Kirche nicht nur als einer
religiösen Institution, sondern auch als eines diplomatisch -politischen Zen-
trums wahrzunehmen. Für die sozialen und politischen Angelegenheiten hat
die Kirche eine zweite weitgespannte Organisation, die, obwohl von der
ersten organisatorisch getrennt, doch stets in Übereinstimmung mit ihr han-
delt. Jeder Teil dieser Maschinerie hat sein besonderes Aktionsfeld, aber beide
arbeiten an der Erreichung desselben Zieles, an der Aufrechterhaltung der
Herrschaft der katholischen Kirche in der ganzen Welt. Da beide Apparate
voneinander abhängen und häufig zur gleichen Zeit eingesetzt werden, ist es
nützlich, ihre speziellen Aufgaben und jeweiligen Zielsetzungen, ihre Ar-
beitsmethoden und vor allem den Geist, der sie bewegt, kennenzulernen.
Bevor wir aber diese Untersuchungen beginnen, wollen wir uns mit dem of-
fiziellen Zentrum der katholischen Kirche, mit dem Vatikanstaat, befassen.
Kapitel Ii Der Vatikan Staat
Kurzer Abriß der Geschichte des päpstlichen Staates - Die Gründung des heutigen
Vatikanstaates - Die Lateranverträge - Die Verwaltung des Vatihans - Der Vatikan als
diplomatisch-politisches Zentrum.
Unter allen politischen und religiösen Institutionen, die heute existieren,
ist der Vatikan die weitaus älteste. Er ist ein souveräner, unabhängiger und
freier Staat, Sitz der Regierung der katholischen Kirche und Zentrum der
raffiniertesten diplomatisch-politischen Macht unter den Mächten der Erde.
Er ist einer der jüngsten Staaten und an Größe des Gebiets der kleinste sou-
veräne Staat der Welt. Sein unmittelbarer Herrschaftsbereich erstreckt sich
über einige Hundert Hektar Land und etwa 600 Einwohner. Aber dieser
Staat leitet und regiert eine Unzahl fest miteinander verbundener und auf
dem Territorium fast aller Völker lebender Menschen. Allein diese Eigen-
art des Vatikans müßte selbst für einen wenig interessierten Leser ausrei-
chender Anlaß sein, sich näher mit ihm zu beschäftigen.
Was versteht man unter dem Wort „Vatikan"? „Vatikan", so erklärt uns
die Catholic Encyclopcedia, ist „der offizielle Sitz des Papstes in Rom, so
genannt nach seiner Lage auf den flachen Hängen des Vatikanhügels; im
übertragenen Sinn wird der Name gebraucht, um die päpstliche Macht, ihren
Einfluß sowie, in erweitertem Sinne, den der gesamten Kirche zu kenn-
zeichnen."
Der Ursprung des Wortes Vatikan ist ungewiß. Einige suchen ihn in dem
Namen einer verschwundenen etruskischen Stadt Vaticum. Andere leiten das
Wort etymologisch von dem lateinischen Wort vaticinia (Weissagungen)
ab; der Vatikanhügel sei der Ort gewesen, von dem aus die etruskischen und
später die römischen Priester ihre Weissagungen verkündet hätten. Für die
Christenheit erhielt der Vatikanhügel Bedeutung, als dort der Überlieferung
zufolge im Jahre 67 der heilige Petrus gekreuzigt wurde. Die Christen er-
richteten ihm auf dem Hügel eine Grabstätte mit dem Blick zum Nerozirkus
(Cajanum), in dem er den Tod gefunden hatte. Später wurde an demselben
Ort Sankt Linus, Petri Nachfolger, begraben. Sankt Anacletus, Bischof von
Rom und Nachfolger des Sankt Linus, baute die erste Kapelle auf dem Grab-
mal. Im Laufe der Jahrhunderte wuchs das Ansehen dieses Hügels. Er wurde
ein geheiligter Ort, ein Ort der Gottesverehrung, an dem die sterblichen
Überreste vieler Päpste zur Ruhe gebettet wurden.
Nachdem Kaiser Konstantin aus Dankbarkeit für seine Heilung am Grab-
mal des Sankt Petrus oder — was wahrscheinlicher ist — aus politischen
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Erwägungen den „Frieden der Kirche" verkündet hatte, baute er dort eine
Basilika zu Ehren des heiligen Petrus, des Apostels, Bischofs und Märtyrers.
Der Hauptaltar wurde über dem Grab des Sankt Petrus errichtet. Am
18. November 324 weihte Papst Silvester die Kirche. Zehn Jahre zuvor hatte
Kaiser Konstantin Papst Miltiades eine Residenz auf dem Lateranhügel
zugewiesen. Dort sollten auch die künftigen Päpste wohnen. Wenn ein Papst
eine Messe zelebrierte, so tat er es in der Basilika und begab sich von dort
zum Lateranhügel zurück. Später wurden neben der Basilika weitere
Gebäude errichtet, um die Pilger unterzubringen und für die Priester und
den Papst Umkleidemöglichkeiten zu schaffen. Außerdem mußten die
Cubicularesy die das Grabmal des Petrus zu bewachen hatten, Unterkünfte
erhalten. Papst Symmachus, der nach dem Aufstand des Gegenpapstes Lorenz
gezwungen war, den Lateranhügel zu räumen, entschloß sich, mit seinem
Hof auf den Vatikanhügel überzusiedeln, und legte damit den Grundstein
für den heutigen Vatikan.
Karl der Große, der von seinem Vater den Titel eines Herrschers und Be-
schützers der Römer geerbt hatte, baute mit Hadrian I. und später mit
Leo III. auf dem Vatikanhügel eine Reihe kirchlicher Gebäude. Im Jahre 846
landeten die Araber, nachdem sie hundert Jahre zuvor von Karl Martell bei
Poitiers geschlagen worden waren, in Sizilien. Bald darauf erschienen sie
vor der Tibermündung und griffen Rom an. Aurelius verteidigte die Stadt
an den Außenmauern. Der Vatikan und die Burg lagen vor diesen Mauern
und wurden von den Arabern besetzt.
Leo IV. baute daraufhin zum Schutz des transtiberischen Roms mit Hilfe
Kaiser Lothars einen Festungsring, zu dessen Errichtung Spenden aus der
ganzen christlichen Welt beitrugen. Das Werk wurde 848 begonnen und 852
beendet. Ein Wall von vierzig Fuß Höhe entstand. Das von ihm umschlossene
Gebiet wurde Leo-Stadt genannt. In ihr lag das kirchliche Zentrum, in dem
später die Päpste residierten. Die ersten, noch groben Umrisse der Vatikan-
stadt waren damit geschaffen.
Nikolaus V. baute den Hauptteil des Vatikanpalastes und begann den Bau
der Vatikanbibliothek. Sixtus IV. errichtete die später nach ihm benannte
Sixtinische Kapelle. Im April 1506 legte Julius IL den Grundstein zur heutigen
Basilika des Sankt Petrus. Ihr Bau wurde ebenso wie der des Palastes unter
Sixtus V. vollendet. Die späteren Päpste fügten einige Nebengebäude
(Museen, Bibliotheken usw.) hinzu. Nach dem Abschluß der Lateranverträge,
auf die wir noch zu sprechen kommen, wurde eine Eisenbahnlinie gelegt,
ein Postamt und ein Telegraphennetz eingerichtet und eine Rundfunk-
station gebaut.
Das päpstliche Staatswesen umfaßte im wesentlichen Rom, das Gebiet um
die Stadt und die Romagna. Das ging auf eine Übereinkunft mit Karl dem
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Großen zurück. In diesem Raum herrschten zwar offiziell die Päpste, aber
sie nahmen bis ins 15. Jahrhundert hinein nicht unmittelbar Anteil an den
Regierungsgeschäften. Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung -zu Beginn
des 16. Jahrhunderts - gehörten zum päpstlichen Staat die Herzogtümer
Padua, Piacenza, Modena, Romagna, Urbino, Spoleto und Castro, die
Marken und die Provinzen Bologna, Perugia und Orvieto. Mitte des 1 9. Jahr-
hunderts hatte er eine territoriale Ausdehnung von etwa 40000 Quadrat-
kilometern und wurde von drei Millionen Menschen bewohnt. 1860 wurden
die Romagna, die Marken und Umbrien dem neuen italienischen König-
reich einverleibt. Dem Papst verblieben lediglich die Stadt Rom und die
Provinz Latium (s. Catholic Enzyclopcedia) '.
Am 10. Februar 1798 eroberte General Berthier im Namen der Franzö-
sischen Revolution die Stadt Rom, um den Tod Duphots zu rächen. Wenige
Tage später wurde Pius VI. aus Rom ausgewiesen und die päpstliche Herr-
schaft durch eine römische Republik abgelöst. Ein Jahr zuvor waren franzö-
sische Truppen unter dem Befehl des Generals Bonaparte gegen den Papst
marschiert. Am 19. Februar 1797 hatte Pius VI. einen Friedensvertrag
unterzeichnet, in dem er Bologna, Ferrara und Ravenna an Frankreich ab-
trat und sich zur Zahlung einer hohen Entschädigung verpflichtete. Es war
das erste Mal, daß der Heilige Stuhl Teile seines Herrschaftsgebietes ab-
treten mußte.
Der Nachfolger Pius' VI. weigerte sich, die Kontinentalsperre gegen Eng-
land anzuerkennen. Napoleon ließ daraufhin Rom durch den General Miollis
besetzen und zu einer freien kaiserlichen Stadt erklären und unterzeichnete
in Wien ein Dekret, das den Kirchenstaat zu einem Bestandteil des franzö-
sischen Imperiums machte. 1814 kehrte der Papst nach Rom zurück.
Am 9. Februar 1849, nach Beginn des italienischen Unabhängigkeits-
krieges, verkündete die italienische konstituierende Versammlung, daß dem
Papst alle Garantien gewährt werden sollten, die er brauche, um seine geist-
liche Tätigkeit unabhängig auszuüben, daß er aber nicht länger das Recht
habe, die Bevölkerung Roms zu regieren. Der Papst flüchtete aus Rom,
kehrte aber, kaum daß ein Jahr verstrichen war, im Gefolge der Truppen
Napoleons III. in die Stadt zurück.
1861 verkündete Graf Cavour, daß Rom die Hauptstadt eines vereinigten
italienischen Nationalstaats werden müsse. Zur Lösung der Kirchenfrage
schlug er die Formel vor: Eine freie Kirche in einem freien Staat! Sie wurde
von der katholischen Kirche zurückgewiesen. Cavour und die italienische
Regierung versuchten auf allen möglichen Wegen zu einer Verständigung
mit dem Papst zu gelangen. Sie boten Entschädigungen und jede nur denk-
bare Garantie an; sie baten Kardinäle, Priester, einflußreiche katholische
Laien und selbst den französischen Kaiser Napoleon III. um Vermittlung;
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aber der Papst blieb unnachgiebig. Viele Katholiken unterstützten Cavour
und baten den Papst, die weltlichen Besitztümer freizugeben, „um der
Kirche die Freiheit, dem Heiligen Stuhl die Unabhängigkeit, der Welt den
Frieden zu schenken und dem neuen Königreich nicht seine Hauptstadt zu
rauben", wie ein katholischer Priester, Pater Passaglia, schrieb. Bezeichnend
für die damalige Geistesverfassung des Papstes ist, daß er den Priester
sofort seines Lehramtes enthob und ihn verfolgte, so daß Passaglia gezwun-
gen war, in Perugia Zuflucht zu suchen. Einige Jahre zuvor hatte der Papst
sogar alle Personen exkommuniziert, die bestimmte liberale Gesetze des
Königreichs Piemont unterstützt hatten, und das Königreich selbst zu einem
„Verfolger der katholischen Kirche" erklärt.
Am 29. August 1870 überreichte der Marchese Visconti Venosta dem
Papst eine Note, in der die Garantien aufgezählt waren, die die italienische
Regierung dem Heiligen Stuhl anbot. Die wichtigsten waren:
Dem Papst sollten die Würde, die Unverletzlichkeit und alle Vorrechte eines
Souveräns unter Vorrang vor dem König und allen anderen Souveränen gewährt werden.
Den Kardinälen sollte der Rang von Fürsten und alle damit verbundenen Rechte
zugebilligt werden.
Der Papst sollte die volle Souveränität über die leontinische Vorstadt, einschließlich
des Vatikans und des Kastells Sankt Angelo, erhalten.
Die übrigen Artikel behandelten die Immunität der diplomatischen Ver-
treter beim Heiligen Stuhl und Angelegenheiten innerkirchlicher Art. Alle
Garantien sollten Gegenstand einer internationalen Vereinbarung werden.
Der Papst weigerte sich abermals mit einem resoluten Non possumus,
seine Zustimmung zu geben. Diese Weigerung hatte ihre Gründe nicht nur
darin, daß die Kirche nicht willens war, Teile ihres staatlichen Territoriums
abzutreten, sondern war auch auf religiöse Erwägungen zurückzuführen.
Das neue Königreich Italien war in den Augen der Kirche ein „säkulares
Staatswesen", das heißt, es war der „Häresie" des Säkularismus und Libera-
lismus schuldig. Die Kirche könne nichts mit einem Staat zu schaffen
haben und noch weniger den Raub ihrer weltlichen Besitztümer durch die-
sen Staat verzeihen, dessen Lenker „sich offen zu den Grundsätzen des
Säkularstaates und der immer weiter um sich greifenden Freimaurerei be-
kennen".
Als alle Verhandlungen gescheitert waren, blieb der italienischen Regie-
rung nichts übrig, als ihre Macht zu gebrauchen. Italienische Truppen be-
setzten am Morgen des 20. September die Stadt Rom. Die Bevölkerung
begrüßte begeistert den Zusammenbruch des päpstlichen Regimes. Unruhen
brachen aus. Die italienische Regierung mußte Truppen auf den Peters-
platz und in die Umgebung des Vatikans entsenden, um den Papst vor
Gewalttätigkeiten der aufgebrachten Menge zu schützen.
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1871 verkündete die italienische Regierung ein „Garantiegesetz", das
die Vorrechte des Pontifex maximus und des Heiligen Stuhls und die Be-
ziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem italienischen Staat
regelte.
Die Bedingungen des Gesetzes waren sehr großzügig. Die italienische Re-
gierung garantierte, daß „die Person des Pontifex maximus geheiligt und
unverletzlich" sei. Alle Angriffe gegen den Papst oder Beleidigungen seiner
Person sollten so geahndet werden, als wären sie gegen den König gerichtet.
Dem Papst wurde das Recht zugestanden, zum Schutze seines Eigentums
Truppen zu halten. Die italienische Rgierung erklärte sich bereit, dem Papst
ein „ständiges und unantastbares Einkommen" in Höhe von 3 225 000 Lire
jährlich zu zahlen. Die päpstlichen Paläste im Vatikan und Lateran sollten
„unverletzlich" und von jeglicher Steuer befreit sein. Keine staatliche oder
öffentliche Stelle sollte das Recht haben, die päpstlichen Paläste ohne aus-
drückliche Erlaubnis des Papstes zu betreten. Die Vertreter ausländischer
Regierungen beim Heiligen Stuhl sollten alle Privilegien genießen, die das
Völkerrecht für Diplomaten vorsieht. Die Bischöfe sollten nicht zur Eides-
leistung gegenüber dem König verpflichtet sein. Religiöse Fragen sollten in
völliger Freiheit diskutiert werden können.
In dem Streit, der nach dem Erlaß des Gesetzes entbrannte, ging es
weniger um diese Garantien als vielmehr um den säkularen und liberalen
Charakter der italienischen Regierung, die sich hartnäckig weigerte, ein
Konkordat abzuschließen. In Wirklichkeit wurde wie schon bei früheren
Gelegenheiten deutlich, daß sich die katholische Kirche aus religiösen Grün-
den weigerte, ein politisches Übereinkommen zu treffen.
Als schließlich 1919 Papst Benedikt XV. einsah, daß keine Aussicht be-
stand, mit der italienischen Regierung ein Konkordat abzuschließen, er-
klärte er sich bereit, „auch ohne Konkordat zu einem Übereinkommen zu
gelangen".
Nach 1922, als in Italien bereits das faschistische Regime herrschte, leitete
Benedikts Nachfolger, Pius XI., von dem der katholische Professor Dr.. Bin -
chay in Church and State in Fascist Italy schreibt, er habe „keinerlei
Sympathien für die Demokratie und für parlamentarische Institutionen"
gehabt, Verhandlungen ein, um die „römische Frage", wie es damals hieß,
zu lösen. Er verlangte den Abschluß eines Konkordats. Das bedeutete, daß
der Katholizismus Staatsreligion werden und die katholische Kirche das
Recht erhalten sollte, das Erziehungswesen und ähnliche Einrichtungen
zu kontrollieren.
Nach längeren Verhandlungen wurde der Lateran vertrag abgeschlossen.
Er respektierte das Territorium des Vatikans als das eines unabhängigen
und souveränen Staates. In dem Vertrag, der mit den Worten „Im Namen
13
der Heiligen Dreieinigkeit" beginnt, heißt es unter anderem: „Die katho-
lisch-apostolische und römische Religion ist die einzige Religion des Staates.* 4
Durch diesen Vertrag erkannte Italien ferner die Souveränität des Heiligen
Stuhls an und verpflichtete sich, dem Vatikan 750 Millionen Lire zu zahlen
und ihm italienische fünfprozentige Staatsanleihen in Höhe von einer
Milliarde Lire Nennwert zu überschreiben. So entstand im Februar 1929
der Vatikanstaat, wie wir ihn heute kennen.
Der Vatikanstaat umfaßt das Territorium, auf das sich, entsprechend dem
Lateranvertrag, die weltliche Souveränität des Heiligen Stuhls erstreckt.
Dazu gehören die vatikanischen Paläste, die Gärten und Anlagen, die
Basilika des Sankt Petrus und der Petersplatz sowie die anliegenden Ge-
bäude. Alle männlichen Erwachsenen des Vatikanstaates stehen im direkten
Dienst der katholischen Kirche oder ihrer Geistlichkeit. Das ist die allge-
meine Voraussetzung, um das Wohn- und Staatsbürgerrecht des Vatikan-
staates zu erlangen.
Der Papst vereinigt in seiner Person die gesetzgeberische, ausführende
und richterliche Gewalt. Wenn er abwesend ist, geht sie auf das Kardinals-
kol legium über. Für die Verwaltung des Vatikanstaates ernennt der Papst
einen Gouverneur, einen Laien, dem ein beratendes Gremium zur Seite
steht. Der Gouverneur ist für die öffentliche Ordnung, die Sicherheit, den
Schutz des Eigentums usw. verantwortlich. Das einzig gültige Recht ist das
kanonische Recht, zu dem einige spezielle städtische Verordnungen und die
Gesetze des italienischen Staates treten» die dem Vatikan angemessen
scheinen.
Der Papst hat keine private Armee, sondern nur eine geringe Zahl farben-
prächtiger Wachen, die hauptsächlich bei religiösen oder diplomatischen
Zeremonien in Erscheinung treten. Die berühmte Schweizergarde wurde
erstmals im September 1505 durch die Anwerbung von 150 Mann aus dem
Schweizer Kanton Zürich aufgestellt. Im Jahre 1512 ernannte Papst
Julian II diese Garde zu Difensori della Libertä della Chiesa*. Papst
Pius VII. schuf 1816 die kirchliche Gendarmerie, Karabinieri genannt.
Außerdem wurde eine Ehrengarde zur persönlichen Begleitung des Papstes
gebildet. Ihr gehören nur Mitglieder römischer Patrizierfamilien und des
Adels an.
Der Vatikan gibt eigene Briefmarken heraus, prägt Münzen und besitzt
eine Rundfunkstation und eine Eisenbahn. Sein Verwaltungsapparat unter-
scheidet sich kaum von dem eines modernen Staates.
Der Vatikan hat seine eigene Zeitung, den Osservatore Romano. Sie
erschien erstmals im Jahre 1860. Papst Leo XIII. kaufte die Zeitung 1890
* Verteidiger der Freiheit der Kirche.
14
auf und machte sie zum offiziellen Organ der katholischen Kirche. Sie gibt
die Ansichten des Vatikans zu wichtigen politischen und sozialen Welt-
geschehnissen wieder.
Wie jeder andere Staat braucht auch der Vatikan Geld, um seine Ver-
waltung in Gang zu halten. Dazu gehören die Löhne und Gehälter für die
Angestellten und Botschafter, die Budgets für die Kirchen, für die Seminare
und für die zahlreichen anderen Institutionen, hohe Summen für die
Missionen in allen Ländern der Erde und schließlich die Gehälter für die
Beamten im Verwaltungsapparat des Vatikans. Diese zählen zu den niedrigst
bezahlten Beamten der Welt.
Die Einnahmen des Vatikans flössen bis 1870 hauptsächlich aus
seinen weltlichen Besitztümern, aus dem damaligen Kirchenstaat. Seit-
her sind andere Quellen erschlossen worden, die die Kassen des Vatikans
füllen.
Es ist kaum möglich, die Ausgaben des Vatikans zu schätzen, denn es
gibt keine Haushaltspläne, auch die Einnahmen werden nicht veröffentlicht.
Zu Beginn des Jahrhunderts wurden die für den Vatikan notwendigen Min-
desteinkünfte auf 800 000 Pfund Sterling jährlich veranschlagt.
Gegenwärtig fließen die Einkünfte des Vatikans vor allem aus zwei
Arten von Quellen - den ordentlichen und den außerordentlichen. Unter
den ordentlichen Quellen ist die wichtigste der sogenannte Peterspfennig,
eine freiwillige Steuer, die seit 1870 in den katholischen Ländern erhoben
wird, um die Einkünfte zu ersetzen, die bislang aus den päpstlichen Besitz-
tümern gekommen und nach deren Übernahme durch den italienischen Staat
weggefallen waren. Der Gedanke des Peterspfennigs erwies sich als überaus
lukrativ. Im übrigen war diese Einrichtung keineswegs neu, sie existierte
bereits einige Jahrhunderte zuvor. In England zum Beispiel wurde 1559 die
Erhebung dieser Steuer von der Königin Elisabeth untersagt. Drei Jahr-
hunderte später griff man auf sie zurück.
Die protestantischen USA sind die großzügigsten Geldgeber des Vatikans
und der katholischen Kirche. Die Summe der dort erhobenen Peterspfennige
ist höher als die aller anderen Länder. Den USA folgen Kanada, die Repu-
bliken Südamerikas und - in Europa - Spanien, Frankreich und Belgien.
Die USA wurden aber, nachdem der Papst seine Besitztümer verloren hatte,
nicht nur der großzügigste Geldgeber des Vatikans, sondern auch dessen
größter Bankier. 1870 gewährte das Bankhaus Rothschild dem Vatikan eine
Anleihe in Hohe von 200000 Scudi*. 1919 entsandte der Vatikan einen
Sonderbeauftragten in die Vereinigten Staaten, um eine Anleihe in Höhe
von 1 Million Dollar aufzunehmen. In demselben Jahr überreichte die
* Scudo, italienische Silbermünze im Wert von 5 Lire.
15
Vereinigung der Columbusritter dem Vatikan ein Geschenk in Höhe von
mehr als 250 000 Dollar. 1928 erhielt der Vatikan durch die Bemühun-
gen des Kardinals Mundelein eine in 20 Jahren tilgbare, zu fünf Prozent
verzinste Anleihe in Höhe von 300 000 Pfund Sterling. Als Sicherheit wurde
das Kirchenvermögen in Chicago herangezogen.
Weitere ordentliche Einkünfte der katholischen Kirche sind alle mög-
lichen Steuern und Gebühren aus Kanzleien und Personenstandsämtern bei
Eheschließungen, bei Verleihung von Adelstiteln, Ritterorden usw.
Die Höhe der außerordentlichen Einkünfte des Vatikans ist schwer zu
schätzen. Zu ihnen gehören Geschenke und Erbschaften, die manchmal in
die Millionen gehen. Bei den Wallfahrten spendet jeder Pilger einen ge-
wissen Betrag. Von einem amerikanischen Pilger wird als Mindestsumme
ein Dollar erwartet. Solche Wallfahrten finden häufig statt, die Anzahl ihrer
Teilnehmer geht hoch in die Tausende.
Von 1929 bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges erhielt der Vatikan
von der faschistischen Regierung Italiens mehr als 750 Millionen Pfund
Sterling als Entschädigung für den Verlust der päpstlichen Besitztümer.
Amerikanische Schätzungen (Seldes) besagen, daß sich die Gesamteinkünfte
des Vatikans zwischen den beiden Kriegen auf ungefähr 180 Millionen Lire
jährlich beliefen. Seitdem ist diese Summe bedeutend gestiegen.
Eines der Hauptziele, die der Vatikan verfolgt, ist seine Anerkennung als
offizielles diplomatisch -politisches Zentrum der katholischen Kirche. Er hat
seine Vertreter bei vielen Regierungen und empfängt die Botschafter großer
und kleiner Nationen.
Die diplomatischen Vertreter des Vatikans tragen im allgemeinen die
Bezeichnung päpstliche Legaten, päpstliche Nuntien oder apostolische Ge-
sandte. Sie stehen im Botschafterrang und genießen die gleichen Rechte wie
die Botschafter aller anderen Staaten.
Folgende Hauptaufgaben sieht das kanonische Recht (267) für die Diplo-
maten des Vatikans vor:
a gute Beziehungen zwischen dem Apostolischen Stuhl und der Regie-
rung, bei der sie akkreditiert sind, zu pflegen;
b die Interessen der Kirche innerhalb des ihnen zugewiesenen Gebietes
zu wahren und den Papst über die Verhältnisse in ihrem Tätigkeits-
bereich zu informieren;
c außer dieser normalen Tätigkeit auch alle Aufgaben zu übernehmen,
mit denen sie betraut werden.
Das höchste Ziel seiner Diplomatie erblickt der Vatikan im Abschluß
eines Konkordats mit der betreffenden Regierung. Obwohl die Verhand-
lungen über diesen Vertrag gewöhnlich von den interessierten Parteien
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unmittelbar geführt werden, ist die Rolle, die die päpstlichen diplomatischen
Vertreter dabei spielen, von höchster Wichtigkeit.
Ein Konkordat ist ein Übereinkommen, in dem der vertragschließende
Staat der katholischen Kirche bestimmte Privilegien gewährt und deren
Stellung und Rechte innerhalb des Staates anerkennt. Die Kirche verpflichtet
sich dafür, die betreffende Regierung zu unterstützen und sich nicht in
politische Angelegenheiten einzumischen. Solche Verträge sind dann be-
sonders erwünscht, wenn „Angelegenheiten rechtlicher und zugleich reli-
giöser Art Streitigkeiten hervorrufen können". In solchen Fällen „stärkt ein
Konkordat erheblich . . . die staatliche Autorität", wie Leo XIII. sich aus-
drückte. Der Papst sei stets bereit, „den Herrschern Europas die Kirche als
einen oft benötigten Schutz anzubieten".
Wenn es nicht möglich ist, ein Konkordat abzuschließen, ist der Nuntius
angewiesen, ein Übereinkommen anzustreben, das auch ohne einen form-
gerechten Vertrag zu einem Modus vivendi führt. Erweist sich dies eben-
falls als unerreichbar, dann kann der Vatikan bei bestimmten Anlässen einen
päpstlichen Beauftragten zu der in Betracht kommenden Regierung entsen-
den. Die ständige Wahrnehmung der kirchlichen Interessen bei dieser Regie-
rung überträgt der Vatikan dann gewöhnlich dem örtlichen Kirchenprimas.
Obwohl sich die Diplomatie des Vatikans äußerlich von der einer weltlichen
Macht kaum unterscheidet, so unterscheidet sie sich von ihr in ihrer Ziel-
setzung und in den Mitteln, die ihren Vertretern zur Verfügung stehen,
sehr wesentlich.
Der päpstliche Repräsentant hat nicht nur die diplomatischen und
politischen Belange des Vatikanstaates zu vertreten, sondern vor allem auch
die Interessen der katholischen Kirche als einer religiösen Institution wahr-
zunehmen. Er hat also eine zweifache Mission. Entsprechend dieser Situation
verfügt er nicht nur über die diplomatischen Mittel, die jedem diploma-
tischen Vertreter zu Gebote stehen, sondern er kann darüber hinaus auf die
weitreichende Macht der katholischen Kirche sowohl innerhalb als auch
außerhalb des Landes, in dem er akkreditiert ist, zurückgreif en. Mit anderen
Worten, der päpstliche diplomatische Vertreter kann über die gesamte
Hierarchie des betreffenden Landes gebieten - von den Kardinälen über die
Erzbischöfe und Bischöfe bis hinunter zum unbedeutendsten Gemeinde -
pfarrer. Obendrein leisten die katholischen sozialen, kulturellen oder politi-
schen Organisationen und Parteien des Landes allen seinen Weisungen
Folge. Der Nuntius vermag daher einen beachtlichen Druck auf eine Regie-
rung auszuüben — einen Druck religiös -politischer Natur, über den kein
weltlicher Diplomat verfügt.
Da jeder Geistliche faktisch ein Anhänger des Vatikans ist und ihm zu-
gleich wichtige Informationen über die Verhältnisse in seiner Gemeinde -bei
2 M 359
17
einem Bischof in seiner Diözese, bei einem Primas im gesamten Staats-
wesen - zugänglich sind, gehört der Vatikan, dem all diese Informationen
zufließen, zu den wichtigsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen
Informationszentren.
Hält man sich ferner vor Augen, welchen Einfluß der Vatikan auf die
verschiedenen katholischen Parteien oder katholischen Regierungen ausüben
und im nationalen oder internationalen Bereich wirksam werden lassen
kann, so erkennt man rasch, welche Macht diese diplomatisch -politische
Zentrale in der ganzen Welt darstellt. Diese Macht wird von vielen
Ländern respektiert, auch von nichtkatholischen Staaten wie den USA und
England, ja selbst vom nichtchristlichen Japan. Im Krieg gewinnt der
Vatikan als diplomatisches Zentrum erheblich an Bedeutung. Die krieg-
führenden Parteien können trotz des Abbruchs der diplomatischen Bezie-
hungen auf dem Weg über den Vatikan miteinander Kontakt aufnehmen.
Diese Dienste und die Informationen, die der Vatikan auf diese Weise von
beiden Seiten erhält, verleihen ihm in den Augen der weltlichen Mächte
großes Ansehen. Das war einer der Gründe, aus denen sich während des
ersten Weltkrieges alle interessierten Länder — Deutschland, die Schweiz,
Griechenland, Großbritannien, Frankreich und selbst das zaristische Ruß-
land - beeilten, ihre Vertreter in den Vatikan zu entsenden Am Ende des
Krieges waren 34 ständige diplomatische Vertreter beim Papst akkreditiert.
Diese Zahl verdoppelte sich im zweiten Weltkrieg. Große Länder wie die
USA und das nichtchristliche Japan suchten nach Mitteln und Wegen, beim
Vatikan diplomatisch vertreten zu sein. Die USA bedienten sich eines diplo-
matischen Kunstgriffs, sie schickten einen „persönlichen Botschafter des
Präsidenten". Das japanische Kaiserreich ließ beim Heiligen Stuhl einen
Gesandten im Rang eines Botschafters akkreditieren. Der Vatikan war vom
Anfang bis zum Ende des zweiten Weltkrieges mit seinen 52 Botschaftern,
Beauftragten und persönlichen Gesandten aus den verschiedensten Ländern
ein diplomatisch -politisches Zentrum, das sich durchaus mit den Haupt-
städten jener Länder vergleichen konnte, in denen über Krieg und Frieden
entschieden wurde. Wir werden später sehen, weshalb der Vatikan, obwohl
er nicht ein einziges Flugzeug, nicht einen einzigen Panzer, nicht ein ein-
ziges Kriegsschiff besaß, dennoch in der Lage war — sowohl vor als auch
während des zweiten Weltkriegs — , mit den größten Militärmächten der
Erde zu verhandeln.
kapitel Iii Der Vatikan als geistig-religiöse Macht -
Wie die katholische Kirche regiert wird
Der Staatssekretär - Das Heilige Kollegium der Kardinäle - Die Ministerien der
katholischen Kirche^ die Heiligen Kongregationen — Das Gerichtswesen,
Der diplomatische Apparat des Vatikans wäre wenig wert, wenn er die
einzige Säule der päpstlichen Macht darstellte. Nicht die Diplomatie ver-
leiht der katholischen Kirche ihre enorme Macht, sondern die Tatsache, daß
hinter dieser Diplomatie die Kirche mit all ihren mannigfaltigen, welt-
umfassenden Möglichkeiten steht.
Der Vatikan als diplomatisches Zentrum ist nur eine Seite der Erschei-
nung. Die vatikanische Diplomatie ist so einflußreich und kann so große
Macht auf diplomatisch -politischem Gebiet ausüben, weil sie über die ge-
waltige Maschinerie einer Glaubensorganisation verfügt, die in allen
Ländern Stützpunkte hat. Mit anderen Worten: Der Vatikan als politische
Macht benutzt die religiöse Institution der katholischen Kirche zur Errei-
chung seiner Ziele, und diese Ziele bestehen vor allem darin, die Interessen
der katholischen Kirche zu vertreten.
Diese Doppelrolle jedes Angehörigen der katholischen Hierarchie beein-
flußt zwangsläufig alle jene zahllosen religiösen, kulturellen, sozialen und
ausschließlich politischen Organisationen, die mit der katholischen Kirche
zusammenarbeiten. Sie können, obwohl sie eigentlich nur auf religiöser
Grundlage mit der Kirche verbunden sind, jederzeit benutzt werden, mittel-
bar oder unmittelbar die politischen Bestrebungen des Vatikans zu unter-
stützen.
Da dieser religiöse Apparat von großer Bedeutung für die politische Ak-
tivität der Kirche ist, macht es sich nötig, die dazu entwickelten hierarchi-
schen, administrativen und religiösen Formen der Leitung zu untersuchen.
Wir müssen feststellen, welche Methoden angewandt werden, wo die Fäden
zusammenlaufen, welche Organisationen beteiligt sind, welche Gebiete je-
weils beeinflußt werden und, nicht zuletzt, welcher Geist diese Leitungen
beherrscht und welche Stellung sie zu den wichtigen Fragen unserer Zeit ein-
nehmen.
Die katholische Kirche ist eine gewaltige Organisation mit weltweiten
Verbindungen. Deshalb bedarf sie, ungeachtet ihres besonderen Charakters
und ihrer Zielsetzung, gewisser Formen eines zentralisierten Apparates, die
es ihr ermöglichen, die vielen Erscheinungen ihrer Aktivität zu koordinieren
und zu vereinen. Diese zentrale Maschinerie befindet sich fast vollständig
19
im Bereich des Vatikans. Ihre verschiedenen Ämter — das Staatssekretariat,
das Kardinalskollegium und die Kongregationen — bilden die Regierung
der katholischen Kirche. Sie sind alle bedingungslos dem absoluten Wil-
len des Papstes unterworfen, der Säule, auf der die katholische Kirche
als religiöse Institution und als politische Macht ruht. Er ist der absolute
Herrscher, der in allen religiösen, moralischen, administrativen, diplo-
matischen und politischen Angelegenheiten das letzte Wort spricht; in
der katholischen Kirche und im Vatikan ist sein Wille Gesetz. Er ist der
letzte absolute Herrscher auf der Erde, kein politischer Diktator kann seine
Macht mit der Macht des Papstes vergleichen. Der Papst ist keinem mensch-
lichen Wesen Rechenschaft schuldig, sein einziger Richter ist Gott.
Dem Papst folgt auf der kirchlichen Stufenleiter der Kardinalstaats-
sekretär, ihm untersteht die Gerichtsbarkeit innerhalb der kirchlichen
Administration. Seine Stellung läßt sich annähernd mit der eines Minister-
präsidenten vergleichen, der auch die Funktion des Außenministers ausübt.
Sein Amt ist das wichtigste und mächtigste unter den Ämtern des Vatikans.
Alle anderen Ministerien, selbst die rein religiösen, müssen sich den Ent-
scheidungen des Staatssekretärs unterwerfen. Er verfügt über einen persön-
lichen Einfluß wie kein anderes Mitglied der Kirche und ist allein dem
Papst verantwortlich.
Der Staatssekretär gilt als der politische Kopf des Vatikans. Durch ihn
lenkt und leitet der Papst seine politischen Aktionen in der ganzen Welt.
Daher steht der Staatssekretär in ständigem persönlichem Kontakt mit dem
Papst. Jeden Morgen erstattet er ihm Bericht und berät mit ihm, häufig
mehrmals am Tage, die aktuellen Fragen der vatikanischen Politik. Wöchent-
lich einmal empfängt der Kardinalstaatssekretär die beim Heiligen Stuhl
akkreditierten Vertreter der ausländischen Mächte und interessiert sich
dabei vor allem für die Diplomaten, die dem Vatikan wichtige Informa-
tionen zu überbringen haben. Er ist für jeden Brief, der den Vatikan verläßt,
ebenso verantwortlich wie für die Ernennung jedes päpstlichen Diplomaten.
Kein Beamter der Kurie kann ohne seine Empfehlung bestallt werden.
Der Papst ist von seinem Staatssekretär abhängig. Kein anderer steht
der fast uneingeschränkten Macht des Papstes so nahe wie der Kardinal -
Staatssekretär.
Dem Staatssekretär unterstehen drei Hauptabteilungen. Die erste ist die
„Kongregation der außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten", die
alle wichtigen politischen und diplomatischen Fragen behandelt. Die
Kongregation ist ein Kardinalskomitee, man kann es mit dem Kabinett
eines modernen Staatswesens vergleichen.
Die zweite Hauptabteilung beschäftigt sich mit den laufenden politischen
Fragen, den Angelegenheiten des Diplomatischen Korps und der Entsendung
20
von päpstlichen Beauftragten. Sie wird geleitet von dem Sostituto, dem
Unterstaatssekretär für allgemeine Angelegenheiten. Zu ihr gehören die
Geheimdienstzentrale des Vatikans und ein spezieller Sektor, der sich aus-
schließlich mit der Anlage und Überprüfung von Dossiers und der Bearbei-
tung von Anträgen auf Ordens- und Titelverleihung usw. befaßt. Bei Aus-
bruch des zweiten Weltkrieges waren damit nicht weniger als sechs Redak-
teure, zehn Stenografen und sieben Archivare beschäftigt.
Die dritte Hauptabteilung nannte sich früher „Sekretariat der Breven"
und ist erst 1908 in den Amtsbereich des Kardinalstaatssekretärs über-
gegangen. Sie untersteht dem sogenannten „Kanzler der Breven" und glie-
dert sich in das Sekretariat der „Breven für Prinzen" und das Sekretariat
für „Lateinische Verlautbarungen". Ein Breve wird gewöhnlich benutzt,
Würden zu vergeben oder besondere Steuern zu verkünden. Unter den
„Breven für Prinzen" versteht man heutzutage Breven für Könige, Präsi-
denten, Premierminister, Bischöfe und selbst weniger bedeutende Persön-
lichkeiten. Wenn sich das Breve nicht mit religiösen, sondern mit politischen
oder diplomatischen Fragen befaßt, ist es nichts anderes als ein Schreiben,
das die Unterschrift des Papstes trägt und von einem Nuntius oder einem
päpstlichen Legaten überbracht wird. Die Aufgabe des Sekretariats für
„Lateinische Verlautbarungen" besteht in der redaktionellen Bearbeitung
der päpstlichen Botschaften, das heißt der Enzykliken.
Das Amt des Staatssekretärs besteht bereits seit der Zeit der Renaissance.
In einem aufschlußreichen Dokument, verfaßt im Jahr 1602 von Papst
Sixtus V., werden die Eigenschaften beschrieben, die von einem päpstlichen
Staatssekretär gefordert werden:
Der Ministerpräsident des Vatikans muß alles wissen. Er muß alles gelesen haben
und muß alles verstehen, aber er darf nichts ausplaudern. Er muß seihst die Stücke
kennen, die in den Theatern aufgeführt werden, denn sie enthalten aufschlußreiche Tat-
sachen über ferne Länder {sie!).
Die Anfänge des Staatssekretariats lassen sich verfolgen bis in die Camera
secreta der mittelalterlichen Päpste. Schon damals unterhielten die Päpste
oft recht delikate diplomatische Beziehungen zu den verschiedensten Mäch-
ten. Die erforderliche Korrespondenz wurde von päpstlichen Notaren ge-
führt, deren Stellung etwa der fürstlicher Minister entsprach. Sie war im
Gegensatz zu den päpstlichen Erlassen der Öffentlichkeit nicht zugänglich,
sondern nur der Camera secreta bekannt.
Im 1 5. Jahrhundert wurde die Camera secreta ein unentbehrliches Instru-
ment der Päpste. Die Breven erhielten diplomatischen Charakter. Eine neue
Funktion, die des Secretariatus Domesticus, wurde nötig, um sie abzu-
fassen. Leo X. teilte diese Arbeit zwischen dem Secretariatus Domesticus y
der die offiziellen Verlautbarungen zu entwerfen hatte, und dem Segretario
21
del Papa, dem päpstlichen Privatsekretär, dessen Tätigkeit vor allem
politischer Art war. Der Privatsekretär befaßte sich mit der Instruierung
der politischen Beauftragten des Papstes an den Hofen Europas. Ursprüng-
lich hatte dieser Sekretär wenig Einfluß. Doch im Laufe der Zeit wurde
seine Stellung immer mächtiger und übertraf schließlich die aller anderen
päpstlichen Würdenträger. Nach der Konstitution, die Papst Pius IX. im
Jahre 1847, also vor dem Verlust der päpstlichen Besitztümer, erlassen
hatte, war der Sekretär der „wirkliche Premierminister". Als der neue
Vatikanstaat gebildet worden war, wuchs die Bedeutung seines Amtes so
gewaltig, daß sein Einfluß innerhalb der Kurie und innerhalb der gesamten
katholischen Welt heute nahezu allmächtig ist und nur vom Papst selbst
üb ertr offen wird.
Das Heilige Kardinalskollegium folgt, soweit es sich um diplomatisch -
politische Angelegenheiten handelt, dem Staatssekretär, ist ihm jedoch auf
rein religiösem Gebiet übergeordnet. Damit ist selbstverständlich nicht
gesagt, daß die Kardinäle, die Säulen der katholischen Kirche als religiöser
Institution, auf diplomatischem und politischem Gebiet bedeutungslos
wären. Im Gegenteil, sie nehmen vollverantwortlich teil an der Festlegung
und Durchführung der allgemeinen politischen Linie des Vatikans.
Die Aufgabe des Heiligen Kardinalskollegiums kann man mit der eines
Staatsrats vergleichen. Die Kardinalswürden gehen zurück auf die Kirchen-
organisation im alten Rom. Dem Wort liegt das lateinische cardo zugrunde,
das Türangel oder Drehpunkt heißt. Bis auf den heutigen Tag sind die
Kardinäle in der katholischen Kirche in der Tat das, was ihr Name besagt.
Im Mittelalter bedurften päpstliche Ernennungen der Zustimmung des
Heiligen Kollegiums. Julius II. schaffte dieses Verfahren 1517 ab, weil es
die Kirche in erhebliche Schwierigkeiten brachte. Seither hängen alle Be-
rufungen, Ernennungen usw. allein von dem Willen des Papstes ab.
Die Kardinäle haben ihre Titularkirche in Rom. Sie gelten als die
„Fürsten der Kirche" und stehen bis auf den heutigen Tag auf einer Stufe
mit den wenigen noch verbliebenen Königen als deren „liebe Neffen".
Selbst Republiken wie die französische stellen die Kardinäle über die Bot-
schafter, und in der internationalen Etikette gewährt man ihnen den Rang
echter Fürsten, Fürsten von Geblüt.
Die Kardinäle spielten in der Vergangenheit eine bedeutende politische
Rolle und spielen sie noch heute. Manche Ereignisse unserer Zeit in katho-
lischen und nichtkatholischen Ländern sind auf ihr Wirken zurückzuführen.
Das Heilige Kollegium genießt bei den meisten Ländern großen Respekt.
Sie kennen die Macht und den Einfluß, den die Kardinäle auf die Stellung
der katholischen Kirche zu den religiösen, diplomatischen und politischen
Problemen in allen Ländern ausüben können.
22
Dem Heiligen Kollegium der Kardinäle dürfen nicht mehr als 70 Mit-
glieder angehören. Man unterscheidet zwei Arten von Kardinälen: jene, die
Erzbistümer leiten, und jene, die ihren Sitz in Rom haben und als ständige
Berater des Papstes tätig sind. Wie wir bereits wissen, ist der Kardinalstaats-
sekretär der wichtigste unter den Kardinälen.
Noch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts herrschte die
Tradition, daß die Mehrheit der Kardinäle Italiener sein mußten. 1846 gab
es zum Beispiel nur 8 nichtitalienische Kardinäle. Pius IX. ernannte in
seiner zweiunddreißigj ährigen Regierungszeit 183 Kardinäle, von denen be-
reits 51 Ausländer waren. 1878 zählte man 25 nichtitalienische Kardinäle.
1903 standen 25 nichtitalienischen Kardinälen (unter ihnen 1 amerika-
nischer Kardinal), 29 italienische Kardinäle gegenüber. 1914 gab es 32 ita-
lienische und 25 ausländische Kardinäle (unter ihnen 3 amerikanische).
1915 war das Verhältnis 29 zu 31. Im Januar 1930 verteilten sich die Sitze
im Heiligen Kollegium wie folgt :
Belgien
1
Kanada
1
Brasilien
1
Österreich
2
Deutschland
4
Polen
2
England
1
Portugal
1
Frankreich
7
Spanien
5
Holland
1
Tschechoslowakei
1
Irland
1
Ungarn
1
Italien
29
USA
4
1939 gab es 32 italienische und 32 ausländische Kardinäle (unter ihnen
4 aus den USA).
Nach Kriegsende ernannte Papst Pius XII. an einem Tage in einer großen
Zeremonie 32 neue Kardinäle. Das war die größte Zeremonie ihrer Art, die
Rom seit mehr als dreihundert Jahren erlebte. Unter den neuernannten
Kardinälen waren 3 Deutsche 3 Franzosen, 3 Spanier, 1 Armenier, 1 Eng-
länder, 1 Kubaner, 1 Ungar, 1 Holländer, 1 Pole, 1 Chinese, 1 Australier,
1 Kanadier, 4 US -Amerikaner, 6 Südamerikaner und, was bezeichnend ist,
nur 4 Italiener. Zum erstenmal bedachte die Kirche einen Chinesen
— Bischof Tien, apostolischer Vikar in Tsingtau - und einen Australier
- Erzbischof Gilroy aus Sydney - mit der Kardinalsrobe. Die Ernennung
von 4 US -Amerikanern, 1 Engländer, 1 Kanadier, 1 Australier und 6 Süd-
amerikanern zu Kardinälen weist unmißverständlich darauf hin, daß die
Kirche mehr denn je daran interessiert ist, ihren Einfluß auf dem ameri-
kanischen Kontinent und in den angelsächsischen Ländern zu verstärken.
Die Kardinäle sind Berater des Heiligen Stuhls und wählen den neuen
Papst, vor allem aber sind sie die absoluten kirchlichen Herrscher in ihrem
23
jeweiligen Bereich. Sie haben über sich nur eine Autorität, der sie um des
weiteren Wohlergehens der universalen katholischen Kirche willen zu blin-
dem Gehorsam verpflichtet sind — den Papst. Sie schulden ihm diesen blin-
den Gehorsam nicht nur in religiösen, sondern auch in sozialen und poli-
tischen Fragen. Obwohl es theoretisch so aussieht, als könnten sie eine
unabhängige politische Linie verfolgen, müssen sie sich in Wirklichkeit
dem Staatssekretär, der selbst ein Kardinal ist, und durch ihn dem Papst
unterordnen.
Die Kardinäle sind einmal das Fundament, auf dem die katholische Hier-
archie beruht, und zum andern die „Türangeln" der Kirche als einer poli-
tischen Institution. Ob sie in den verschiedenen Ländern tätig sind und
dort - zumeist als Primas — die Rolle eines Papstes in ihrem Bereich spielen,
oder ob sie, gewöhnlich als Leiter oder Mitglieder der Ministerien, im Vati-
kan residieren — immer sind sie die religiösen, administrativen und poli-
tischen Säulen der katholischen Kirche.
Das Wirken der katholischen Kirche ist weit gespannt und. umfaßt viele
Gebiete. Um die daraus erwachsenden Aufgaben zu bewältigen, ist ein
straff organisiertes leitendes Zentrum erforderlich, dessen Ämter, im Vati-
kan Kongregationen genannt, ihre Arbeit aufeinander abstimmen müssen.
Das Wort Kongregation hat in diesem Fall nichts gemein mit seiner ge-
wöhnlichen Bedeutung, in der es „Kirchengemeinde" heißt. Die Kongre-
gationen des Vatikans sind vielmehr mit den Ministerien in einem zivilen
Staatswesen vergleichbar.
Die Kongregationen entstanden nach der Reformation im 16. Jahrhun-
dert, als die katholische Kirche sich reorganisieren mußte, um ihren
Feinden Widerstand leisten zu können. Sie verkörpern die zentrale und
administrative Gewalt der katholischen Kirche. Wie das Ministerium einer
weltlichen Regierung von einem Minister geleitet wird, so steht an der
Spitze jeder Kongregation ein Präfekt. Dieser Präfekt ist zumeist ein Kar-
dinal. Es kommt auch vor, daß der Papst selbst eine Kongregation leitet.
Die Beamten und Angestellten sind in der Mehrzahl Geistliche und nur in
wenigen Fällen hochgestellte Laien.
Befassen wir uns kurz mit der Geschichte und den Aufgaben der kirch-
lichen Ministerien, deren Arbeit sich oft auf Millionen katholische Gläubige
in der ganzen Welt und dadurch mittelbar auf das Schicksal vieler Völker
und Länder auswirkt.
Die meisten Kongregationen sind ihrem Wesen nach religiöser Art, aber
gerade deshalb sind sie besonders mächtig. Und die katholische Kirche zö-
gert nicht, mit Hilfe der Kongregationen einzelne Gläubige oder ganze
Gemeinschaften von Gläubigen religiös und moralisch unter Druck zu
setzen.
24
Die zentrale Regierung der katholischen Kirche gliedert sich in 3 Haupt-
gruppen: die Heiligen Kongregationen, die Trihunale und die Offizien
(Ämter). Wir werden sie uns im einzelnen ansehen, wobei wir uns bei
einigen darauf beschränken können, sie lediglich zu erwähnen, während
andere, die eng mit dem in Verbindung stehen, was in diesem Buch behandelt
wird, eine nähere Betrachtung erfordern.
Die Kongregationen
Es gibt 12 Kongregationen oder Ministerien der katholischen Kirche :*
1. Die Religiosenkongregation
2. Die Zeremonialkongregation
5. Die Ritenkongregation
4. Die Sakramentenkongregation
5. Die Kongregation der Seminare und Universitäten
6. Die Kongregation für die orientalische Kirche
7. Die Konzilkongregation
8. Die Konsistorialkongregation
9. Die Kongregation der außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten
10. Das Heilige Offizium
11. Die Kongregation der Basilika des heiligen Petrus
12. Die Propagandakongregation
Die Tribunale
1. Die Heilige Römische Rota (Rota Romana)
2. Die Apostolische Segnatura (Signatura Apostolica)
5. Die Apostolische Pönitentiarie
Die Offizien (Ämter)
1. Das Staatssekretariat
2. Die Aposto Ii sehe Datarie
3. Die Apostolische Kanzlei
4. Das Sekretariat der Breven für Prinzen und Lateinische Verlautbarungen
Die Kongregationen
1. Die Religiosenkongregation.
Gegründet 1586. Sie regelt Angelegenheiten zwischen den Bischöfen und den Gläubigen
sowie zwischen den Gläubigen selbst.
2. Die Zeremonialkongregation.
Sie befaßt sich mit der Etikette am päpstlichen Hof. Der Präfekt der Kongregation ist
zugleich Dekan des Heiligen Kollegiums.
• Deutsche Bezeichnungen nach „Der Große Herder**, Freihurg i. B., 1935.
25
3. Die Ritenkongregation
Gegründet von Sixtus V. Sie befaßt sich mit der Seligsprechung und der Kanonisation.
4. Die Sakramentenkongregation.
Gegründet 1908. Sie befaßt sich mit Angelegenheiten der sakramentalen Disziplin unter
besonderer Berücksichtigung der Ehe. Die Erlasse dieser Kongregation regeln Fragen
der Nichtigkeitserklärung von Ehen und ähnliche Angelegenheiten katholischer Laien.
5. Die Kongregation der Seminare und Universitäten.
Sie wurde 1588 als Heilige Kongregation der Studien gegründet und erhielt ihre jetzige
Bezeichnung 1915. Ihre ursprüngliche Aufgabe war es, die Lehrtätigkeit in den päpst-
lichen Besitzungen zu überwachen; später erstreckte sich ihr Arbeitsbereich auf die
katholischen Universitäten in Osterreich, Frankreich, Italien und anderswo. Gegen-
wärtig hat sie alle höheren Lehrinstitute zu überwachen, die unter katholischer Leitung
stehen.
6. Die Kongregation für die orientalische Kirche.
Die Vielzahl der Kirchen im Nahen und Fernen Osten machte es erforderlich, dieses
Amt ins Leben zu rufen (1917). Bis dahin war es eine Unterabteilung der Propaganda
Tide. Es wird vom Papst geleitet.
Einige Kirchen im Nahen Osten haben Riten, die sich von denen der römisch-katho-
lischen Kirche unterscheiden. Es handelt sich um die griechische, die russische, die
rumänische und die armenische Kirche. In diesem Zusammenhang mag es von Interesse
sein, daß die griechisch-rumänische Kirche mehr als 1 Million Gläubige zählt, während
der griechisch-ruthenischen Kirche kaum ein Viertel dieser Anzahl angehört. Außerdem
gibt es 300 000 Syro-Maroniten, deren Riten und Gebete eine Mischung aus syrischen
und arabischen Elementen darstellen. Die griechischen Melachiten, deren Riten ara-
bischer und deren Zeremoniell griechischer Herkunft sind, haben etwas mehr als
100 000 Anhänger.
Mehr als 100000 Armenier leben verstreut zwischen Ungarn und Persien, während in
Persien, Kurdistan und im Irak (Mesopotamien) etwa 40 000 Syro-Chaldäer leben. In
Ägypten gibt es etwa 10 000 Anhänger koptischer Riten, und in Abessinien zählen die
Äthiopier etwa 30 000 Anhänger. Selbst in Hindustan leben etwa 200 000 Katholiken,
die sich nach den syrischen Riten von Malabar richten. Darüber hinaus gibt es die rein
syrischen, rein griechischen, die griechisch-bulgarischen Formen u. a.
7. Die Konzilkongregation.
Sie setzte sich ursprünglich aus acht Kardinälen zusammen, die mit der Leitung des
Konzils von Trient betraut waren. Jetzt beschäftigt sich die Kongregation vor allem mit
der kirchlichen Disziplin in der ganzen Welt und mit der Revision der Kirchen Versamm-
lungen. Sie kann mit einem großen Innenministerium verglichen werden.
8. Die Konsistorialkongregation.
Diese Kongregation hat viel Ähnlichkeit mit dem Heiligen Offizium in seiner gegen-
wärtigen Gestalt. Sie hat dasselbe Oberhaupt, den Papst, und die ihr angehörenden
Kardinäle und Mitarbeiter sind zur gleichen Geheimhaltung verpflichtet. Sie wurde 1588
gegründet und zu Beginn dieses Jahrhunderts reorganisiert.
Die Konsistorialkongregation ist verantwortlich für den Aufbau der Konsistorien -
der kirchlichen Oberbehörden für die Ernennung der Bischhöfe sowie für die Struktur
und Existenz der Diözesen. Sie ist eine Art Personalabteilung. Hier werden alle Diszi-
plinarmaßnahmen eingeleitet, die der katholischen Kirche geeignet scheinen, ihre
Geistlichen in der ganzen Welt zu kontrollieren, zum Beispiel die Bestrafung von
26
Priestern, die gegen ihre Pflichten verstoßen oder sich mit Institutionen, Personen oder
politischen Parteien eingelassen haben, die der katholischen Kirche feindlich gesinnt sind
oder von ihr abgelehnt werden. Wenn wir später die Politik des Vatikans in den ein-
zelnen Ländern behandeln, werden wir vielen solchen Beispielen begegnen. An dieser
Stelle genügt es, zu erwähnen, daß der Vatikan 1924 ein Verbot (non expedire) über alle
amerikanischen Priester verhängte, die dem Rotaryklub beitreten wollten oder beige-
treten waren.
Die Konsistorialkongregation kann man als eine Art kirchlichen Scotland Yard be-
zeichnen.
9. Die Kongregation der außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten.
Als wir das Staatssekretariat behandelten, hatten wir bereits Gelegenheit, einen Blick
auf die Tätigkeit dieser Kongregation zu werfen. Sie ist in politischer Hinsicht zweifellos
die wichtigste. In ihr wird die Vatikanpolitik geplant, überprüft und ausgeführt. Pius VI.
rief sie 1793 ins Leben, um die kirchlichen Angelegenheiten in Frankreich zu regeln.
Später (1814) gewährte Papst Pius VII. ihr das Recht, alle Angelegenheiten zu über-
prüfen und zu begutachten, die dem Heiligen Stuhl unterbreitet werden. Sie befaßt sich
mit allen Fragen kirchlicher und politischer Natur, überprüft die diplomatischen Be-
ziehungen des Vatikans zu anderen Staaten, zu politischen Parteien usw. und führt die
Verhandlungen über die Konkordate, Ihr Präfekt ist der Kardinalstaatssekretär.
10. Das Heilige Offizium (früher unter dem Namen Inquisition bekannt).
Die Inquisition ist ein kirchlicher Gerichtshof, dem „die Aufdeckung, Bestrafung und
Verhütung von Häresie" obliegt. Sie wurde erstmals 1229 durch Papst Gregor IX. in
Südfrankreich eingesetzt. Die Inquisition arbeitete nach dem Grundsatz, daß „die Wahr-
heit Rechte besitzt, deren Ansprüche erfüllt und gefördert werden müssen, sowohl im
Interesse der weltlichen als auch der kirchlichen Gerechtigkeit. Der Irrtum hat keinerlei
Rechte und muß unterbunden oder ausgerottet werden" {Catholic Encyclopcedia).
Die Inquisition wurde ursprünglich geschaffen, um die Albigenser zu vernichten.
Diese Aktion war der Anfang einer Reihe ähnlicher Massenvernichtungen von Häreti-
kern im Mittelalter. Die Inquisition war in der ganzen Christenheit gefürchtet wegen
ihrer Gewalttätigkeiten gegen alle, die der Häresie verdächtig waren, d. h. gegen alle,
die die Dogmen der katholischen Kirche anzweifelten, nach deren Berechtigung und
Wahrheitsgehalt zu fragen sich erkühnten oder gegen die päpstliche Macht zu rebellieren
wagten.
Diese Institution erlangte ihre höchste Vervollkommnung in der sogenannten Spani-
schen Inquisition, die 1478 unter Sixtus TV. von König Ferdinand und Königin Isabella
eingerichtet wurde. Die Inquisition sorgte von 1550 bis in die Mitte des 17. Jahrhun-
derts dafür, daß in Spanien kein Platz für den Protestantismus war.
1 542 wurde in Fortsetzung und Ablösung der Universalen Römischen Inquisition das
Heilige Offizium (Congregatio Romanae et Universalis Inquisitionis Sancti Ojficii) ge-
gründet. Es hat 1917 auch die Aufgaben der aufgelösten Kongregation für den Index
übernommen. Das Heilige Offizium hat die Aufgabe, den Glauben und die Moral zu
wahren, Häresie zu verurteilen und die Dogmen zu schützen. Es schreitet zum Beispiel
ein gegen Nachgiebigkeit in der Frage der Verhinderung von Ehen zwischen Katholiken
und Nichtkatholiken und entscheidet, welche Bücher ein Katholik nicht lesen darf, weil
sie dem Glauben schaden oder sonst „verderblich" sind. Der Präfekt dieser Kongregation
ist der Papst. Er führt selbst den Vorsitz, wenn wichtige Angelegenheiten zu entscheiden
sind.
Die Heilige Kongregation des Heiligen Offiziums war entsprechend der kirchlichen
Lehre die höchste Autorität der römischen Kurie und hatte als einzige das Privileg,
27
bindende Entscheidungen in Glanbens- und Moralangelegenheiten zu fällen. Mehr als
einmal nahm der Papst die alleinige Verantwortung für solche Entscheidungen auf sich,
indem er der Kongregation bestimmte Erlasse aufzwang.
Ist die Theorie und Praxis des Heiligen Offiziums, d. h. der Inquisition, auch heute
noch in der katholischen Kirche lebendig?
Es wäre gut, wenn man diese Frage verneinen konnte. Aber leider ist es nicht der Fall.
Die Kirche vertritt nach wie vor die Auffassung daß „die Wahrheit Rechte besitzt, deren
Ansprüche erfüllt und gefördert werden müssen sowohl im Interesse der weltlichen als
auch der kirchlichen Gerechtigkeit". Und unter der „Wahrheit" versteht die Kirche
ihre eigene Wahrheit, denn „außerhalb der Kirche ist keine Wahrheit und kann keine
Wahrheit sein".
In der Theorie pflegt die Kirche noch immer den Geist, der das frühere Heilige
Offizium beherrscht hat. Aber in der Praxis kann sie nicht mehr tun, was sie früher tat.
Nicht, weil sie sich gewandelt hätte, sondern weil sich die Welt und die Gesellschaft
verändert haben und es ihr nicht langer gestatten, so zu handeln wie früher.
Daß die katholische Kirche keineswegs das anmaßende Verhalten aufgegeben hat,
das im Heiligen Offizium seine Verkörperung fand, wird allein durch die Tatsache
bewiesen, daß sie selbst in unserem 20. Jahrhundert versucht, ihren Forderungen Geltung
zu verschaffen, wo immer es ihr möglich scheint. Natürlich hat das nur dort Erfolg, wo
sich der Staat völlig der katholischen Kirche unterwirft. In allen diesen Fällen zeigt die
Kirche den Geist der Inquisition, wenn auch in gemilderten Formen. Ein Beweis dafür
sind die beiden katholischen Musterstaaten, das Portugal Salazars und das Spanien Fran-
cos. Dort kommen Leute ins Gefängnis, wenn sie sich weigern, sonntags in die Messe zu
gehen. Dort wird der Protestantismus systematisch verfolgt. In vielen Fällen wurden
protestantische Priester ins Gefängnis geworfen oder sogar erschossen (nachzulesen in
der katholischen Zeitung Das Universum, Januar 1945).
Ein anderes typisches Beispiel für den Geist, der das Heilige Offizium beherrscht:
1920 richtete es einen Brief an alle italienischen Bischöfe und forderte sie auf, „eine
Organisation zu überwachen, die . . . Indifferenz und Apostasie verbreitet". Der Brief
bezog sich auf die Christliche Vereinigung Junger Männer (CVJM), die in und nach dem
Krieg versucht hatte, durch zahlreiche philantropische Unternehmungen im ganzen Land
die Moral des italienischen Volkes zu heben. Nachdem der Vatikan sie auf vielfältige Art
entmutigt hatte, erklärte er, diese Organisation sei eine Zentrale des italienischen und
amerikanischen Protestantismus und stelle eine Gefahr für den Katholizismus dar. Der
CVJM tat in Wirklichkeit nichts anderes als Zigaretten und Schokolade zu verteilen und
Vortrags- und Theaterabende für die Soldaten zu veranstalten.
Viele Leute, vor allem in Amerika, wollten es lange nicht glauben, daß der Vatikan
diese Organisation bekämpfte, bis der Kardinalstaatssekretär — zu dieser Zeit Oberhaupt
des Heiligen Offiziums - einen Brief veröffentlichte, der es jedem Katholiken untersagte,
sich mit dem CVJM einzulassen. In dem Brief hieß es: „Ihre Hohen Eminenzen und
Hochwürden, die Kardinäle, die, wie der Unterzeichner dieses Briefes, als Generalinquisi-
toren in Angelegenheiten des Glaubens und der Moral tätig sind, wünschen, daß die
Gläubigen ihre wachsame Aufmerksamkeit auf die Art und Weise richten, in der gewisse
neue, nichtkatholische Vereinigungen durch die Mithilfe ihrer Anhänger verschiedener
Nationalität es sich jetzt und schon seit geraumer Zeit angelegen sein lassen, den Gläubi-
gen, insonderheit der Jugend, Fallen zu stellen. Sie erweisen eine Menge Gefällig-
keiten jeglicher Art, korrumpieren aber in Wirklichkeit die Integrität des katholischen
Glaubens und entreißen die Kinder ihrer Mutter, der Kirche. Unter dem Vorwand, junge
Menschen erleuchten zu wollen, entziehen sie diese den Lehren der Kirche, die von Gott
errichtet wurde, und spornen sie an, sich von ihrem eigenen Gewissen abzuwenden und
28
im engen Umkreis der menschlichen Vernunft jenes Licht zu suchen, das sie erleuchten
soll . . . Unter diesen Vereinigungen . . . muß vor allem jene erwähnt werden, der die
meisten Mittel zur Verfügung stehen : Wir meinen jene Vereinigung, die sich ,Christliche
Vereinigung Junger Männer* nennt. Alle, die vom Himmel den besonderen Auftrag erhal-
ten haben, die Herde des Herrn zu leiten, Werden von dieser Kongregation flehentlich er-
sucht, ihren Eifer daranzusetzen, die jungen Leute vor den Versuchungen durch jegliche
Vereinigungen dieser Art zu bewahren . . . Ruft die Unklugen zur Ordnung und stärkt die
Seelen jener, deren Glauben schwankend geworden ist ... Die Heilige Kongregation
fordert, daß die Geistlichkeit jedes Bezirks in einem offiziellen Akt alle Tageszeitungen,
Zeitschriften und anderen Publikationen jener Vereinigungen, deren gefährlicher Cha-
rakter offenkundig ist, weil sie in den Seelen der Katholiken die Irrtümer des Rationalis-
mus und des religiösen Indifferentismus ausstreuen, für ,zu Recht verboten' erklärt . . .
5. Nov. 1920, Kardinal Merry del Val, Sekretär."
Dieses Verbot wurde auch im zweiten Weltkrieg allen Katholiken auferlegt. Der
Vatikan tat alles, was in seinen Kräften stand, um die katholischen Soldaten und Zivili-
sten davon abzuhalten, sich mit einer dieser Vereinigungen oder mit ähnlichen Gruppen
einzulassen. Diese — typische — Handlungsweise der Kongregation im 20. Jahrhundert
bedarf keines Kommentars. Sie beweist die Richtigkeit unserer Behauptung, daß die
katholische Kirche nach wie vor von dem Geist beseelt ist, der im Mittelalter zur Er-
richtung der Inquisition geführt hat, und daß es lediglich das Verdienst unserer Zeit ist,
wenn die Kirche heute nicht mehr auf so drastische Weise der Gesellschaft ihren Willen
aufzwingen kann.
Die Tribunale
1. Die Heilige Römische Rota.
Die Römische Rota ist ein Gerichtshof. Vor ihm werden alle Fälle behandelt, die die
katholische Hierarchie betreffen und ein Gerichtsurteil zivilrechtlicher oder strafrecht-
licher Art erfordern. Darüber hinaus ist die Römische Rota vielen als die Instanz der
katholischen Kirche bekannt, die Ehen für nichtig erklären kann. Sie hatte sich im Lauf
der Jahrhunderte mit zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten zu befassen, und ihre
Entscheidungen hatten weitreichende religiöse, soziale und politische Folgen. Hier seien
nur die Namen Heinrich VIII., der Borgia und Napoleons genannt.
Ein Katholik muß von einem Geistlichen oder dessen Beauftragten im Beisein zweier
Zeugen getraut werden. Andernfalls ist die Ehe heimlich und nichtig. Mit anderen Wor-
ten, sie hat nach Auffassung der katholischen Kirche niemals existiert, selbst wenn daraus
Kinder hervorgegangen sind.
Wenn ein katholischer Gläubiger seine Ehe annullieren lassen will, hat er einen weiten
Weg vor sich. Der Fall wird einem bischöflichen Gericht vorgetragen. Ein Beamter, der
Defensor vinculi, tritt für die Gültigkeit der Ehe ein. Der Bischof kann entsprechend
dem kanonischen Recht trotzdem ihre Annullierung erklären, wenn der Beweis erbracht
wird, daß einer der Ehegatten zur Zeit der Eheschließung nicht getauft war, dem geist-
lichen Stand angehörte, durch ein Keuschheitsgelübde gebunden war oder einen anderen,
noch lebenden Ehegatten hatte. Auch im Fall zu naher Verwandtschaft kann die Ehe
annulliert werden. Falls der Defensor vinculi oder die Partei, die die Aufhebung der Ehe
erstrebt, mit dem Urteil nicht einverstanden sind, kann die Römische Rota angerufen
werden.
Die Anzahl der Fälle, die vor die Rota gebracht werden, ist gering, noch geringer aber
ist die Anzahl der Fälle, die vor ihr mit Erfolg verhandelt wurden. Während des Jahr-
zehnts von 1920 bis 1930 brachten 550 Millionen Katholiken lediglich 442 solche Fälle
vor die Rota. Von diesen 442 Fällen waren 95 Berufungen gegen Entscheidungen
29
desselben Tribunals. Von den 347 neuen Fallen waren nur 175 erfolgreich. 1945 wurden
von 80 beantragten Nichtigkeitserklärungen 35 gewährt.
2. Die Apostolische Segnatura.
Die Apostolische Segnatura wurde im 15. Jahrhundert gegründet und ist der höchste
Gerichtshof der katholischen Kirche. Seine Bezeichnung beruht auf der Tatsache, daß die
Prälaten, die beauftragt waren, allen Arten von Bittschriften nachzugehen, bei deren
Beantwortung der Unterschrift des Papstes bedurften. Nach dem Verlust der päpstlichen
Besitzungen wurde die Apostolische Segnatura geschlossen. Papst Pius X. führte sie
wieder ein. In ihrer gegenwärtigen Form hat sie vor allem die Aufgabe, sich mit Fragen
der Ehe zu befassen. Ihr gehören sechs Kardinäle an.
3. Die Apostolische Pönitentiarie.
Diese Institution befaßt sich mit den aus allen Teilen der "Welt eintreffenden Bittschrif-
ten, in denen um Absolution für bestimmte Verbrechen ersucht wird. Sie entstand 1130,
als Papst Innocenz II. sich selbst das Recht vorbehielt, „Absolution für Kapitalverbrechen
gegen Geistliche, wo immer sie begangen wurden, zu erteilen". Der Gerichtshof wird
von einem Kardinal geleitet, der auf Lebenszeit bestellt ist, er erteilt dem Papst auf dem
Totenbett Absolution.
Eine der besonderen Aufgaben dieses Gerichtshofes ist es, Ablaß zu gewähren. Das
geschieht in drei Kirchen - in Sankt Peter, Sankt Johannes Lateran und in Santa Maria
Maggiore. Jede dieser drei Kirchen hat einen Beichtstuhl, in dem sich ein langer Stab
befindet. „Die Priester, die diesen Beichtstuhl innehaben, sind Mitglieder des Tribunals
der Buße (Apostolische Pönitentiarie), sie werden daher die Pönitentiaries genannt. Sie
suchen die Basiliken auf und nehmen, wenn sie einen Pilger auf den Knien im Zustand
der Reue vorfinden, den Stab aus dem Beichtstuhl, berühren mit ihm zum Zeichen ihrer
Milde des Knienden Haupt, richten es auf und gewähren ihm den Ablaß." (Der Vatikan
von Seldes, S. 21)
Was ist ein Ablaß? Der Erlaß jener zeitlichen, mit der Sünde verbundenen Strafen
vor Gott, deren Schuld vergeben ist entweder durch das Sakrament der Buße oder durch
einen Akt völliger Reue. Den Erlaß gewährt eine kompetente kirchliche Autorität auf
Grund der Vollmacht der katholischen Kirche zur Sündenvergebung - den Lebenden
mit Hilfe der Absolution, den Toten auf dem Wege der Fürbitte (Catholic Encyclopcedia).
Ablässe werden entweder vollständig oder teilweise gewährt. Ein Teilablaß bezieht sich
auf einen Teil der mit der begangenen Sünde verbundenen Strafe; die Proportionen
werden in Zeitbegriffen ausgedrückt (z. B. dreißig Tage, sieben Jahre usw.). Ablasse, die
auf Grund von Gebeten gewährt werden, gehen verlustig durch Zusätze, Weglassungen
oder Veränderungen beim Beten. Es ist obligatorisch, daß sich der Sünder, um einen Ab-
laß gewährt zu bekommen, wie groß oder wie klein seine Sünde auch immer gewesen
sein mag, im Zustand der Reue befindet.
Man kann sich leicht vorstellen, welche Macht die katholische Kirche über einen
katholischen Gläubigen durch dieses System geistiger Versicherungspolicen für das Leben
nach dem Tode gewinnt. Es geht hier nicht darum, das Ablaßsystem vom religiösen
oder theologischen Standpunkt aus zu erörtern, sondern darum, zu zeigen, welche Waffe
dieses System für die Macht der Kirche über ihre Gläubigen darstellt. Dieser geistige
Druck wird dadurch verstärkt, daß zusätzlich zu den verschiedenen Ablaßarten, die die
Kirche durch die Auferlegung von Gebeten oder anderen Taten der Ergebenheit gewährt,
die Hierarchie der katholischen Kirche - Bischöfe, Kardinäle und der Papst - auch nach
eigenem Gutdünken Ablaß gewähren kann.
Der Papst ist der höchste Sündenvergeber. Nur er kann „durch seine göttliche
Autorität die Dispensation auf Grund der Vollmacht der katholischen Kirche zur
30
Sündenvergebung erteilen". Niedrigere Stellen der katholischen Kirche dürfen Ablaß
nur in dem Umfang gewähren, den das kanonische Recht vorsieht : Kardinäle 200 Tage,
Erzbischöfe 100 Tage, Bischöfe 50 Tage. Keiner kann Ablässe auf andere lebende
Personen übergehen lassen, aber alle päpstlichen Ablässe können auf Seelen im Fege-
feuer übertragen werden, soweit es nicht anders festgelegt ist. Apostolische Ablässe
können vollständig oder teilweise sein, vorausgesetzt sie sind vom Papst oder seinem
Beauftragten gesegnet.
Durch dieses geistige Instrument erlangt die katholische Kirche nicht nur große
Autorität bei ihren Gläubigen, sie ist darüber hinaus durch ihren Anspruch, eine Strafe
nach dem Tode erlassen zu können, in der Lage, einen gewaltigen Druck auf die reli-
giösen und moralischen Gepflogenheiten ihrer Anhänger auszuüben. Zugleich steigert sie
dadurch die Autorität des Papstes.
Kapitel iv Der geistige Totalitarismus des Vatikans
Der Index - Wie ein Buch verurteilt wird - Werke der Weltliteratur, die ein Katholik
nicht lesen darf - Klassische Beispiele kirchlicher Einmischung in wissenschaftliche
Angelegenheiten — Die Propaganda Fide — Wie sie arbeitet - Ihre Entwicklung - Ihre
letzte Zielsetzung: eine katholische Welt.
Ai s wir uns mit dem Heiligen Offizium befaßten, erklärten wir, daß die
katholische Kirche keineswegs ihre geistige Haltung, „allein im Besitz der
Wahrheit zu sein", jene Haltung also, die zur Inquisition führte, aufge-
geben hat. Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Methoden der
katholischen Kirche. Aber ihr Geist blieb unwandelbar im Lauf der Jahr-
hunderte, wenn er auch in der modernen Gesellschaft viel an Macht ver-
loren hat. Daß der Index auch in unserem Jahrhundert weitergeführt wird,
ist der beste Beweis dafür.
Bei der Untersuchung dieser Erscheinung fällt sofort die Ähnlichkeit mit
der geistigen Haltung faschistischer Regime ins Auge, unter deren Herr-
schaft den Massen ebenfalls nur das zu lesen und zu sehen erlaubt wird,
was zuvor die Zustimmung der Regierung gefunden hat. Beide, die katho-
lische Kirche und die faschistischen Regierungen, bedrohen die Menschen,
die sich ihrem Urteil nicht unterwerfen, mit schweren Strafen — die katho-
lische Kirche mit der ewigen Verdammnis, die faschistischen Staaten mit
Gefängnis und Konzentrationslager.
Die Gleichheit der Methoden und Motive der katholischen Kirche und
der faschistischen Staatswesen erkennen wir noch klarer, wenn wir, nach
dem Index, eine weitere Abteilung des Vatikans untersuchen — die Pro-
paganda Fide.
Die Propaganda Fide hat die Aufgabe, den katholischen Glauben unter
dem Gesichtspunkt zu verbreiten, daß die katholische Religion die einzig
wahre Religion ist; alle anderen Religionen seien falsch und müßten ver-
schwinden; der größere Teil der Menschheit — Protestanten, Moslems, Bud-
dhisten, Hindus, Juden und Heiden - könne nur gerettet werden, wenn er
sich dem Katholizismus ergebe. Das Betätigungsfeld der Propaganda Fide
ist daher buchstäblich die ganze Welt, ihr höchster Auftrag ist, die gesamte
Menschheit zum Katholizismus zu bekehren.
Faschistische Staaten arbeiten ebenso. Sowohl das faschistische Italien als
auch Hitlerdeutschland richteten ein umfassendes Propagandaministerium
ein, das auf politischem Gebiet und in der Behandlung nationaler, ras-
sischer oder rein ideologischer Fragen die gleiche Zielsetzung hatte wie die
katholische Kirche auf religiösem Gebiet.
32
Sowohl die katholische Kirche als auch die faschistischen Staaten behalten
sich das Recht vor, nach eigenem Gutdünken die Verbreitung bestimmter
Ideen zu untersagen und mit Zwangsmitteln soviel Menschen wie möglich
der eigenen Ideologie oder Religion zu unterwerfen.
Diese enge Verbindung zwischen den Diktaturen des 20. Jahrhunderts
und der katholischen Kirche ist kein Zufall. Beide haben die gleiche Geistes -
haltung, beide arbeiten mit den gleichen Mitteln, und beide streben — je-
weils auf ihrem Gebiet - das gleiche Ziel an. Deshalb war es auch durchaus
natürlich, daß sich der geistige Totalitarismus der katholischen Kirche so
oft mit dem politischen Totalitarismus des Faschismus und Nazismus ver-
bündete, selbst in Zeiten, in denen beide, entsprechend ihrer besonderen
Zielsetzung, eigentlich hätten aufeinanderprallen müssen.
Mit Hilfe des Index und der Propaganda Fide übt die katholische Kirche
in der ganzen Welt' einen gewaltigen Einfluß auf religiösem Gebiet aus
und berührt auf diese Weise ethische, kulturelle, soziale und oft auch poli-
tische Fragen. Deshalb wollen wir uns beide Abteilungen etwas näher
ansehen.
Was ist der Index?
Der Index ist eine Liste von Büchern, die ein katholischer Gläubiger nicht
lesen darf. Das klingt ziemlich einfach. Sind sich aber alle denkenden Men-
schen der Konsequenzen bewußt, die sich aus diesen Worten ergeben?
Der irische Geistliche Dr. Timothy Hurley sagte: „Es ist römisch-katho-
lischen Gläubigen bei Strafe des Begehens einer Todsünde oder selbst der
Exkommunikation verboten, Bücher zu lesen, die sich gegen die katholische
Kirche richten."
Papst Pius IV. erklärte das Lesen eines verdammten Buches zur Tod-
sünde.
Sehen wir uns die Formel der Päpste an, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert
lautete :
„Wir verdammen dieses Werk nach reiflicher Überlegung auf Grund Unseres per-
sönlichen Urteils (motu proprio) und mit der sicheren Gewißheit seines verderblichen
Charakters auf Grund Unserer Apostolischen Autorität (die uns übertragen wurde), und
Wir verbieten jedermann, welches seine Stellung oder sein Rang auch sein möge, den
Druck, das Lesen oder den Besitz desselben.
Die Strafe für Ungehorsam soll sein: excommunicatio latae sententiae* . Wir bestim-
men, daß die existierenden Bestände des besagten Buches dem Bischof oder dem Inqiiisi-
tor der Diözese zu übergeben sind, der sie ohne Verzögerung zu verbrennen hat.' 1
Die Gesetze des Index sind für alle Katholiken bindend; ausgenommen sind Kardi-
näle, Bischöfe und andere Würdenträger, deren Rang nicht unter dem eines Bischofs
sein darf.
* Automatische Exkommunikation.
3 M359
33
Das kanonische Recht läßt keinen Zweifel darüber, welche Bücher nicht gelesen
werden dürfen. Es gibt zwölf Kategorien:
1. Alle von Nichtkatholiken veranstalteten Ausgaben des Originaltextes und der alten
katholischen Übersetzungen (Septuaginta y Vulgata) der Heiligen Schrift, auch der orien-
talischen Kirchen ; ebenso alle von Nichtkatholiken veranstalteten oder herausgegebenen
Ubersetzungen der Heiligen Schrift in die Volkssprache.
2. Schriftwerke beliebiger Schriftsteller (katholischer oder nichtkatholischer), welche
die Häresie oder das Schisma verteidigen oder die Grundwahrheiten der Religion, zum
Beispiel den Glauben an Gott und die Unsterblichkeit, in irgendeiner Weise (in wissen-
schaftlicher Weise oder durch Entstellung, Spott, Hohn usw.) zu untergraben suchen.
5. Schriftwerke, welche die Religion und die guten Sitten nicht bloß gelegentlich,
sondern systematisch befehden („schlechte Presse").
4. Schriftwerke beliebiger Nichtkatholiken, welche ihrem wesentlichen Inhalt nach
{ex professo) von der Religion handeln, außer es steht fest, daß nichts gegen den katho-
lischen Glauben in ihnen enthalten ist.
5. Schriftwerke der in c. 1585 § 1 und 1391 genannten Art (Ausgaben der Heiligen
Schrift, Gebets-, Andachts- und Erbauungsbücher, Heiligenbilder, Ubersetzungen der
Heiligen Schrift, Schriftwerke der Theologie, der Kirchengeschichte, des Kirchenrechts
u. a.), welche nicht die kirchliche Vorzensur tragen; ferner alle nicht approbierten Bücher
und Broschüren, welche neue Erscheinungen (z. B. die Heilige Jungfrau), Offenbarun-
gen, Visionen, Weissagungen, Wunder berichten oder neue Andachten, wenn auch nur
als private, einführen.
6. Schriftwerke, welche irgendein katholisches Dogma bekämpfen oder verspotten,
vom Apostolischen Stuhl verworfene Irrtümer in Schutz nehmen, den Gottesdienst her-
absetzen, die kirchliche Disziplin zu erschüttern suchen, die kirchliche Hierarchie, den
geistlichen oder Ordensstand vorsätzlich beschimpfen.
7. Schriftwerke, welche den Aberglauben in irgendeiner Form, Weissagekunst, Weis-
sagungen, Zauberei, Geisterbeschwörungen und ähnliche Dinge lehren oder empfehlen.
8. Schriftwerke, welche das Duell, den Selbstmord, die Eheauflösung als erlaubt hin-
stellen; Bücher über Freimaurerei oder ähnliche Geheimbünde, welche die genannten
Bünde als nützlich oder wenigstens als ungefährlich für die Kirche und die bürgerliche
Gesellschaft bezeichnen.
9. Schriftwerke, welche ihrem wesentlichen Inhalt nach laszive und obszöne Dinge
erzählen (Romane) oder lehren.
10. Ausgaben liturgischer, vom Apostolischen Stuhl approbierter Bücher, in welchen
Änderungen vorgenommen worden sind, so daß sie mit den authentischen Ausgaben
nicht übereinstimmen.
11. Schriftwerke, durch welche falsche oder vom Heiligen Stuhl verworfene oder
widerrufene Ablässe verbreitet werden.
12. Bilder von Jesus Christus, der seligsten Jungfrau, den Engeln und Heiligen und
sonstigen Dienern Gottes, welche kirchlichen Anschauungen und Vorschriften wider-
sprechen.*
Wie man sieht, läßt die katholische Kirche ihren Gläubigen nicht viel
Möglichkeiten, sich ihre Lektüre nach eigenem Gutdünken auszuwählen.
* Deutscher Text nach Eichmann, Lehrbuch des Kirchenrechts, Paderborn 1926,
S. 469. - Im weiteren sind alle ursprünglich aus dem Deutschen stammenden Zitate,
wenn sie keinen Hinweis auf eine deutsche Quelle tragen, Rückübersetzungen aus
dem Englischen.
34
Das Verfahren, nach dem ein Buch auf den Index gesetzt wird, ist ein-
fach. Gewöhnlich unternehmen Bischöfe, die ein bestimmtes Buch verdammt
wissen möchten, die ersten Schritte und wenden sich unmittelbar an die
Höchste Heilige Kongregation; manchmal ergreift auch die Kongregation
selbst die Initiative. Im Auftrag der Kongregation liest einer ihrer Lektoren
das Buch sorgfältig und sucht die „schlechten Stellen" heraus. Anschließend
beurteilen noch andere Lektoren — im allgemeinen etwa 30 — das Buch.
Die Gutachten der Konsultatoren — so werden die Lektoren genannt - wer-
den den Kardinälen vorgelegt. Diese diskutieren über das Buch und fällen
schließlich das Urteil. Diesem Kardinalsgremium gehören 7 bis 10 Kardi-
näle an.
Vier Urteile sind möglich*: Damnetur (verdammt), Dimittatur (Be-
schwerde abgewiesen), Donec Corrigatur (verboten bis zur Korrektur), Res
Dilata (Entscheidung vertagt).
Die Autoren oder Verleger werden vor der Veröffentlichung des Urteils
nicht benachrichtigt, mit Ausnahme katholischer Autoren, denen eine
Chance gegeben wird, das Buch entweder zurückzuziehen oder sich Öffent-
lich dem Urteil des Heiligen Offiziums zu unterwerfen. Keinem Autor ist
es gestattet, sein Buch vor dem Heiligen Offizium zu verteidigen.
Lautet das Urteil der Kardinäle Damnetur, so wird der Titel des Buches
im offiziellen Teil des Osservatore Romano, der Zeitung des Vatikans, ver-
öffentlicht, danach in der Acta Apostolicae Sedis und schließlich in den reli-
giösen Organen der ganzen Welt.
Welche Bücher überprüft werden, wird nicht bekanntgegeben. Die Ge-
heimnisse des Heiligen Offiziums werden streng gewahrt. Die Angestellten,
die Konsultatoren und selbst die Kardinäle oder Mitglieder der Höchsten
Heiligen Kongregation dürfen niemals etwas über die Angelegenheiten ver-
lauten lassen, die bei den Zusammenkünften behandelt werden.
Ist ein Buch verboten, so darf es kein Katholik, bei Strafe der Todsünde,
das heißt der ewigen Verdammnis, anrühren oder lesen. Befindet sich eine
verbotene Publikation in einem Band mit anderen, nichtverbotenen Schrif-
ten, so ist der ganze Band verboten. Selbst von Bibelgesellschaften verlegte
Bibeln sind verboten. Als Zeuge möge wieder Rev. Dr. Timothy Hurley
dienen: „Alle Übersetzungen in die Landessprache durch Nichtkatholiken,
insbesondere jene, die von Bibelgesellschaften besorgt wurden, sind streng
verboten." Um sicherzustellen, daß sich alle katholischen Gläubigen an die
Richtlinien des Index halten, wird die katholische Kirche nicht müde, mit
Hilfe ihrer Presse und der Geistlichkeit die Gläubigen zu zwingen, den
Gesetzen der Kirche Gehorsam zu leisten. In fast allen katholischen
• Siehe Fußnote Seite 34.
35
Ländern und in den Ländern mit starken katholischen Minderheiten wird ein
kirchlicher Würdenträger, zumeist ein Jesuit, beauftragt, die Gläubigen in
der Wahl ihrer Lektüre anzuleiten. In manchen katholischen Ländern gibt
es einen besonderen Exekutivbeamten des Index, wie zum Beispiel den Abbe
Bethleem in Frankreich.
Die katholische Kirche verhindert durch diese Exekutivbeamten, durch
den Klerus und durch die katholische Presse die Veröffentlichung bestimm-
ter Bücher, sucht andere zu unterdrücken und veranlaßt die Gläubigen, die
verbotenen Bücher, Zeitungen und Zeitschriften zu boykottieren. Katho-
lische Klubs, Organisationen und Einzelpersonen beteiligen sich an der
Boykottkampagne mit einem Eifer, den man kaum für möglich hielte,
würde er nicht immer wieder in aller Öffentlichkeit vor Augen geführt.
Zu solchen Erscheinungen kommt es überall, wo Katholiken leben.
Und nach der Ansicht eines treuen Gläubigen hat die katholische Kirche
nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, so zu handeln. Warum?
Wir zitieren den französischen Exekutivbeamten des Index, den Ahb&
Bethleem:
„Die katholische Kirche hat, vermöge der Macht, die von ihrem göttlichen Gründer
«uf sie überkommen ist, das Recht und die Pflicht, den Irrtum und die Bosheit zu ver-
dammen, wo immer sie angetroffen werden; sie hat ebenfalls in natürlicher Konsequenz
das Recht, Bücher zu verdammen, die gegen den Glauben oder gegen die christliche
Moral gerichtet sind oder die, ohne bösartig zu sein, von diesem doppelten Standpunkt
her gefährlich werden können."
Der Abb£ erläutert, weshalb die Kirche die Werke von Renan, Zola und
anderen verdammt hat, und macht dann geltend - eine Erklärung, der die
katholische Kirche beipflichtet daß „die Kongregation für den Index nur
eine beschränkte Anzahl der verurteilenswerten Bücher verdammen kann ; die
anderen gelten als verdammt auf Grund der allgemeinen Bestimmungen".
Hier ist nicht der Platz, die ungewöhnlich interessante Geschichte des
Index wiederzugeben; es möge genügen, die wichtigsten Ereignisse fest-
zuhalten.
Die ersten Anfänge des Index finden wir bereits in der Frühgeschichte
der katholischen Kirche. Es wird behauptet, der Apostel Paulus selbst habe
den Anstoß dazu gegeben: „Gar manche aber von denjenigen, welche Vor-
witziges angestrebt hatten, trugen die Bücher zusammen und verbrannten
sie angesichts aller." (Apostelgeschichte XIX, 19)* Andere behaupten, die
erste Zensur sei erfolgt, als eine bischöfliche Synode im Jahre 150 die
Acta Pauli verdammte, einen Roman, der den heiligen Paulus betraf; doch
dieses Faktum ist umstritten. Im Jahre 325 verdammte das Konzil von
* Nach der Ubersetzung der Vulgata von Loch-Reischl, Regensburg, 1905.
36
Nicäa die Häresie des Arius und verbot dessen Buch Thalia. Die hierüber
vorhandene Urkunde ist das erste historisch beweiskräftige Dokument, auf
das der Index zurückgeht. Im Jahr 400 verbot das Konzil von Karthago,
heidnische Bücher zu lesen. Die erste Bücherliste, die man als Vorläufer
des heutigen Index bezeichnen kann, wurde unter Papst Gelasius aufgestellt.
Sie enthielt, verwunderlich genug, sowohl die Offenbarungsgeschichten der
Bibel als auch die apokalyptischen Schriften und häretische Bücher und
befahl deren Einziehung und Vernichtung. Mendham, ein protestantischer
Historiker, schreibt über die Entstehung des heutigen Index :
„Der Ursprung des eigentlichen Römischen Index ist der gewaltigen Attacke Martin
Luthers und anderer in Deutschland gegen den römischen Aberglauben Anfang des
16. Jahrhunderts zuzuschreiben."
Das erste Verbot eines gedruckten Buches wurde lange Zeit vor Luther
ausgesprochen : Die Monarchia von Antonio Roselli und die Thesen von Pico
della Mirandola wurden zum Beispiel schon 1491 verurteilt; 1519 ver-
öffentlichte Luther seine 488 Seiten umfassende Schrift gegen den Ablaß.
Sie wurde unverzüglich von den Universitäten in Paris, Louvain und Köln
verboten. Im folgenden Jahr verbrannte Luther die päpstliche Bannbulle,
das kanonische Gesetzbuch und die Schriften von Eck und Emser. Der Papst
ließ Luthers Schriften in Belgien, an den Ufern des Rheins und in Rom
verbrennen. 1543 wurden der Kardinal Caraffa und fünf weitere Kardinäle
zu „Beauftragten und Inquisitoren des Glaubens im gesamten Christlichen
Reich diesseits und jenseits der Alpen" ernannt. 1559 erschien der erste In-
dex, der im Laufe der Zeit mehr als hundert Auflagen erfuhr. Ein Jahr
zuvor erließ Philipp II. von Spanien bereits ein Dekret, das jeden, der
verbotene Bücher verkaufte, kaufte oder in Besitz hatte, mit dem Tod und
der Beschlagnahme seiner Habe bedrohte.
Der Index besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden alle Häretiker
aufgeführt; ihre Schriften - frühere, gegenwärtige und künftige - sind
insgesamt verdammt. Der zweite Teil enthält Schriftsteller, die zu Häresie,
Zauberei, Unmoral usw. neigen. Der dritte Teil ist den Schriftstellern vor-
behalten, deren Anschauungen schädlich sind. Hier einige Namen aus der
ersten Kategorie: Luther, Melanchthon, Rabelais, Erasmus. Aus der zwei-
ten: Merlins Buch der geheimnisvollen Visionen, die Fabeln von Holger
dem Dänen und Arthur von Britannien, die Sage von König Artus und ähn-
liches.
Die Kongregation für den Index wurde 1571 von Papst Pius V. geschaf-
fen. 1587 übertrug Sixtus V. ihr diktatorische Vollmachten. Leo XIII.
ordnete 1897 wichtige Veränderungen an und hob einige zu drastische Be-
stimmungen auf. Der leontinische Index, Ausgabe 1900, ist 450 Seiten
stark und enthält 7200 Namen, etwa 3000 weniger als die vorhergehende
37
Auflage. Im Vorwort wird dargelegt, was den Papst zu diesem Akt der
Liberalität veranlaßt hat:
„Es war nicht nur das Bestreben des Papstes, durch eine eingehende Revision des
Index die Strenge der alten Bestimmungen zu lockern, sondern ebenso, aus Gründen
mütterlicher Barmherzigkeit der Kirche den Geist des Index der heutigen Zeit anzu-
passen."
Die Ausgabe von 1930 enthält ungefähr 7000 bis 8000 Namen. Wir
werden einige der dort angeführten Namen nennen, damit der Leser einen
Eindruck gewinnt, wie ernst diese Frage ist, und Schlußfolgerungen ziehen
kann, wie schädlich oder nützlich der Index im Lauf der Jahrhunderte für
die Erleuchtung des Menschengeschlechtes gewesen ist. Ein unbekannt ge-
bliebener Satiriker hat einmal behauptet, man müsse den Römischen Index
konsultieren, wenn man wissen wolle, welches die besten Bücher sind.
Dante De Monarchia (erst im letzten Jahrhundert durch Leo XIII. freigegeben).
Leibniz, sämtliche Werke.
Grotius, De iure belli ac pacis.
Das Gebetbuch des Gemeinen Mannes.
Religio Medici von Thomas Browne.
Mlle de Maupin von Gautier.
Sämtliche Werke von Gabriele D'Annunzio.
Defoe.
Sterne, A Sentimental Journey.
Milton, Paradise Lost.
Descartes.
Auguste Comte, Cours de philosophie positive.
Sämtliche Werke von Dumas, Vater und Sohn.
Gustave Flaubert und Anatole France.
Gibbon, History of the Decline and Fall of the Roman Empire.
Heine und Kant.
La Fontaine von Lamartine.
Andrew Lang, Myth, Ritual and Religion*.
John Locke, An Essay Concerning Human Under Standing und Reasonableness of
Christianity as Delivered in the Scriptures.
Sämtliche Werke von Maurice Maeterlinck.
Pascal.
58 Bände von Voltaire.
Paine, The Rights of Man.
* Dies ist ein typischer Fall. Längs Buch befaßt sich lediglich mit antiken und früh-
geschichtlichen Glaubensauffassungen. Es erwähnt nicht einmal das Christentum. Der
Autor bat das Heilige Offizium, ihm eine Erklärung des Verbots zu geben. Trotz mehr-
facher Bemühungen erhielt er nicht einmal eine Antwort, geschweige denn eine Begrün-
dung.
33
Rousseau, Contrat Social, Lettres e'crites de la Montagne, Julie ou la Nouvelle Hdlolse,
usw.
Renan, einschließlich seiner Vie de JSsus.
George Sand, Henri Stendhal, Eugene Sue, Thomas White, Emile Zola, Spinoza, Sweden-
borg, Bernard de Mandeville, Taine, Malebranche, Bergson, Lord Acton, Bossuet, Bacon,
Hobbes, Samuel Richardson, Doellinger, Addison, Goldsmith, Victor Hugo usw.
Es gab sogar Bestrebungen, die Encyclopaedia Britannica auf den Index
zu setzen. Für den englischen und den amerikanischen Leser mag es beson-
ders bemerkenswert sein, daß bis heute durch den Index mehr als 5000
Bücher in englischer Sprache entweder völlig oder Donec Corrigatur (bis
zu ihrer Korrektur) verboten worden sind.
Die deutsche Autorität für den Index, Hilgers*, erklärt zu dessen Recht-
fertigung:
„Die schlechte Presse kann man mit gutem Grund die größte soziale Gefahr nennen,
weil sie der Ansteckungsträger und Krankheitserreger jeden geistigen Siechtums und
Verderbens heute mehr denn je, mehr noch als am Abende des 18. Jahrhunderts, ist.
Diese neue Sündflut wird gespeist aus drei Hauptquellen: Atheismus und Unglauben
kommt aus den Gebieten der Naturwissenschaft, der Philosophie und selbst der pro-
testantischen Theologie; es ist die tiefste Quelle der „freien" Wissenschaft. Anarchismus
und Nihilismus, religiöser wie politischer, ist die zweite Quelle, welche sich millionenfach
in die Bächlein sozialistischer Flugschriften überallhin ergießt. Im Grunde ist es nichts
anderes als die popularisierte Philosophie des Liberalismus."
Hilgers stellt abschließend fest, die dritte Quelle seien „schädliche Ro-
mane".
Vielleicht mag mancher denken, daß die katholische Kirche ihren Rechts-
anspruch, Bücher zu verbannen, heute kaum noch aufrechterhält. Und doch
ist es so, die katholische Kirche hat diesen Anspruch bislang nicht wider-
rufen. Im Gegenteil. Kardinalstaatssekretär Merry del Val sagte 1930;
„Die teuflische Presse ist gefährlicher als das Schwert. Sankt Paul hat das Beispiel
zur Zensur gegeben: Er veranlaßte die Verbrennung von Büchern {Apostelgeschichte
XIX, 19). Sankt Peters Nachfolger (das heißt die Päpste) sind diesem Beispiel stets
gefolgt; sie hätten auch gar nicht anders handeln können, denn ihre Kirche, unfehlbare
Herrin und sicherer Leitstern der Gläubigen, ist in ihrem Gewissen beauftragt, die Presse
sauberzuhalten . . .**
Und einige noch bezeichnendere Worte:
„Alle, die unsere Heiligen Bücher ohne jede Sicherung an die Menschen verteilen
wollen, sind ebenfalls Verteidiger des freien Denkens, das absurder und schädlicher ist
als alles andere . . . Nur solche Menschen, die bereits von dieser unter dem Namen
Liberalismus bekannten tödlichen Pest infiziert sind, können in der Kontrolle der Kräfte
des Unheils und der Liederlichkeit eine Wunde sehen, die der Freiheit zugefügt wird."
• Joseph Hilgers, S. J., Der Index der verbotenen Bücher, Freiburg i. B., 1904, S. 409.
39
Waren diese Worte lediglich die persönlichen Ansichten eines bekannten
Indexspezialisten und eines Kardinalstaatssekretärs? Nicht im geringsten.
Beide Männer drückten mit ihren Worten nur das aus, was der Papst mit
anderen W T orten in den Enzykliken verlautbaren ließ. So erklärte zum Bei-
spiel Papst Leo XIII. in der Enzyklika Immort ale Dei:
„Die unumschränkte Freiheit des Denkens und die öffentliche Bekanntmachung der
Gedanken eines Menschen gehören nicht zu den Rechten der Bürger."
Und in der Enzyklika Sapientiae Christianae :
„Es ist völlig ungerechtfertigt, die unbegrenzte Freiheit des Denkens, der Rede, dei
Schreibens oder des Gottesdienstes zu fordern, zu verteidigen oder zu gewähren, als
handele es sich dabei um Rechte, die dem Menschen von Natur aus verliehen sind."
Die katholische Kirche hält starr an dem Index fest, sie behauptet, er sei
eine Waffe zur Verteidigung der Wahrheit. Ohne Rücksicht darauf, daß es
unterschiedliche Auffassungen über die Wahrheit gibt, behauptet die katho-
lische Kirche, alleinige Besitzerin der absoluten Wahrheit zu sein: „Es gibt
nur eine absolute Wahrheit; die katholische Kirche und nur sie allein hat
die gesamte Wahrheit der Religion. Alle anderen Religionen, welche auch
immer, bergen verschiedenen Anteil an der Wahrheit in sich, aber nur die
katholische Kirche hat sie insgesamt" (Catholic Encyclop&dia)
Dieser Glaube ist der Grundstein der katholischen Lehre. Er wurde im
Lauf der Jahrhunderte von den Päpsten immer wieder proklamiert. Die An-
maßung, daß jede andere Religion, jedes andere christliche Bekenntnis
falsch sei und daher kein Recht auf Freiheit habe, bestimmt seit dem vierten
Jahrhundert die militante Politik der katholischen Kirche.
Die Päpste unserer Zeit haben den Sachverhalt völlig klargestellt. „Es
widerspricht der Vernunft, daß der Irrtum und die Wahrheit gleiche Rechte
genießen sollen", sagte Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika Sapientiae
Christianae. „Deshalb", so fügt Leo XIII. in einer anderen Enzyklika
hinzu, „verbieten es Gerechtigkeit und Vernunft . . ., die verschiedenen
Religionen, wie sie sich auch nennen, auf gleiche Stufe zu stellen, ihnen
fälschlicherweise gleiche Rechte und Privilegien zuzubilligen." (Enzyklika
Libertas Praestantissimum Donum)
Die katholische Kirche hält sich selbst für die einzig wahre Kirche, für
die einzig wahre Religion, von Gott eingesetzt, von Gott beauftragt, von
Gott erleuchtet, von Gott beschützt. Sie behauptet, die Schatzkammer der
Wahrheit zu sein, weil es nur eine Wahrheit gebe und weil sich alle ande-
ren Religionen im Irrtum befänden. Die Wahrheit aber verhalte sich zum
Irrtum wie das Recht zum Unrecht, das Richtige zum Falschen, das Licht
zur Dunkelheit. Daraus folge, daß die Wahrheit dem Irrtum, das Richtige
dem Falschen, das Recht dem Unrecht vorgezogen werden müsse.
40
Diese Ansprüche der katholischen Kirche sind keinesfalls nur theoreti-
scher Art. Nach diesen Grundsätzen handelt sie. Sie zögert nicht, wo es ihr
möglich ist, Bücher zu verbrennen; sie verbrennt sogar Bibeln, die nicht
von ihr autorisiert sind. Am 27. Mai 1923 wurden in Rom protestantische
Bibeln verbrannt; 1932 wurde eine protestantische Übersetzung der vier
Evangelien in Dublin auf den Scheiterhaufen geworfen. 1940 zog der spa-
nische Staat mehr als 100 000 nichtkatholische Bibeln ein und vernichtete
sie. 1949 wurden in Toribio Cauca (Kolumbien) Bibeln verbrannt, im Mai
1950 geschah das gleiche in El Aguado Casanare (ebenfalls Kolumbien).
In Frankreich zog die französische Hierarchie gegen den Weihnachts-
mann, dieses „teutonische Symbol des Heidentums und des Protestantismus"
zu Felde. Der Weihnachtsmann sollte durch das Christkind ersetzt werden.
Unter der Losung „Schluß mit dem Weihnachtsmannmythos, macht
Weihnachten katholisch!" wurde vor der Kathedrale zu Dijon eine Puppe
des Weihnachstmannes Öffentlich verbrannt.
Die größte gewaltsame Massenbekehrung der modernen Geschichte voll-
zog sich während des zweiten Weltkrieges im katholischen Kroatien. Dort
wurden unter dem Terrorregime des Katholiken Ante Pavelic und seiner
Ustascha-Leute Hunderttausende orthodoxer Serben gezwungen, sich ent-
weder zur katholischen Kirche zu bekennen oder sich massakrieren zu las-
sen. Kardinal Stepinac unterstützte diese mittelalterliche Methode, und der
Vatikan erteilte seinen Segen.
In den Jahren von 1941 bis 1945 „bekehrte" oder ermordete der katho-
lische Terror nicht weniger als 850 000 Mitglieder der orthodoxen Kirche.
Diese Zahlen sind nicht übertrieben. Unwiderlegbare Beweise lassen sich
dafür erbringen. Der Autor dieses Buches sprach mit Dutzenden von Kroa-
ten, die unter Eid versicherten, daß entweder sie oder ihre Verwandten
zwangsweise bekehrt wurden oder daß man ihre Verwandten ermordete, weil
sie sich weigerten, in den Schoß der katholischen Kirche „zurückzukehren".
(Siehe hierzu u. a. folgende Dokumente: Memorandum vom Oktober 1950
an den Präsidenten der 5. Vollversammlung der Vereinten Nationen über
die am serbischen Volk begangenen Verbrechen des Völkermordes; Der Fall
des Erzbischofs Stepinac, herausgegeben von der Botschaft der Föderativen
Volksrepublik Jugoslawien in Washington; Das Martyrium der Serben,
veröffentlicht von der Diözese der serbisch- orthodoxen Kirche für die USA
und Kanada; Bericht der jugoslawischen Staatskommission für die Unter-
suchung der Kriegsverbrechen,)
Die katholische Intoleranz beschränkt sich nicht auf die religiöse Sphäre,
sie greift auch auf die gesellschaftliche Sphäre über und versucht hier, ihre
Lehren mit demselben antiliberalen Fanatismus durchzusetzen, dem sie in
religiösen Fragen huldigt. „Es ist unsere strenge Pflicht", so sagte Papst
41
Pius X., „alle Menschen ohne Ausnahme in ihrem privaten und öff entlichen
Leben gemäß den Gesetzen und den Richtlinien der Moral zu leiten." (Ci-
viltä Cattolica, 6. Oktober 1906)
Besonders kraß tritt die Intoleranz der katholischen Kirche immer wieder
in der Frage der Ehe in Erscheinung. Die Ehe wurde von der Gesellschaft
eingeführt, erklärt der Staat, also gehöre es zu den Rechten des Staates, die
Ehe entsprechend seinen Gesetzen zu schließen oder aufzuheben.
Die Ehe stammt von Gott, behauptet die katholische Kirche. Folglich
habe der Staat kein Recht, die Ehe zu schließen oder sie aufzulösen; denn
„die Ehe ist heilig aus ihrer eigenen Kraft, aus ihrer eigenen Natur, um
ihrer selbst willen. Sie darf nicht nach dem Willen weltlicher Herrscher
geordnet oder gehandhabt werden." (Pius XI., Casti Connubii, 1930) Nach
den Lehren der katholischen Kirche sei die Ehe kein zivilrechtlicher Vertrag,
sondern eine rein religiöse Angelegenheit, sie sei keine Institution, sondern
ein „Sakrament", und ein Sakrament zu vollziehen, sei „nach dem Willen Jesu
Christi ein so wichtiger Teil der Macht ausübung und der Pflicht der Kirche,
daß es völlig absurd ist, anzunehmen, die weltlichen Herrscher besäßen auch
nur einen Zipfel dieser Macht" (ebenda).
Angesichts dieser starren Haltung der Kirche erklärten einige moderne
Staaten, in dem Bemühen, einen Kompromiß zu finden, ihre Bürger könn-
ten sich je nach Wahl entweder kirchlich oder standesamtlich oder sogar auf
beide Arten trauen lassen. Aber die katholische Kirche erhob Einspruch:
Der Bürger habe nicht das Recht, zu wählen; der Staat sei im Unrecht; die
Ehe „untersteht nicht menschlichen Entscheidungen oder irgendeiner gegen-
seitigen Absprache, auch nicht der der Brautleute selbst", die Natur der Ehe
sei „von dem freien Willen der Menschen völlig unabhängig" (ebenda).
Den katholischen Bürgern ist es daher durch die Kirche verboten, sich
standesamtlich trauen zu lassen, denn der Staat genieße nach Ansicht der
Kirche keinerlei wie immer geartete Autorität, eine Ehe zu legalisieren. Er
könne auch nicht „von einer anderen Religion damit beauftragt werden".
(Leo XIII., Arcanum Divinae, 1880) Das heißt also, daß Katholiken sich
nicht durch ein Standesamt trauen lassen dürfen, wenn sie nicht eine
schwere Sünde auf sich laden wollen; die Trauung durch einen nichtkatho-
lischen Geistlichen zieht die Exkommunikation nach sich.
Die Kirche sagt weiter: Was der Staat nicht vereinen kann, das kann er
auch nicht lösen, weil „die Ehe eine göttliche Institution" ist und deshalb
„durch keinerlei weltliche Gesetze aufgehoben werden kann" (Pius XI.,
Casti Connubii, 1930). Mit anderen Worten, die Kirche beharrt darauf, daß
der Staat kein Recht habe, eine Ehe zu scheiden, weil höher als jeder Staat
„das unabänderliche Gesetz Gottes" stehe, dessen „Wirksamkeit weder
durch menschliche Anordnungen noch durch menschliche Ideen, noch durch
42
irgendeine Gesetzgebung aufgehoben werden" könne (ebenda). Auf Grund
dieser Prinzipien erließ die katholische Kirche ohne Rücksicht auf die Ge-
setze des betreffenden Staates ihre eigenen Ehegesetze und rühmte sich noch
dieser Mißachtung der weltlichen Autoritäten. „Wenn die Kirche so han-
delt, folgt sie dem Beispiel Christi und dem des heiligen Paulus, die beide
weder Tiberius noch Caesar um Rat fragten, welche Gesetze über die Ehe-
schließung anzuwenden seien . . . gleichgültig, ob sie dabei von den Gesetzen
des Staates abwichen oder nicht." (ebenda)
Katholische Bürger können sich nicht scheiden lassen, sie müssen sich der
Auffassung beugen, daß die Ehe lebenslänglich sei. Auch der Staat dürfe sie
nicht scheiden, erklärt die Kirche; dieses Verbot beziehe sich nicht nur auf
,die kirchlich geschlossene Ehe, sondern, wie Pius XL dekretierte, „auf jede
Art der Ehe, sei sie natürlich, weltlich oder kirchlich geschlossen worden"
(ebenda).
Die Gefährlichkeit dieser Ansprüche wird uns noch klarer, wenn wir
bedenken, daß die katholische Kirche nicht nur den katholischen Gläubigen
die Scheidung untersagt, sondern auch den Protestanten, den Agnostikern,
den Nichtchristen — also allen Menschen. Und sie zögert nicht, ihr Verbot
durchzusetzen, wo immer sie die Macht dazu hat, indem sie zum Beispiel
den Staat zwingt, in seinem Bereich die Scheidung zu verbieten, ohne zu
beachten, ob die betroffenen Bürger katholisch sind oder nicht.
Ein solches Land, in dem Nichtkatholiken, die sich scheiden lassen wol-
len, nicht geschieden werden, weil die katholische Kirche es verbietet, ist
zum Beispiel Brasilien, dessen Bevölkerung zu 95 Prozent katholisch ist.
Dort machte die Verfassung die gesetzliche Ehe zu einem unlösbaren Ver-
trag. Versuche, die Verfassung zu ändern und die Scheidung zu gestatten,
wurden auch nach dem zweiten Weltkrieg wiederholt unternommen, aber
jedesmal von der katholischen Opposition vereitelt.
Selbst in überwiegend protestantischen Ländern trifft man auf ähnliche
Situationen. In Kanada zum Beispiel ist die Scheidung bei erwiesenem Ehe-
bruch und bei böswilligem Verlassen gestattet, nur eine Provinz macht eine
Ausnahme: Quebec. Die kanadische Gesetzgebung versucht seit langem, in
Quebec die Bildung von Scheidungsgerichten durchzusetzen, stößt aber im-
mer wieder auf die Opposition der katholischen Kirche.
Auf anderen Gebieten zeigt sich die katholische Kirche nicht weniger
diktatorisch. Dies betrifft vor allem das Erziehungswesen. Die Päpste haben
in dieser Frage nie ein Blatt vor den Mund genommen. Leo XIII. erklärte,
daß es „zu den unveräußerlichen Rechten der Kirche gehört, die gesamte
Erziehung der Kinder zu überwachen".
Nach der Ansicht des Papstes sollen die Kinder vor allem von ihren katho-
lischen Eltern erzogen werden, weil sie „die Erziehungsgewalt und das
43
Erziehungsrecht innehaben" . (Pius XI., Casti Connubii) Das Recht der katho-
lischen Eltern stehe über dem des Staates. Der Staat könne das Elternrecht
nicht übergehen, denn die Kinder müßten im „Geist der wahren Prinzipien
der Religion" erzogen werden. Es handele sich dabei um „ein Recht,
das kein Mensch usurpieren kann, ohne den schwersten Verstoß gegen das
Naturrecht zu begehen". (Enzyklika Sumni Pontificatus)
Alle katholischen Eltern sind daher vor ihrem Gewissen als Katholiken
gezwungen, jede Institution, jede Partei und jede Regierung zu bekämpfen,
die ihnen dieses Recht streitig macht. Die katholische Kirche sagt ihnen, sie
hätten „von Natur aus das Recht, ihre Kinder, die sie geboren haben, auch
auszubilden". (Enzyklika Sapientiae Christiande) Es sei nicht nur ihr Recht,
sondern auch ihre Pflicht, jeden Angriff auf das Elternrecht zurückzuweisen,
gleich, von welcher Seite er komme. Sie seien verpflichtet, ihre Kinder von
Schulen fernzuhalten, in denen sie Gefahr liefen, ihren katholischen Glau-
ben zu verlieren, (ebenda)
Nach Auffassung der katholischen Kirche hat der moderne Staat auf dem
Gebiet des Erziehungswesens einzig und allein die Pflicht zu verhindern,
daß etwas gelehrt wird, was im Widerspruch zu den Lehren der Kirche
steht, und dafür zu sorgen, daß die Lehrtätigkeit den Doktrinen der katho-
lischen Kirche entspricht. Man gesteht dem Staat auch einige Rechte zu,
sie dürfen jedoch den Glauben der Katholiken nicht gefährden und sich nicht
auf Gebiete erstrecken, für die sich die Kirche zuständig hält, denn „jede
Jugenderziehung, die es vorsätzlich vernachlässigt, die Gedanken auf das
wirkliche Vaterland, den Himmel, zu richten, bringt großen Schaden . . .".
(Papst Pius XIL, Sumni Pontificatus, 1939) Die weltliche Erziehung müsse
verboten werden, da ihre Zielsetzung, um wieder die Enzyklika Immortale
Dei zu zitieren, darin bestehe, „die Aktionen der christlichen Institutionen
zu paralysieren und die Freiheit der katholischen Kirche auf das Äußerste
einzuengen".
Jeder Staat ist also nach Ansicht der katholischen Kirche verpflichtet, alle
Erziehungssysteme abzulehnen, die die Existenz eines übernatürlichen
Wesens leugnen. Die Kirche könne auch keinem Erziehungssystem zustim-
men, das dem Kind „das ausschließliche Primat der Initiative und des Han-
delns, unabhängig von irgendeinem höheren Gesetz natürlichen oder gött-
lichen Ursprungs, zubilligt. Solche Bestrebungen sind zu verdammen".
(Pius XL, Divini Illius Magist ri)
Diese mittelalterliche Engstirnigkeit hat zwangsläufig zur Folge, daß
an den katholischen Schulen und Universitäten im Vergleich mit nichtkatho-
lischen Bildungsstätten nur eine sehr geringe Anzahl unabhängiger, origi-
neller Denker und Wissenschaftler zu finden ist. Der beste und zugleich
erschütternde Beweis für diese Behauptung sind Länder wie Irland, Spanien,
44
Portugal und andere, deren Erziehungssystem völlig den katholischen Prin-
zipien untergeordnet ist.
Die katholische Kirche wendet sich gegen nahezu alles, was die moderne
Gesellschaft an Neuerungen auf dem Gebiet des Erziehungswesens hervor-
bringt. Viele maßgebende Persönlichkeiten in Europa und Amerika befür-
worten aus moralischen, medizinischen und sozialen Gründen die sexuelle
Erziehung, die sexuelle Aufklärung. Die katholische Kirche ist dagegen,
denn „daraus erwachsen üble Praktiken, die nicht so sehr die Folge man-
gelnden Wissens sind, als vielmehr dem Willen entspringen, gefährliche
Gelegenheiten der Versuchung herbeizuführen" (Pius XI.). Auch die „Ko-
edukation", die gemeinsame Erziehung von Mädchen und Jungen, hält die
Kirche für sehr gefährlich und behauptet, daß sie auf einer „bedauerns-
werten Ideenverwirrung" beruhe. Die Geschlechter hätten nicht die glei-
chen Rechte, der Unterschied der Geschlechter müsse daher auch „während
der Jahre des Wachstums aufrechterhalten und gefördert werden". (Divini
lllius Magistri)
Kein Staat hat nach Auffassung der Kirche das Recht, die Erziehung
der Jugend als sein Monopol zu betrachten. Dieses Recht komme ausschließ-
lich der Kirche zu. Denn „ein Staatsmonopol im Erziehungswesen, das die
Familien zwingt, ihre Kinder auf Regierungsschulen zu schicken, die im
Widerspruch zu den Forderungen ihres christlichen Gewissens oder selbst zu
ihren legitimen Wünschen stehen, ist ungerecht und ungesetzlich" (Divini
lllius Magistri).
Die katholische Kirche ist auch gegen „neutrale" Schulen. Eine Schule
habe katholisch zu sein, andernfalls brauche man sie nicht. Katholiken soll-
ten „neutrale" Schulen nicht besuchen, denn diese „stehen im Widerspruch
zu den grundlegenden Prinzipien der Erziehung", (ebenda) Sie seien in
Wahrheit irreligiös. Aus denselben Gründen bekämpft die Kirche jeden
Staat, der versucht, sich in religiösen Fragen neutral zu verhalten, und es
ablehnt, eine bestimmte Glaubensrichtung zu benachteiligen.
Aber das stupide Beharren der katholischen Kirche auf ihren angeblichen
Rechten in diesen Fragen treibt noch weitere Blüten. So verurteilt sie alle
sogenannten gemischten Schulen, die sogenannten Simultanschulen, die
sowohl von Katholiken als auch von Nichtkatholiken besucht werden, und
wendet sich gegen die Einheitsschule, in der der Unterricht außer dem
Religionsunterricht gemeinsam für alle Schüler erteilt wird. Denn „die bloße
Tatsache, daß in einer Schule einige Stunden Religionsunterricht erteilt
werden . . . macht sie noch nicht zu einem geeigneten Platz für katholische
Schüler", (ebenda)
Die katholische Kirche verdammt also das Erziehungsmonopol des mo-
dernen Staates, nimmt es aber gleichzeitig für sich in Anspruch und
45
verlangt darüber hinaus vom Staat, sich allein der katholischen Schulen an-
zunehmen.
Aber was sind das für Schulen? Hören wir den Papst: „Eine katholische
Schule ist eine Einrichtung, die unter der Leitung und der Kontrolle der
katholischen Kirche steht und in der alle Lehren und die gesamte Lehr-
organisation . . . vom katholischen Geist durchdrungen sind." (ebenda)
Das engstirnige Festhalten der katholischen Kirche an diesen angemaß-
ten „Rechten" auf dem Gebiet der Erziehung führt, wie auch auf anderen
Gebieten, zu einer eklatanten Einmischung der Kirche in die innerpoliti-
schen Angelegenheiten eines jeden Staates, der katholische Gläubige unter
seinen Einwohnern hat. Alle katholischen Bürger stehen unter dem Gewis-
senszwang, den Weisungen der Kirche auf diesem Gebiet Folge zu leisten;
das bedeutet, sie müssen jede Regierung und jede Partei bekämpfen, die
nicht den Segen der katholischen Kirche hat. Alles aber, was ein Katholik
für die katholische Konfessionsschule unternimmt, „ist ein wahrhaft reli-
giöses Werk . . . eine Tätigkeit im Sinne der katholischen Aktion". Die
Agitation in dieser Richtung habe nichts mit Parteipolitik zu tun, sie sei
„ein religiöses Unternehmen, zu dem das Gewissen ruft", (ebenda)
Die katholische Kirche maßt sich weiter das Recht an, auch auf dem
Gebiet der Wissenschaft das entscheidende Wort zu sprechen. „Die Kirche
hat das Recht und die Pflicht, sorgsam darauf zu achten, daß die Wissen-
schaften in ihrem System keinem Irrtum Einlaß gewähren", erklärte dazu
das vatikanische Konzil am 24. April 1870, eben jenes Konzil, das die Un-
fehlbarkeit des Papstes verkündete. Die Wissenschaft dürfe „nicht in die
Domäne des Glaubens eindringen oder diesen verdrängen".
Pius XII. unterstrich diese Gedanken in seiner Enzyklika Humani
Generis vom 21. August 1950, die sich mit den Beziehungen zwischen dem
Glauben und der Wissenschaft befaßte. Er erklärte, daß alle Gläubigen
„bereit sein müssen, sich dem Urteil der Kirche auch in wissenschaftlichen
Fragen zu beugen".
Was bedeutet ein solches Gebot? Den katholischen Gläubigen wird unter-
sagt, theoretisches oder praktisches Wissen anzuerkennen, das nach Auf-
fassung der Kirche falsch ist. Aber damit nicht genug. Der Papst bean-
sprucht ferner, als einziger im Besitz der Wahrheit auch in allen grund-
legenden wissenschaftlichen Fragen zu sein, zum Beispiel in der Frage des
Ursprungs der Menschen. Pius XII. beschäftigte sich in der erwähnten
Enzyklika ausführlich mit dieser Frage. Er verlangte, daß alle katholischen
Gläubigen an die reale Existenz von Engeln glauben und vor allem die
Geschichte von Adam und Eva akzeptieren. Diese Geschichte sei absolut
wahr, sie sei weder ein Mythos noch eine Allegorie, man müsse sie wörtlich
nehmen.
46
Was beabsichtigte Pius XII. mit diesem Zwang zum Wunderglauben? Er
wollte damit einen Damm gegen die Evolutionstheorie errichten. Pius XII.
verurteilte in derselben Enzyklika jeden Wissenschaftler, der sich so verhielt,
als wäre die Evolutionslehre „durch Tatsachen . . . bewiesen", und führte als
Argument, daß die Evolutionslehre unmöglich wahr sein könne, die Tat-
sache an, daß die Kommunisten diese Theorie befürworten. „Die Kommu-
nisten", so erklärte er, „bekennen sich freudig zu dieser Meinung, weil sie
mit ihr um so wirksamer ihre Theorie des dialektischen Materialismus ver-
breiten können." Die katholischen Gläubigen dürften also nicht an die
„Mythen" glauben, die von der modernen Experimentalwissenschaft ge-
schaffen werden, sondern müßten statt dessen, da „die Stimme des Papstes
Irrlehren, Götzendienste und Aberglauben verurteilt" (Papst Pius XII.
in seiner Botschaft an die Arbeiter von 20. 10. 1949), ohne Widerspruch die
totale Wahrheit hinnehmen, daß der Körper der Jungfrau Maria die biolo-
gischen Gesetze der Schwangerschaft ebenso außer Kraft setzen könne wie
die Gesetze von Zeit und Raum ; sonst kämen sie nicht „mit Leib und Seele
in den Himmel".
Wir erkennen aus den wenigen genannten Beispielen, daß die katho-
lische Kirche ihren anmaßenden Anspruch auf das Monopol der absoluten
Wahrheit nach wie vor aufrechterhält. Jeder vernünftige Mensch wird die-
sen Anspruch zurückweisen. Er wäre auch dann unannehmbar, wenn er
sich auf die religiöse Sphäre beschränkte. Aber das ist nicht der Fall: Die
katholische Kirche versucht, unmittelbar oder mittelbar, ihre Doktrin auf
Gebiete auszudehnen, die nichts mit Religion zu tun haben. Denken wir nur
an das berühmte Beispiel Galileis. Jahrzehntelang hat Galileis wissen-
schaftliche Entdeckung, daß sich die Erde um die eigene Achse dreht und
gleichzeitig die Sonne umkreist, die Gemüter erregt. Der mächtigste und
erbittertste Gegner dieser Entdeckung war die katholische Kirche. Sie
erklärte, daß diese These mit der Wahrheit nicht zu vereinbaren sei. Die
Kongregation für den Index dekretierte im März 1616 unter unmittelbarer
Leitung des Papstes, daß die Lehre von der Doppelbewegung der Erde falsch
sei und im Widerspruch zur Schöpfungsgeschichte stehe.
Galilei übergab trotz der Verdammung seiner These durch die Kirche im
Jahre 1 632 sein Buch Dialogo der Öffentlichkeit. Im Jahr darauf wurde es
mit folgender Begründung auf den Index gesetzt:
„Doch Du, Galilei, Sohn des verstorbenen Vincenzo Galilei ans Florenz, wurdest 1615
vor diesem Heiligen Offizium beschuldigt, jene falsche Lehre für wahr zu halten, die von
vielen gelehrt wird, daß die Sonne sich unbeweglich im Zentrum der Welt befinde und
daß die Erde sich bewege, und zwar in zwiefacher Weise ; gleichfalls wurdest Du beschul-
digt, Deine Schüler in dieser falschen Lehre unterrichtet und die Einwände, die Dir
ständig aus der Heiligen Schrift vorgehalten wurden, abgetan zu haben, indem Du besagte
Stellen der Schrift auf Deine Weise auslegtest.
47
Dieses Heilige Tribunal erklärt daher, von dem Wunsche geleitet, der Unordnung
und dem Unglück, das sonst zum Schaden des heiligen Glaubens andauern und anwachsen
würde, zu wehren . . .
Die Behauptung, daß die Sonne Mittelpunkt der Welt sei und unbeweglich auf ihrem
Platze stehe, ist philosophisch absurd, falsch und formell häretisch, weil sie der Heiligen
Schrift widerspricht.
Die Behauptung, daß die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt und auch nicht unbe-
weglich sei, sondern sich in zwiefacher Weise bewege, ist ebenfalls philosophisch absurd
und falsch und, theologisch gesehen, mindestens ein Glaubensirrtum."
Galilei mußte auf den Knien widerrufen und erklären, daß seine Lehre
von der Erdbewegung falsch sei. Aber die katholische Kirche gab sich damit
nicht zufrieden, sondern tat auch alle Bücher in Acht und Bann, die ge-
schriebenen und die noch nicht geschriebenen, docentes mobilitatem terrae
et immobilitatem solis, die die Bewegung der Erde und den Stillstand der
Sonne lehren.
Durch dieses Verdikt wurden alle wissenschaftlichen Bücher über Astro-
nomie, verfaßt von Riesen der Wissenschaft wie Kopernikus, Kepler, Galilei
und anderen, bei Strafe der ewigen Verdammnis in der kommenden und der
Einkerkerung in dieser Welt verboten. Erst 1822 hob die katholische Kirche
dieses Verbot auf.
Wir haben hier nicht über den Geist des Index und den Fall Galilei ge-
sprochen, um die katholische Kirche zu verunglimpfen, sondern um ihre
Einmischung in Gebiete nachzuweisen, die eng mit dem geistigen und
materiellen Fortschritt der Menschheit verknüpft sind. Der fortwährende
Kampf der katholischen Kirche gegen alle fortschrittlichen Bestrebungen
der Menschheit, früher gegen Säkularismus, Liberalismus und Demokratie,
heute vor allem gegen den Kommunismus, beweist, daß sich die Kirche
der Zeit nicht anpassen will. Da sie sich ständig in Angelegenheiten
einmischt, die mit Religion nichts zu tun haben, hat sie eigentlich keinerlei
Anlaß, sich über jene zu erregen, die ihre Auffassungen nicht teilen, sie
kritisieren und ihre anmaßenden Ansprüche bestreiten. Die moderne Gesell-
schaft hat das unbestreitbare Recht, selbständig Forderungen zu erheben,
ohne Rücksicht auf die religiöse Autorität der katholischen oder irgendeiner
anderen Kirche.
Wird die katholische Kirche einmal den reaktionären Geist bereuen, mit
dem sie allen auf eine glücklichere Welt gerichteten moralischen, sozialen,
politischen und wirtschaftlichen Ideen und Systemen begegnet? Werden
künftige Generationen nicht, wenn sie zurückblicken auf unsere Zeit, die
Kirche wegen ihrer fanatischen Feindseligkeit gegen die moderne Gesell-
schaft und den Sozialismus ebenso verurteilen, wie wir es tun, wenn wir die
Zeit Galileis betrachten?
48
Neben dem reaktionären und - man kann mit gutem Recht sagen — tyran-
nischen Geist des Index und des Heiligen Offiziums verdient ein weiteres
Merkmal des Katholizismus unsere Aufmerksamkeit. Gemeint sind die uner-
müdlichen Anstrengungen, die die katholische Kirche unternimmt, um sich
vor anderen Anschauungen zu schützen und ihr Ziel — die Bekehrung der
ganzen Menschheit zum Katholizismus — zu erreichen. Die Leitung dieses
umfassenden Aufgabengebietes liegt in Händen einer Kongregation, die das
älteste, mächtigste und gewaltigste Informationsministerium und Propa-
gandabüro darstellt, das je existiert hat. Die Propagandaorganisationen
anderer Staaten— einschließlich der faschistischen— sind, daran gemessen, ein
Kinderspielzeug. Diese Kongregation trägt den Namen Propaganda Fide
(für die Propagierung des Glaubens). Sie ist nicht nur eine der wichtigsten
Kongregationen der katholischen Kirche, sondern zugleich ein wichtiges
Glied des Vatikanstaates, mit dessen Hilfe er ständigen Kontakt zu den ent-
ferntesten Winkeln der Erde unterhält.
Die Kongregation wird von einem Kardinal geleitet; sein Einfluß ist so
groß, daß man ihn gewöhnlich den „Roten Papst" nennt. Die Kongregation
wurde 1622 von Gregor XV. zu dem erklärten Zweck geschaffen, die ganze
Welt zum Katholizismus zu bekehren. Aber ihre Tätigkeit beschränkt sich
durchaus nicht auf nichtchristliche Länder, sondern erstreckt sich auch auf
protestantische, häretische und schismatische Staaten, zum Beispiel die
Balkanstaaten.
Die Propaganda Fide hat die Welt in Hunderte sogenannter „geistiger
Provinzen" unterteilt, die unmittelbar ihrer Jurisdiktion unterstehen und
ihrerseits wieder in Distrikte, Präfekturen und Vikariate aufgegliedert
sind. Die Kongregation kontrolliert Tausende von Studienanstalten, Semi-
naren und ähnlichen Institutionen in der ganzen Welt. Das wichtigste von
ihnen ist das Urban -Kollegium in Bom, das Missionare aller Völker aus-
bildet und unmittelbar der Propaganda Fide angeschlossen ist. Bis zum
Jahre 1908 gehörten auch Großbritannien, die Niederlande, Kanada, die
USA und andere protestantische Länder zum Bereich dieser Kongregation.
Jetzt haben diese Länder eigene Hierarchien, die unmittelbar dem Papst
unterstellt sind.
Der Kongregation ist ferner die Vereinigung zur Propagierung des
Glaubens angeschlossen, eine weltweite Gesellschaft mit dem Zentrum in
Rom, deren Aufgabe es ist, die Evangelisation der Welt durch gemeinsame
Gebete der Gläubigen und durch die Sammlung von Missionsgeldern zu
fördern.
Das Motto der Propaganda Fide und der gesamten katholischen Kirche
lautet: „Kein Land ist völlig christlich. Katholiken müssen im Weltmaßstab
träumen, planen und handeln." So bestehen in den christlichen Ländern,
4 M359
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seien sie katholisch, protestantisch oder orthodox, eine ganze Reihe weit-
verzweigter Kollegien und Studienanstalten, und in den nichtchristlichen
Ländern wird ein gewaltiges Netz von Institutionen aller Art errichtet,
deren Aufgabe es ist, die Nichtchristen zum Katholizismus zu bekehren.
Die katholische Kirche war niemals entschlossener als heute, ihre welt-
weiten Ziele zu erreichen. Gewiß verfolgt sie diese Ziele seit langem, aber
sie hat in letzter Zeit ihre Maschinerie reorganisiert und ihre Anstren-
gungen, den Katholizismus sowohl in den westlichen Ländern als auch in
allen anderen Teilen der Welt zu verbreiten, verdoppelt. Allein in Rom
befinden sich unter der unmittelbaren Kontrolle des Vatikans folgende
nationale Hauptkollegien, das heißt zentrale Seminare zur Ausbildung von
Geistlichen für die betreffenden Länder (in Klammern das Gründungs jähr):
USA (1859), Bedja (Britisch) (1898), Belgien (1844), Böhmen (1892),
Brasilien (1929), Kanada (1888), Tschechoslowakei (1929), England (1579),
Frankreich (1855), Deutschland und Ungarn (1552), Irland (1618),
Jugoslawien (14. Jahrhundert und 1901), Lombardei (1854), Polen (1866),
Portugal (1900), Schottland (1600), Südamerika (1858), Spanien (1893).
Außerdem wurden in den letzten Jahren Anstalten zur Ausbildung von
Chinesen, Arabern, Indern, Negern usw. gegründet.
Die Ostkirchen wurden 1917 der Jurisdiktion der Propaganda Fide ent-
zogen. Da der Vatikan den orthodoxen und schismatischen Ländern
besondere Aufmerksamkeit widmet und hofft, die Kirchen dieser Länder
eines Tages mit Rom zu vereinen, schuf sie hierfür 1917 eine Abteilung
beim Vatikan, die getrennt von der Propaganda Fide arbeitet, aber das
gleiche Ziel verfolgt.
Aus politischen Gründen pflegt die katholische Kirche die Riten der
Nationen und Völker. Diesem Zweck dienen zahlreiche Institutionen. In
Rom gibt es eine Reihe von Seminaren, deren Aufgabe es ist, römisch-katho-
lische Geistliche mit den verschiedenen orientalischen Bräuchen vertraut zu
machen. Für abessinische Riten wurde 1919 ein solches Seminar geschaffen,
für armenische Riten 1883, für griechische Riten 1577, für maronitische
Riten 1584 und 1891, für russische Riten 1927, für ruthenische Riten 1897,
für rumänische Riten 1930. Außerdem gibt es zahlreiche besondere Kolle-
gien der verschiedenen katholischen Orden.
Die Kongregation Propaganda Fide strebt danach, den Katholizismus in
den nichtkatholischen und in den nichtchristlichen Ländern zu fördern und
zu stärken, sieht aber ihre Hauptaufgabe darin, heidnische Länder unter
ihre Gewalt zu bekommen. Seit Jahrhunderten werden in allen Teilen der
Welt Missionen errichtet. Ursprünglich waren die Missionare Europäer,
später gesellten sich Amerikaner hinzu. Gegenwärtig zielt die Politik des
Vatikans darauf ab, einheimische Geistliche heranzubilden. In dieser
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Richtung hat die Kongregation bedeutende Fortschritte gemacht, vor allem
in den letzten zwanzig Jahren. In einer Reihe nichtchristlicher Länder hat
sie bereits eine eingeborene Hierarchie geschaffen. 1925 wurde der erste
farbige Bischof, Monsignore Roche aus Indien, in Rom mit einem feier-
lichen Zeremoniell geweiht. Ihm folgten 1927 die ersten sieben chinesischen
Bischöfe, später japanische und andere.
In einigen Ländern ist die katholische Kirche rasch zu großem Einfluß
gelangt. Auf Madagaskar zum Beispiel hat sie bereits 650 000 Mitglieder,
mehr als ein Sechstel der Bevölkerung. In China wurden 1930 mehr
als 50 000 Chinesen zum Katholizismus bekehrt. Der Propaganda Fide
unterstanden 1930 mehr als 11 000 Missionsprediger, von denen 3000 Ein-
heimische waren; hinzu kamen 15 000 Mönche (davon 600 Einheimische)
und 30000 Nonnen (davon 11 000) Einheimische). Zu derselben Zeit belief
sich das Missionsbudget auf mehr als 30 Millionen Dollar. Seitdem hat sich
diese Summe erheblich vergrößert. Zum Vergleich sei angeführt, daß die
protestantischen Missionen 60 Millionen Dollar benötigten.
Der größte Teil der Gelder kommt aus Amerika. Die amerikanischen
Missionare haben sich auf den Fernen Osten, vor allem auf China,
spezialisiert. Sie haben engeren Kontakt mit der Bevölkerung als ihre
europäischen Kollegen und daher auch mehr Konvertiten. Deshalb zieht die
katholische Kirche in letzter Zeit amerikanische Missionare belgischen,
französischen oder deutschen Missionaren vor.
Die katholische Missionstätigkeit breitet sich auch heute noch immer
weiter aus. 1945 standen der Mission zur Verfügung: 400 Priesterseminare
mit insgesamt 16 000 einheimischen Seminaristen, 22 000 Geistliche,
9 000 Mönche, 53 000 Nonnen, 93 000 einheimische Katecheten, 33 000
einheimische Täufer, 76 000 Schulen mit einer Gesamtzahl von 5 Millionen
Schülern, 2000 Waisenhäuser mit 150 000 Kindern, 77000 Kirchen und
Kapellen, 1000 Hospitale mit insgesamt 75000 Betten, 3000 Polikliniken
zur Betreuung von etwa 30 Millionen Menschen und Hunderte von Heimen
für Alte und Aussätzige.
In den Missionsgebieten lebten 1945 mehr als 25 Millionen nicht -weiße
Katholiken. Um diese verstreuten Millionen untereinander zu verbinden und
sie in engem Kontakt mit dem Vatikan zu halten, kontrolliert die Propaganda
Fide Tausende kleiner und großer, in Hunderten von Sprachen erscheinen-
der Zeitungen, Magazine, Flugschriften usw. Eine besondere Nachrichten-
agentur, die Agentur „Fides", wurde ins Leben gerufen, um Nachrichten
aus der Missionsarbeit zu sammeln und in der ganzen Welt zu verbreiten.
1925 veranstaltete der Papst in Rom eine große Missionsausstellung. Sie
wurde eine ständige Einrichtung des Vatikans und fand weite Beachtung in
der Öffentlichkeit. In der Enzyklika Kerum Novarum legte Papst Pius XI.
51
im Februar 1926 die Richtlinien für das weitere Vordringen des Katholi-
zismus in allen Ländern fest; bekanntlich hat sich die katholische Kirche das
Ziel gesetzt, die Bevölkerung des ganzen Erdballs zum Katholizismus zu
bekehren. Bei der Verfolgung dieses Zieles kennt die katholische Kirche
keine Kompromisse und nimmt weder auf andere Religionen noch auf andere
christliche Bekenntnisse Rücksicht. Zur Charakterisierung dieser Einstel-
lung sei ein an sich unbedeutendes, aber typisches Beispiel angeführt: Die
britische Regierung hatte die Konfessionen, die in Afrika Mission betreiben,
aufgefordert, ihre Tätigkeit untereinander abzustimmen und ihre Be-
mühungen auf verschiedene Gebiete zu verteilen, um Differenzen zu ver-
meiden. Die protestantischen Konfessionen erklärten sich mit dem Vor-
schlag einverstanden, nur die katholische Kirche verweigerte ihre Zustim-
mung. Sie begründete ihre Ablehnung damit, daß sie ihre Tätigkeit nicht
auf einen Teil Afrikas, wie groß er auch sei, beschränken könne, da es ihre
Bestimmung sei, den ganzen Kontinent zum katholischen Glauben zu be-
kehren. Daß dies keine leeren Worte waren, geht allein aus der Tatsache
hervor, daß sich die Anzahl der Katholiken in Afrika zwischen 1930 und 1950
verdreifacht hat. Die katholische Kirche gewinnt jährlich eine Million
Konvertiten. Im gleichen Zeitraum, in dem die Erdbevölkerung um
600 Millionen Menschen, also um ein Sechstel zunahm, wuchs die Anzahl
der katholischen Gläubigen um ein Drittel (120 Millionen), so daß von
siebzehn Menschen je einer zum katholischen Glauben übertrat. Keine
andere Religion hat solche Zahlen aufzuweisen.
Das ist der Geist, der auch heute, im 20. Jahrhundert, das Wirken der
katholischen Missionen bestimmt. Die katholische Kirche ist darauf aus, sich
nicht nur einzelne Länder und Erdteile, sondern den ganzen Erdball Unter-
tan zu machen.
Kapitel v Religiöse Orden
Die stillen Armeen des Vatikans — Religiöse, halbreligiöse und Laienorden — Die
Jesuiten, die geistigen Sturmtruppen der päpstlichen Macht - Warum die Gesellschaft
Jesu gegründet wurde - Höchstes Ziel der Jesuiten: die Erweiterung der politischen
Macht des Papstes - Moderne halbreligiöse Orden — Die Katholische Aktion»
Außer dem verzweigten religiösen Verwaltungsapparat gibt es in den
christlichen und nichtchristlichen Ländern eine weitere große religiöse
Maschinerie. Sie ist längst nicht so bekannt, aber von größter Bedeutung
für jeden, der sich Klarheit über den zunehmenden geistigen und politischen
Einfluß der katholischen Kirche verschaffen will. Gemeint sind die religiösen
und halbreligiösen Orden, die dem Heiligen Stuhl unterstehen. Sie haben
vor allem die Aufgabe, im Machtbereich der katholischen Kirche in jeden
Zweig des gesellschaftlichen Lebens einzudringen und ihn im Sinne des
Katholizismus zu beeinflussen.
Einige dieser religiösen Orden widmen sich ausschließlich der religiösen
Kontemplation, andere beschäftigen sich mit der Jugenderziehung, mit
karitativen Aufgaben und mit der Krankenpflege; eine dritte Gruppe be-
faßt sich vor allem mit sozialen Problemen. Sie verfügen nicht nur über
Klöster und Konvente, sondern haben auch Schulen, Missionen, Zeitungen
und Besitzungen in jedem christlichen Land und darüber hinaus auf dem
ganzen Erdball. Viele Männer- und Frauenorden arbeiten nur für die
Mission. Alle diese Orden bilden eine stille, aber geschäftige und wirksame
Armee der katholischen Kirche. Hier ist nicht der Platz, im einzelnen die
Tätigkeit all dieser Orden zu untersuchen. Wir werden lediglich einige der
wesentlichsten Merkmale des Jesuitenordens behandelnder unter den vielen
Orden — den Franziskanern, Dominikanern, Augustinern usw. — der wich-
tigste ist.
Die Jesuiten haben den Auftrag, überall die Autorität des Papstes zu
stärken. Ihr Orden wurde Anfang des 16. Jahrhunderts als Kampftrupp zur
Verteidigung der absoluten Theokratie des Papstes geschaffen. Sein Grün-
der, Ignatius von Loyola, ein ehemaliger spanischer Ritter, übertrug seinen
militärischen Geist auf den neuen Orden und nannte ihn „Gesellschaft
Jesu", wie militärische Verbände der damaligen Zeit den Namen ihres
Generals annahmen. Unter den Gelübden des Ordens ist das Gelübde des
Gehorsams das wichtigste: absoluter, widerspruchsloser, blinder, unkritischer
Gehorsam gegenüber den Befehlen der Gesellschaft, völliges Zurücktreten
des eigenen Denkens und Urteilens und damit bedingungsloser Verzicht auf
53
die persönliche Freiheit. In einem Brief an seine Gefolgsleute in Coimbra
schrieb Loyola, daß der Ordensgeneral, unabhängig von seiner persönlichen
Weisheit, Frömmigkeit oder Verschwiegenheit, die Stelle Gottes einnehme ;
daß jeder Gehorsam, der nicht durch innere Zurückhaltung oder äußere
Handlungen den Willen des Oberen zum eigenen Willen mache, schlaff und
unzureichend sei; daß jedes Überschreiten eines Befehls, selbst wenn es, ab-
strakt gesehen, aus guten und lobenswerten Gründen geschehe, Ungehorsam
darstelle; daß die „Opferung des Intellekts" der dritte und höchste Grad
des Gehorsams und Gott wohlgefällig sei. In solchen Fällen ordnet also der
Jesuit nicht nur seinen Willen dem des Vorgesetzten unter, sondern er denkt
auch, was dieser denkt. Er unterwirft sich damit, soweit es seiner Willens-
kraft nur möglich ist, dem Urteil seiner Oberen.*
Das Gelübde der Jesuiten lautet:
„Ich verspreche dem allmächtigen Gott, vor seiner jungfräulichen Mutter und den
ganzen himmlischen Heerscharen, und allen, die dabeistehen; sowie dir, ehrwürdiger
Vater General der Gesellschaft Jesu, der du Gottes Stelle einnimmst, und deinen Nach-
folgern ständige Armut, Barmherzigkeit und Gehorsam; in Übereinstimmung damit,
widme ich meine besondere Aufmerksamkeit der Erziehung der Knaben im Sinn der
Gebote, die in den apostolischen Schriften der Gesellschaft Jesu und in deren Konstitu-
tion niedergelegt sind."
In einer Bittschrift, die eine kleine Gruppe von ersten Jesuiten dem Papst
vortrug, als es um die Bestimmungen zur Wahl des Ordensgenerals ging,
hieß es:
„Der General soll allen Ämtern und Ehren zu seinem eigenen Vergnügen entsagen
und mit der Hilfe und dem Rat der Mitglieder die Bestimmungen der Konstitution
festlegen ; aber er allein soll in jedem Fall die Kommando gewalt haben und soll von allen
so geehrt werden, als wäre Christus selbst in seiner Person anwesend."
„Denn an die Stelle jedes anderen Verhältnisses, jedes Antriebes, den die Welt zur
Tätigkeit anbieten könnte, tritt in dieser Gesellschaft der Gehorsam: Gehorsam an sich,
ohne alle Rücksicht, worauf er sich erstreckt . . . Mit völliger Verleugnung alles eigenen
Urteils, in blinder Unterwürfigkeit soll man sich von seinem Oberen regieren lassen,
wie ein lebloses Ding, wie der Stab, der demjenigen, der ihn in seinen Händen hat, auf
jede beliebige Weise dient."**
Auf diese Weise wurde der General ein absoluter Diktator, nur ver-
gleichbar den Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Die Macht, die ihm lebens-
länglich zuteil wird, erlaubt es ihm, Tausende von Männern, die ihm wider-
spruchslosen Gehorsam schulden, zur Vollstreckung seines Willens ein-
zusetzen. Es gab und gibt niemanden in der Welt, dem er über den Gebrauch
dieser Macht rechenschaftspflichtig wäre.
* H. G. Wells, Crux Ansata.
** Ranke, Geschichte der Päpste, Vollständige Ausgabe, Wien, 1954, Seite 139/140.
54
„. . . (ihm) ist alle Gewalt übertragen, die zur Regierung der Gesellschaft nützlich
sein mochte. Er hat Assistenten nach den verschiedenen Provinzen, die aber keine ande-
ren Geschäfte verhandeln als die, welche er ihnen auftragen wird. Nach Gutdünken er-
nennt er die Vorsteher der Provinzen, Kollegien und Häuser, nimmt auf und entläßt, dis-
pensiert und straft : Er hat eine Art von päpstlicher Gewalt im kleinen."*
So wurde die Gesellschaf t Jesu eine Theokratie innerhalb einer Theokratie
und ist es noch heute. Sie braucht eine straffe Organisation, um das Ziel zu
erreichen, das sie sich gesteckt hat: Stärkung der kirchlichen Macht durch
Jugenderziehung, Predigten und Missionsarbeit.
Die Jesuiten begannen ihre Arbeit damit, daß sie in verschiedenen Län-
dern Schulen gründeten. Als Ignatius von Loyola starb, gab es bereits zehn
Schulen in Kastilien, je fünf in Aragonien und Andalusien und zahlreiche
Besitzungen in Portugal. Über die portugiesischen Kolonien herrschten sie
fast vollständig. Mitglieder ihres Ordens saßen in Brasilien, in Ostindien
und in den Ländern zwischen Goa und Japan. Nach Abessinien wurde ein
Provinziale entsandt. Außerdem hatten sie Besitzungen und Schulen in
Italien, Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern.
Seitdem arbeiteten die Jesuiten jahrhundertelang in allen Ländern an
der Festigung der religiösen und politischen Macht der katholischen Kirche
und erreichten dabei einen außergewöhnlichen Grad von Vollkommenheit.
Vor allem entwickelte sich ihre Fähigkeit, junge Männer für hohe Ämter
in der katholischen Hierarchie oder in weltlichen Regierungen auszubilden.
Ein jesuitischer Historiker (Orlandini) schrieb einmal:
„Die heute im Purpur der Hierarchie erstrahlen, saßen unlängst noch auf unseren
Schulbänken; andere sind in den Regierungen von Staaten und Städten tätig."
Die fortwährende Heranbildung einer geistlichen und weltlichen Herr-
scherschicht verleitete die Jesuiten, sich ständig in politische Angelegen-
heiten einzumischen. Viele Herrscher und Regierungen, einschließlich der
devotesten katholischen Könige und Länder, verfolgten daher immer wieder
die Jesuiten, wiesen sie aus oder taten sie in Acht und Bann. Sogar der
Papst war gezwungen, gegen die Jesuiten vorzugehen, weil der Orden sich
dauernd durch politische Intrigen in die Angelegenheiten vieler europäischer
Länder und der katholischen Kirche selbst einmischte.
So löste im Jahre 1775 Papst Clemens XIV. den Jesuitenorden auf, nach-
dem er sich jahrelang die Beschwerden der europäischen Souveräne und
Regierungen über die Einmischung der Jesuiten in öffentliche Angelegen-
heiten und über die „Störung des öffentlichen Friedens" hatte anhören
müssen.
* Ranke, ebenda, Seite 140.
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1814 wurde der Orden bereits wieder zugelassen. Seitdem breitete er sich
weiter über die ganze Erde aus. In einer Reihe von Ländern hat er nach wie
vor eine Art Erziehungsmonopol und verfügt über hervorragende Schulen
und Hochschulen. Dort findet man die Jesuiten überall: hinter den Kulissen
der höheren Lehranstalten, der Presse, des Rundfunks, der politischen
Parteien und der Regierungen. In den weiteren Kapiteln werden wir noch
reichlich Gelegenheit haben, dies festzustellen.
Hat sich inzwischen an dem Geist, der Ignatius von Loyola bei der Grün-
dung des Ordens bewegte, etwas geändert? Ist die unmenschliche Disziplin
des Ordens lockerer geworden? Nein, beide sind heute so wie damals. Die
Jesuiten sind nach wie vor beharrlich und unbeugsam in ihrem Streben, die
katholische Kirche zu stärken. Ihre erstaunlichen Fähigkeiten und ihre
mächtige Organisation in der ganzen Welt sind konsequenter denn je darauf
gerichtet, dieses Ziel zu erreichen. Sie haben, ebenso wie die katholische
Kirche selbst und viele religiöse Orden, die Erde in Provinzen eingeteilt.
Jede Provinz wird von einem Provinzialen geleitet, der unmittelbar dem
Höchsten General untersteht. Der Höchste General hat seinen Sitz in Rom
und daher ständig engen Kontakt mit dem Papst. Das ist notwendig und
verständlich, da die Gesellschaft Jesu ja ausdrücklich geschaffen worden ist,
die religiöse und politische Macht des Papsttums zu verteidigen und zu
stärken. Das Papsttum stützt sich auf eine gewaltige Armee, die sich aus
der gesamten Hierarchie, den religiösen Orden und der Masse der Gläubigen
zusammensetzt; aber die Jesuiten sind seine fanatischsten und klügsten
Streiter, sie sind in der Tat die Sturmtruppen des Papstes.
Jeder Jesuit nimmt außer dem Gelübde des Gehorsams gegenüber den
Oberen und den Gelübden der Armut und der Keuschheit ein noch wich-
tigeres Gelübde auf sich. Es lautet:
„. . . auszuführen, was immer der Papst von mir verlangen sollte, in alle Länder zu
gehen, unter Türken, Heiden oder Häretiker, wo immer er mich auch hinsenden mag,
ohne Widerstand oder Verzögerung, ohne Fragen, Bedingungen oder Belohnung."
Die Gesellschaft Jesu ist der mächtigste aller Orden. Seine Mitglieder
setzen sich unablässig und fanatisch für die Erweiterung des päpstlichen
Einflusses unter allen, auch den schwierigsten Umständen und an den ein-
flußreichsten Stellen ein. Der Orden ist eine dynamische Maschinerie in den
Händen des Papstes, eine machtvolle Theokratie zur Stärkung der noch
machtvolleren Theokratie der katholischen Kirche.
Um ihren Einfluß auf die Gläubigen nicht zu verlieren, ist die katho-
lische Kirche gezwungen, sich in ihren Organisationsformen den modernen
Verhältnissen anzupassen. Allein mit den Jesuiten und den zahlreichen
anderen rein religiösen Orden würde sie dieser Aufgabe nicht gerecht. Sie
56
hat daher im vergangenen Jahrhundert und in der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts eine Reihe von Organisationen ins Leben gerufen, die sich
vor allem mit Erziehungsfragen und sozialer Arbeit beschäftigen. Wir wer-
den hier nur auf zwei von ihnen eingehen.
Die eine dieser Organisationen ist die der Salesianer - eine Gesellschaft,
die größtenteils aus sogenannten Laienpriestern besteht. Sie wurde im
vorigen Jahrhundert gegründet, befaßt sich mit der Leitung von Schulen
und kümmert sich um das physische und geistige Wohl von Studenten und
Arbeitern. Wir finden sie in vielen Ländern Europas und vor allem in Süd-
amerika. Eine andere typische Organisation dieser Art ist die Gesellschaft
des heiligen Paulus. Ihre Mitglieder, in der Mehrzahl Laien, tragen keiner-
lei äußere Zeichen. Sie hat, ähnlich ihrem älteren jesuitischen Gegenstück,
vor allem eine politische Aufgabe, nämlich gegen sozialistische und kom-
munistische Einflüsse vor allem im sozialen Bereich und im Schulwesen zu
kämpfen. Die Gesellschaft wurde 1920 vom Erzbischof von Mailand ge-
gründet. Ihr können Priester und Laien — auch Frauen — angehören. Die
Mitglieder der Gesellschaft des heiligen Paulus leben nicht gemeinsam,
treffen sich aber regelmäßig zu Beratungen. Die ihr angehörenden Priester
müssen ein Examen in kanonischem Recht, in Theologie oder in einer
anderen wissenschaftlichen Disziplin abgelegt haben. Von den Laienmit-
gliedern wird ebenfalls Hochschulbildung verlangt, andernfalls müssen sie
sich beim Eintritt in die Gesellschaft bestimmten Prüfungen unterziehen.
Beim Eintritt dürfen die Mitglieder nicht älter als dreißig Jahre sein. Sie
nehmen einfache Gelübde auf sich, die alljährlich erneuert werden, und
werden angehalten, Studienbekanntschaften und freundschaftliche Bin-
dungen zu pflegen und in möglichst engem Kontakt mit der Welt zu stehen.
Die Gesellschaft des heiligen Paulus unterhält Krankenhäuser, besitzt
Druckereien, gibt eine Tageszeitung heraus, hat Missionen und Schulen
und - eine Besonderheit - ein technisches Ausbildungszentrum. Außerhalb
Italiens hat sie in Jerusalem, Buenos Aires und anderen größeren Städten
Fuß gefaßt. In ihren Bildungsstätten erzieht sie vor allem junge Arbeiter
im Geiste der katholischen Soziallehre und versucht auf diese Weise der
sozialistischen Ideologie entgegenzuwirken. Dem gleichen Zweck dient ein
sich ständig erweiterndes Netz von Ausbildungsstätten, Erholungsheimen,
Bibliotheken, Sportvereinen usw.
Neben den religiösen und halbreligiösen Orden verfügt der Vatikan über
eine Reihe von Organisationen, die entweder rein religiösen oder rein
sozialen Charakter haben und nicht selten mehrere Millionen Mitglieder
zählen.
Eine von ihnen ist das Apostolat des Gebetes, die Vereinigung vom
Heiligen Herzen. Seit sie besteht, gibt jeder Papst ihr seinen Segen. Papst
57
Benedikt XV. erklärte, alle Katholiken sollten ihr angehören. Die Haupt-
aufgabe dieser Vereinigung ist, möglichst alle Katholiken in gemeinsamen
und privaten Gebeten zu vereinen, um die Hilfe und den Schutz Gottes für
die katholische Kirche, den Papst, die Ausbreitung des Katholizismus in der
Welt und für einen universellen Frieden (worunter natürlich ein katho-
lischer Friede zu verstehen ist) zu erbitten. Heute hat die Vereinigung mehr
als 30 Millionen Mitglieder. Ihre Zeitung „Sendbote des göttlichen Her-
zens" erscheint in vierzehn Sprachen.
In Großbritannien ist die Organisation „Schwert des Geistes" tätig, die
unmittelbar dem Kardinalerzbischof untersteht. Sie hat es sich zur Aufgabe
gemacht, katholische Anschauungen durch die Presse, durch Flugschriften
und Bücher und mit Hilfe kultureller und sozialer Einrichtungen zu ver-
breiten.
Neben den eben genannten Organisationen bestehen zahlreiche ausge-
sprochene Laienvereinigungen, die, oberflächlich gesehen, nichts mit dem
Vatikan zu tun haben und doch in sozialen, kulturellen und politischen
Fragen von den Instruktionen aus Rom oder von der örtlichen Geistlichkeit
abhängig sind. So gibt es in England das Nationalkomitee Katholischer
Frauen, die Katholische Frauenvereinigung, das Nationale Katholische
Jugendkomitee, die Katholische Gewerkschaftsvereinigung usw. Eine im
zweiten Weltkrieg entstandene kulturelle Bewegung nennt sich New Man
Association (Vereinigung des neuen Menschen). Solche Organisationen gibt
es in großer Auswahl in allen europäischen und amerikanischen Ländern.
In den USA ist die Vereinigung der Kolumbusritter (Knigkts of Columbus)
die einflußreichste und reichste.
Die wichtigste dieser Neugründungen wurde vom Papst selbst ins Leben
gerufen und bezieht auch ihre Instruktionen unmittelbar vom Vatikan. Sie
nennt sich „Katholische Aktion" oder „Katholische Gesellschaft". Ihre
Hauptaufgabe besteht darin, in der modernen Gesellschaft katholische Ideen
und Grundsätze auf dem Wege sozialer, kultureller und politischer Be-
mühungen zu verbreiten.
Die Katholische Aktion wurde vor allem gegründet, um der Kirche ein
Instrument in die Hand zu geben, das, weniger kompromittiert als die alten
katholischen Parteien, trotzdem fähig ist, das gesamte soziale und politische
Geschehen unablässig mit katholischen Ideen zu durchsetzen. Eine solche
Organisation vermag im sozialen und politischen Bereich unaufdringlich
zu wirken und Ziele zu erreichen, die von den alten katholischen Parteien
nicht verfochten werden konnten, weil sie auf Risiken und Verantwortlich-
keiten Rücksicht nehmen mußten.
In der Zeit zwischen den beiden Kriegen opferte Papst Pius XL im Hin-
blick auf diese Organisation viele katholische Parteien seinen politischen
58
Bestrebungen. Er schuf die Katholische Aktion als einheitliche Orga-
nisation, die die Geistlichkeit eng mit den Laien verbindet, und stattete sie
mit allen Mitteln zur öffentlichen Arbeit aus, um ihr zu ermöglichen -über
den Parteien stehend — , die religiösen Interessen, die katholische Erziehung,
die katholischen Prinzipien usw. zu verteidigen. Die Katholische Aktion,
erklärte der Papst, sei ihm so teuer wie sein Augapfel. Er brachte nicht nur
vielen Regierungen ihre Existenz zur Kenntnis, sondern bestand auch dar-
auf, daß das Wirken der Katholischen Aktion in allen Konkordaten diplo-
matisch anerkannt wurde.
Die Katholische Aktion ist auf allen Gebieten tätig, auf dem der Geistes-
arbeit ebenso wie auf dem der Handarbeit, auf sozialem ebenso wie auf
kulturellem und politischem. Sie ist so organisiert, daß die Außenarbeit im
wesentlichen von katholischen Laien geleistet wird, die sich in ständigem
Kontakt mit der Geistlichkeit befinden. Diese Verbindung mit der Geist-
lichkeit (also mittelbar mit dem Vatikan) ist eines der Hauptanliegen der
Katholischen Aktion:
„Die Geistlichkeit hat das Recht, Instruktionen zu erlassen und Direktiven zu er-
teilen. Die Katholische Aktion stellt all ihre Macht und all ihre Energien der Geistlichkeit
zur Verfügung. Daher fordert sie völligen Gehorsam gegenüber den Direktiven der
kirchlichen Autorität, da ja auch die weltliche Autorität von Gott stammt. Die Mitglieder
der Katholischen Aktion sollten auch weltlichen Behörden die ihnen zustehende Achtung
nicht versagen und deren legitime Vorschriften loyal und treulich erfüllen." (Papst
Pius XIL 9 September 1940)
Welche Ziele hat die Katholische Aktion?
„. . . in Ubereinstimmung mit der Kirche eine heilige und barmherzige soziale Tätig-
keit zu entfalten, das wahre katholische Leben zu beflügeln und, wo notwendig, wieder-
herzustellen, mit einem Wort, die Katholisierung oder Rekatholisierung der Welt."
Nach den Worten eines katholischen Geistlichen - Reverend R. A. Mac
Gowan, stellvertretender Direktor der Nationalen Katholischen Wohltätig-
keitskonferenz - befaßt sich die Katholische Aktion mit „Fragen auf dem
Gebiet der Gesetzgebung und der Wirtschaft, aber nur von ausgesprochenen
religiösen und moralischen Gesichtspunkten aus, und nicht so, wie politische
Parteien es tun".
Die offiziöse katholische Zeitung „Commonweal" (Gemeinwohl) formu-
liert die Ziele der Katholischen Aktion etwas offenherziger: „. . . das ganze
religiöse, moralische, soziale und wirtschaftliche Denken sowie die Vor-
gänge des täglichen Lebens katholischen Maßstäben anzupassen, um das
Königreich Christi zu vergrößern."
Es besteht kein Zweifel (und wird überdies auch in Erklärungen der
Kirche zugegeben), daß die Katholische Aktion als mächtigste und modernste
Waffe der katholischen Kirche dazu dient, die Gesellschaft nach katholischen
59
Grundsätzen zu formen. Wir haben es also hier mit dem klugen und tückischen
Versuch zu tun, religiösen Glauben und religiöse Organisationen unter Ver-
meidung des offenen politischen Kampfes zur Erreichung bestimmter
politischerZiele auszunutzen, die ihrerseits wieder der Verbreitung religiöser
Ideen dienen sollen.
So mischt sich die katholische Kirche mit Hilfe alter und neuer halb-
religiöser Organisationen und Laienvereinigungen in politische Angelegen-
heiten ein. Sie kann, wenn sie ehrlich ist, nicht leugnen, daß sie sich mit den
weltlichen Problemen der Menschen abgibt.
Wer nicht wahrhaben will, daß die katholische Kirche gezwungen ist,
sich in politische Angelegenheiten zu mischen, sollte sich die Worte der
Königin Katharina vor Augen halten, die einmal sagte, daß es zu gewissen
Zeiten unmöglich sei, eine Grenze zwischen dem Weltlichen und dem Geist-
lichen zu finden. Der katholische Bürger ist verpflichtet, sich mit politischen
Fragen zu befassen; Papst Pius XI., der Begründer der Katholischen
Aktion, schreibt es ihm ausdrücklich vor: „Derselbe Mensch handelt, ent-
sprechend seiner Aufgabe, einmal als Katholik und einmal als Staats-
bürger." Sein tägliches Handeln läßt sich nicht in zwei wasserdicht ver-
schlossene Behälter pressen. Ein amerikanischer katholischer Schriftssteiler
(Seldes) formulierte treffend:
„Der Geist der Religion ist eine lebendige Kraft, die man nicht auf Flaschen züchten
und mit säuberlichen Etiketten versehen kann . . . Schließlich ist klar, daß die Organisa-
tion der Katholischen Aktion den Rahmen für die gewaltigste Maschinerie universeller
Zentralisation abgibt, die man sich in unserer Zeit vorstellen kann."
Wenn der Leser gleichzeitig an all die anderen rein religiösen, halb-
religiösen oder Laiengesellschaften und Vereinigungen denkt, wird er be-
greifen, welch gewaltiger Apparat der katholischen Kirche zur Verfügung
steht, um alle Schichten der Gesellschaft zu durchdringen, die Lehren der
Kirche zu verbreiten und sich auf diese Weise in der modernen Welt Auto-
rität zu verschaffen.
Man kann diese Maschinerie technisch -administrativ durchaus mit dem
Apparat moderner weltlicher Regierungen vergleichen. Und doch hinkt die-
ser Vergleich, denn die Kongregationen und Ministerien der Kirche sind
das Resultat eines unermeßlichen und komplizierten Netzes spiritueller und
materieller Interessen, sie erkennen in ihrer Tätigkeit keine Grenzen an,
lenken ihre Aktionen in alle Kontinente und ordnen sich einem einzigen
Willen unter - dem des Papstes.
Obwohl alle Kongregationen ihre Ressorts haben, kann ihre Arbeit anders
aufgeteilt oder vereint werden, je nachdem, wie es die Pläne des Papstes
fordern.
60
Wie wir bereits gesehen haben, kann der Papst, im Gegensatz zu jedem
Premierminister, Präsidenten, König oder Diktator, einen unbegrenzten
Druck auf jeden Sektor des Vatikanapparates ausüben. Kein Diktator hat
jemals soviel Macht auf sich vereinigt wie der Papst. Es gibt keine Stelle,
die ihn kontrollieren könnte; er braucht niemandem über seine Taten
Rechenschaft abzulegen, nicht einmal dem Kardinalskollegium. Die ge-
samte komplizierte Maschinerie der katholischen Kirche, die bis in die
letzten Winkel der Erde reicht, steht diesem einen Mann uneingeschränkt
zur Verfügung — oder, genauer gesagt, zwei Männern: dem Papst und sei-
nem Staatssekretär.
Wir haben gesehen, wie die Regierung der katholischen Kirche arbeitet,
und wissen jetzt einiges über den ungeheuren Einfluß, den Kirche und
Vatikan auf vielen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, wo immer Katho-
liken tätig sind, ausüben. Nun wollen wir uns damit befassen, wie die Päpste
unserer Tage als Regenten der katholischen Kirche über die großen Fragen
denken, die unsere Welt seit fünfzig Jahren erschüttern. Wenn wir die
Grundsätze kennengelernt haben, von denen sich der Papst leiten läßt, wird
es uns leichter sein, die Politik des Vatikans und sein Verhalten zu den
brennenden Problemen zu beurteilen, die heute die Menschheit bewegen.
Denn es hängt allein von der Einstellung des Papstes ab, ob der Vatikan sich
mit der einen modernen Ideologie, mit der einen politischen Macht, mit der
einen Nation befreundet und die andere bekämpft und welche Wege auf
diese Weise die Politik des Vatikans in unserem Jahrhundert einschlägt.
Kapitel vi Die grundlegenden Ursachen der Welt-
unruhe,wie diekatholische Kirche sie sieht
Der Staat ignoriert die katholische Kirche - Alle Gewalt kommt von Gott und nicht
vom Volk - Soziale Ungerechtigkeiten - Der Abgrund zwischen Religion und modernen
Moralauffassungen - Die Mittel 9 mit denen die katholische Kirche die moderne Gesell-
schaft heilen will.
Die katholische Kirche versucht mit einer eigenen Theorie zu erklären,
weshalb die Welt an den Punkt gelangt ist, an dem sie sich heute
befindet; weshalb unsere Gesellschaft von sozialen und politischen Erschüt-
terungen heimgesucht wird; weshalb, kurz gesagt, die Menschheit eine
Krise durchlebt wie nie zuvor. Leider müssen wir uns darauf beschränken,
mit einigen Sätzen die Ansichten der drei letzten Päpste zu untersuchen. Es
wird uns hoffentlich trotzdem gelingen, klarzustellen, welche Ziele diese
Päpste erstrebten. Dabei werden wir auch die grundsätzliche Haltung der
katholischen Kirche zu den Problemen unseres Jahrhunderts erkennen.
Seit der Zeit Leos XIII. hat die katholische Kirche durch eine Reihe von
Erklärungen bewiesen, daß sie eine konsequente Stellung zu allem bezieht,
was sie als. ihren Lehren widersprechend ansieht. Diese allgemeinen Ge-
sichtspunkte sind das Fundament ihrer Politik und bestimmen ihr Heran-
gehen an jedes besondere Problem. Eine nähere Betrachtung verdienen vor
allem die Antrittsenzykliken der drei Päpste, die in dieser kritischen Zeit
Lenker der katholischen Kirche und daher mehr als jeder andere in der
Lage waren, die Kirche und folglich den Vatikan mit dem Geist dieser De-
klarationen zu erfüllen. Jeder der drei Päpste entwickelte in seiner Antritts -
enzyklika die allgemeinen Prinzipien, die er sich als Oberhaupt der Kirche
zum Programm gemacht hatte, und schlug gleichzeitig die Mittel vor, die
seiner Ansicht nach die Übel der modernen Gesellschaft heilen konnten.
Leo XIII. war der erste Papst, der sich mit den sozialen und politischen
Problemen befassen mußte, die für unser Jahrhundert charakteristisch sind.
Er kämpfte, obwohl er in mancher Hinsicht sehr liberal gesinnt war, sein
ganzes Leben lang rastlos gegen den Säkularismus, gegen diese „Geißel des
Jahrhunderts", wie er sich ausdrückte. Hauptziel des Säkularismus war,
Kirche und Staat strikt voneinander zu trennen und die Religion von allen
nicht reinreligiösen Angelegenheiten fernzuhalten. Die Deklarationen, die
Leo XIII. herausgab, sind, selbst wenn sie lediglich allgemeine Grundsätze
behandeln, sehr bemerkenswert. Sie dienten auch seinen Nachfolgern als
Richtschnur und bestimmten daher wesentlich die Politik des Vatikans im
20. Jahrhundert.
62
Papst Leo XIII. legte seine Gedanken über die katholische Kirche und
die Gesellschaft in seiner ersten Verlautbarung, der Enzyklika Inscrutabili
vom 21. April 1878, nieder. In ihr zeichnete er ein sorgfältiges Bild der
damaligen Weltlage und befaßte sich dann mit den Folgen, die sich in der
Praxis aus dem Prinzip des Säkularstaates ergeben hätten. Nicht nur die
Gesellschaft, sondern auch der Staat und das Individuum seien durch das
Prinzip des Säkularstaates bedroht, sagte Leo XIII. Die neumodischen
Lehren -Säkularismus und Liberalismus -hätten die fundamentalen Wahr-
heiten, auf denen die Gesellschaft beruhe, gestürzt und die Herzen der
Individuen mit einer allgemeinen Krankheit infiziert. Die Menschen seien
dadurch jeder Autorität überdrüssig geworden und stritten sich von Tag zu
Tag mehr über politische und soziale Probleme. Das führe zwangsläufig zu
Revolutionen.
Die neuen, vor allem gegen das Christentum und die katholische Kirche
gerichteten Theorien seien schuld, daß es zu Handlungen gegen die Auto-
rität der katholischen Kirche gekommen sei. Eine solche Handlung sei in
einer Reihe von Ländern der Erlaß von Gesetzen, die an den Fundamenten
der katholischen Kirche rüttelten. Eine solche Handlung sei die allgemeine
Gewährung der Freiheit, Anschauungen zu verkünden, die eine Einschrän-
kung der kirchlichen Rechte auf die Ausbildung und Erziehung der Jugend
fordern. Eine solche Handlung sei der Raub der weltlichen Besitztümer
des Papstes und schließlich die systematische Schmälerung der päpstlichen
und kirchlichen Autorität, jener „Quelle des Fortschritts".
„Wer könnte der katholischen Kirche das Verdienst abstreiten", sagte
Papst Leo XIIL, „den in Unwissenheit und Aberglauben befangenen Men-
schen die Wahrheit gebracht zu haben . . .? Wenn wir die Zeiten, in denen
die Kirche von allen als Mutter geachtet wurde, mit unserer Zeit ver-
gleichen, muß sich dann nicht jedem die Erkenntnis aufdrängen, daß unser
Zeitalter auf einer Straße dahinrast, die geradenwegs in die Zerstörung
führt?" Das Papsttum, verkündete Leo XIIL, sei der eigentliche Beschützer
und Hüter der Zivilisation. „Es gereicht den Päpsten in Wahrheit zum
Ruhm, daß sie immer die Verpflichtung in sich spürten, ein Bollwerk gegen
einen Rückfall der menschlichen Gesellschaft in den früheren Aberglauben
und in die frühere Barbarei zu sein." Hätte man die „heilsame Autorität"
des Papstes höher geachtet, wären der Welt zahllose Revolutionen und
Kriege erspart geblieben; die weltliche Macht hätte dann nicht „ihren ehr-
würdigen und geheiligten Glanz verloren, das reine Geschenk der Religion,
die allein die Menschheit den Zustand der Unterordnung als edel und acht-
bar empfinden läßt".
Leo XIIL gab den Gläubigen zu verstehen, wie sie den Feinden der Kirche
entgegenzuwirken hätten:
63
1. Jeder Katholik hat sich den Lehren des Heiligen Stuhles zu unterwerfen.
2. Die Erziehung muß katholisch sein.
5. Jeder Katholik hat den Richtlinien der Kirche üher die Familie und die Ehe-
schließung Folge zu leisten.
Die Kinder sollten so früh wie möglich in den Lehren der katholischen
Kirche unterwiesen werden, und die Kirche sollte nicht allein darauf achten,
daß „die Erziehungsmethoden solide sind . . ., sondern vor allem darauf . . .,
daß die Erziehung in voller Übereinstimmung mit dem katholischen Glau-
ben erfolgt".
Die Erziehung habe in der Familie zu beginnen, die, um einer solchen
Pflicht nachkommen zu können, katholisch sein müsse. Es genüge nicht,
wenn ein Elternteil katholisch sei, beide müßten ihre Vereinigung unter
dem Sakrament der Ehe vollzogen haben. Die Kinder bedürften einer
„christlichen Familienerziehung", diese sei aber unmöglich, wenn die Ge-
bote der Kirche mißachtet würden, wie es zum Beispiel durch die Gesetze des
Säkularstaates geschehe.
Der Papst wies also die Gläubigen nicht nur an, der katholischen Kirche
in Glaubensdingen zu gehorchen, sondern erteilte ihnen zugleich Rat-
schläge in sozialen und politischen Fragen. Leo XIII. erließ während sei-
ner Amtszeit (1878-1903) zahlreiche Enzykliken, in denen er immer wieder
den Säkularstaat und die Häresie des Liberalismus und des Sozialismus ver-
dammte. Er verlangte von den Gläubigen, daß sie diese der Kirche feind-
lichen Ideologien in deren eigenem Bereich, das heißt in der sozialen und
politischen Sphäre, bekämpften, indem sie sich zu katholischen Gewerk-
schaften zusammenschlössen und katholische Parteien gründeten. Diese von
Leo XIII. verkündeten Lehren bestimmten die Politik des Vatikans in der
Zeit vor der Jahrhundertwende, also in dem geschichtlichen Zeitabschnitt,
in dem sich die von der Kirche verurteilte Staatsform in ganz Europa
durchsetzte.
36 Jahre nach der Antrittsenzyklika Leos XIII. brach der erste Weltkrieg
aus. Der neue Papst, Benedikt XV., verurteilte in seiner Enzyklika Ad
Beatissimi vom 1. November 1914 die Erscheinungen, die seiner Meinung
nach die Feindseligkeiten und Erschütterungen der westlichen Welt ver-
ursacht hatten. Der Krieg sei nicht nur auf die Tatsache zurückzuführen,
erklärte er, daß „die Vorschriften und Praktiken christlicher Weisheit beim
Regieren nicht mehr beachtet werden", sondern ebensosehr auf den allgemei-
nen Verlust an Autorität. „Es gibt seit längerem keinerlei Respekt mehr vor
der Autorität der Regierenden . . . Die Bande der Pflicht, die den Untertan
an jegliche Autorität über ihm fesseln sollen, sind so schwach geworden, daß
es aussieht, als wären sie völlig verschwunden." Dies sei eine Folge der
modernen Lehre vom Ursprung der staatlichen Gewalt. Was ist der Inhalt
64
dieser Lehre? fragt Benedikt XV. Der Inhalt sei die falsche Auffassung,
daß die Autorität ihren Ursprung im freien Willen der Menschen habe
und nicht von Gott sei. Die Illusion, daß die Menschen die Quelle der
Macht seien, führe zu dem unbegrenzten Streben der Massen nach Unab-
hängigkeit. Dieser Geist der Unabhängigkeit habe selbst das häusliche und
familiäre Leben ergriffen. Sogar in kirchlichen Kreisen sei dieses Laster zu
finden. Daraus entstehe jene weitverbreitete Verachtung aller Gesetze und
Autoritäten, entständen die Rebellionen derer, die dazu bestimmt seien,
regiert zu werden, entstehe die Kritik an der Ordnung und das Verbrechen
am Eigentum durch jene, die behaupten, es binde sie kein Gesetz. Die
Völker sollten deshalb zu den alten Lehren zurückfinden, und der Papst,
„dem von Gott aufgetragen ist, die Wahrheit zu verkünden", sei verpflichtet,
die Volker der Welt daran zu erinnern, „daß jegliche Gewalt von Gott ist
und daß die bestehenden Gewalten von Gott auserwählt" seien. Da alle
Gewalt von Gott stamme, seien alle Katholiken ihren weltlichen Gewalten
Gehorsam schuldig. Diesen Gewalten, seien sie weltlicher oder religiöser
Art, müsse jeder gewissenhaft gehorchen, und dieser Gehorsam müsse aus
dem Gewissen kommen. Es gebe nur eine Ausnahme, und zwar, wenn die
Autorität gegen die Gesetze Gottes und seiner Kirche mißbraucht werde; in
allen anderen Fällen habe jeder Katholik, einschließlich des Papstes, blind
zu gehorchen, denn „wer die Gewalt hat, der hat sie von Gott, und jene, die
ihm zuwiderhandeln, überantworten sich selbst der Verdammnis".
Benedikt XV. deutete also an, daß die Regierenden, falls sie Disziplin,
Gehorsam und Ordnung wünschten, die Lehren der katholischen Kirche be-
herzigen sollten. Es sei närrisch, behauptete er, ohne die Lehren der Kirche
regieren oder die Jugend nach anderen Richtlinien als denen der katho-
lischen Kirche erziehen zu wollen. „Traurige Erfahrungen beweisen, daß die
menschliche Autorität versagt, wenn die Religion beiseite geschoben wird."
Deshalb sollten die regierenden Mächte die Autorität Gottes und seiner
Kirche mehren und bewahren; anderenfalls würden die Völker die Autorität
der Herrschenden nicht achten. Die menschliche Gesellschaft, so fuhr der
Papst fort, werde durch zwei Faktoren zusammengehalten - durch die
gegenseitige Liebe und durch die bindende Anerkennung der über allen
stehenden Autorität. Diese Quellen seien versiegt. Deshalb sei die Bevöl-
kerung jeder Nation in zwei Lager gespalten, „als handele es sich- um feind-
liche Armeen, die sich unablässig und bitter bekämpfen: auf der einen Seite
die Eigentümer, auf der anderen Seite das Proletariat, die Arbeiter".
Das Proletariat solle sich nicht von Gefühlen das Hasses leiten lassen und
die Wohlhabenden nicht beneiden, sagte der Papst, sonst würde es eine
leichte Beute der Agitatoren. Denn „die Tatsache, daß die Menschen von
Natur gleich sind, bedeutet nicht, daß sie alle den gleichen Rang in der
5 M359
65
Gesellschaft einnehmen müssen". Die Armen sollten nicht auf die Reichen
schauen und sich gegen sie erheben, als wären die Reichen Diebe; wenn die
Armen dies täten, wären sie ungerecht und unbarmherzig, nicht zu reden
von der Unvernunft, die aus solchem Verhalten spräche. Die Folgen dSs
Klassenhasses seien schrecklich, und Streiks könne man nur bedauern, da sie
das gesamte nationale Leben desorganisierten. Die Irrtümer des Sozialismus
habe schon Papst Leo XIII. aufgedeckt. Die Bischöfe sollten darauf achten,
daß die Gläubigen niemals die päpstliche Verurteilung dieser Ideen ver-
gäßen. Sie sollten brüderliche Liebe predigen. Diese Liebe könne zwar
niemals „die unterschiedlichen Bedingungen und damit die Klassen be-
seitigen, aber sie kann zuwege bringen, daß jene, die höhere Positionen
einnehmen, sich in gewisser Weise zu denen in niedrigeren Positionen
herablassen und sie nicht nur gerecht . . ., sondern auch freundlich und in
einem geduldigen und freundlichen Geist behandeln. Die Armen werden
dann am Reichtum der Reichen Freude haben und sich vertrauensvoll auf
ihre Hilfe verlassen."
Die Menschheit habe den Glauben an das künftige Leben verloren und
betrachte das irdische Dasein als einzigen Grund ihrer Existenz. Eine ver-
dorbene Presse, gottlose Schulen und andere Einflüsse seien schuld an diesem
„äußerst schädlichen Irrtum". Die Armen, die solche Lehren vertreten,
wünschten Reichtum; da jedoch der Reichtum nicht gleichmäßig verteilt sei
und der Staat der Wegnahme des Reichtums Grenzen setze, haßten sie den
Staat. „Auf diese Weise nimmt der Kampf einer Klasse von Staatsbürgern
gegen eine andere seinen Fortgang, wobei der eine Teil mit allen Mitteln
zu bekommen versucht und sich nehmen will, was er wünscht, während der
andere darauf besteht, zu behalten und zu vermehren, was er besitzt."
Warum befaßte sich die katholische Kirche in dieser Situation so ein-
gehend mit der Frage der Autorität und der Frage des Klassenkampfes?
Weil die sozialen Unruhen, die unmittelbar dem ersten Weltkrieg folgten,
zu dieser Zeit bereits zu erkennen waren. Der Vatikan befürchtete Schlim-
mes und unternahm erste, vorbeugende Schritte.
Die Ratschläge, die der Papst jedem einzelnen Katholiken und den
Nationen im ganzen erteilte, verhallten nicht ungehört. In dem Jahrzehnt
nach dem ersten Weltkrieg zeigte es sich, daß solche Parolen wie Stärkung
der Autorität, Notwendigkeit blinden Gehorsams und Kampf gegen alle
Klassenkampftheorien die Richtschnur des faschistischen Totalitarismus
wurden.
Der erste Weltkrieg hinterließ viel Not und Leid, vor allem auf sozialem
und politischem Gebiet. Einander bekämpfende soziale Lehren und politische
Systeme, die in der Mehrzahl von der katholischen Kirche seit eh und je
verdammt worden waren, zerrissen die Gesellschaft, wie Benedikt XV.
66
befürchtet hatte. Die Ereignisse in Rußland waren ein Fanal für die euro-
päischen Völker, die sich nach der Revolution sehnten.
Die damaligen sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Be-
wegungen strebten nicht nur danach, das wirtschaftliche und soziale Leben
zu verändern, sondern hatten auch der Religion und vor allem der katho-
lischen Kirche den schärfsten Kampf angesagt. Der Sozialismus, der bis dahin
nur theoretisch existiert hatte, wurde nun eine reale und drängende Gefahr
für den Vatikan. Die katholische Kirche berief sich auf die Erklärungen, die
Papst Benedikt XV. abgegeben hatte, und erhob Anklage gegen die Kräfte, die
nach ihrer Meinung an der fürchterlichen Unruhe in der Welt schuld waren.
Im Jahre 1922 wurde Pius XI. zum Papst gewählt. In seiner Antritts -
enzyklika (Ubi Arcana Dei) legte er nicht nur die Stellung der katholischen
Kirche zu den sozialen und politischen Problemen dar, sondern verurteilte
auch die Demokratie und kam damit den faschistischen und nazistischen
Diktatoren zuvor.
Die Enzyklika Pius' XI. beschäftigte sich mit den Folgen des Krieges und
stellte fest, daß nirgends Friede sei, weder zwischen den Staaten noch zwi-
schen den Menschen, noch in der Familie. Sie führte die Weltunruhe darauf
zurück, daß Gott bei den öffentlichen Angelegenheiten, bei der Eheschlie-
ßung und der Erziehung ausgeschaltet sei. Kriege würden sich wiederholen,
bis die Menschheit den „Frieden Christi" teile. Wenn der Friede erhalten
werden solle, sei die katholische Kirche unentbehrlich. Zu den sozialen und
politischen Fragen erklärte Pius XI., es gebe überall einen „Krieg der
Klassen", überall herrsche Zank und Streit zwischen den Parteien, die nicht
das öffentliche Wohl im Auge hätten. Komplotte, Attentate auf die Herr-
schenden, Streiks, Aussperrungen und Aufruhr seien an der Tagesordnung.
Die modernen Lehren hätten die Familienbande gelockert, hätten als Folge
des Krieges eine Unrast des Geistes hervorgerufen und die Autorität in
einem Maße untergraben, daß Gehorsam nur noch als Unterwerfung unter
ein fürchterliches Joch aufgefaßt würde. Die Menschen wünschten, sowenig
wie möglich zu arbeiten, und erklärten zugleich ihre Herren und Meister zu
ihren Feinden. Die Anzahl der Bedürftigen wachse ständig und bilde ein
Reservoir, aus dem künftige Revolutionen ihre Armeen aufstellen könnten.
Der Papst erklärte, es müsse, wenn auch die katholische Kirche zu Staats -
formen im allgemeinen nicht Stellung nehme, doch bemerkt werden, daß
die Demokratie mehr als jede andere Staatsform den Wechselfällen des
Schicksals ausgeliefert sei. Die Demokratie, so versicherte Pius XL, trage die
Schuld an dem Chaos, das über die Menschheit gekommen sei, weil in ihr
zuviel Freiheit herrsche und der Wille des Volkes als oberstes Gesetz ange-
sehen werde; je demokratischer ein Land sei, desto chaotischer sei der Zu-
stand seines nationalen Lebens.
67
Diese Verurteilung der Demokratie war außerordentlich bedeutsam,
denn sie erfolgte zu einer Zeit, als sich die faschistischen Lehren in Italien
und auch sonst in Europa auszubreiten begannen. Wir werden später sehen,
daß sich die Verurteilung der Demokratie durch den Papst keineswegs auf
das theoretische Gebiet beschränkte, sondern in die Sphäre der Politik über-
griff und damit für die tragischen Folgen mitverantwortlich wurde, die wir
alle erlebten.
Die Enzyklika Pius' XI. sprach im weiteren darüber, auf welchen Wegen
und mit welchen Mitteln die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts zu kurieren
wäre. Jedes Individuum, so dekretierte sie, solle seiner Gehorsamspflicht
nachkommen, den von Gott bestimmten Aufbau der gesellschaftlichen Ord-
nung respektieren und vor allem der katholischen Kirche, jenem Lehr-
meister, „unfähig des Irrtums", in Demut folgen. Nur die katholische Kirche
könne Frieden und Ordnung bringen, denn sie allein lehre in göttlichem
Auftrag und kraft göttlichen Befehls. Die Individuen hätten ebenso wie die
Staaten die göttlichen Gesetze zu befolgen; die katholische Kirche sei „die
einzige, und vor allem die einzige von Gott berufene Hüterin und Ver-
künderin der offenbarten Wahrheiten". Deshalb könne die Gesellschaft eine
Lösung ihrer Schwierigkeiten nur finden, wenn sie den Lehren der katho-
lischen Kirche folge. Aus demselben Grunde sei es auch ein nutzloses Unter-
fangen, einen Völkerbund zu gründen, ohne dabei die katholische Kirche zu
konsultieren. Wenn man wünsche, daß eine solche Organisation das ge-
steckte Ziel erreiche, müsse man sie nach dem Vorbild der katholischen
Kirche aufbauen, die bereits im Mittelalter als internationale Institution
große Erfahrungen gesammelt habe. Nur die katholische Kirche sei fähig,
die Heiligkeit der internationalen Gesetze zu schützen, denn sie stehe, wenn
sie auch in allen Nationen verwurzelt sei, doch über den Nationen.
Die Menschen sollten sich bei der katholischen Kirche nicht nur in
geistigen, sondern auch in sozialen Angelegenheiten Rat und Hilfe holen
und niemals vergessen, daß es ihnen verboten sei, gewissen sozialen Lehren
zu folgen, die nicht die Zustimmung der katholischen Kirche finden, näm-
lich dem Liberalismus, dem Modernismus, dem Sozialismus usw. Leider
gebe es noch viele, die sich verleiten ließen, soziale Angelegenheiten zu
liberal zu beurteilen. „In ihren Worten und Schriften und im ganzen Tenor
ihres Lebens benehmen sie sich, als seien die Lehren und Befehle, die von
den Päpsten ergangen sind . . ., völlig veraltet . . . Darin erblicken Wir eine
Abart des moralischen Modernismus in Fragen der Autorität und der
sozialen Ordnung, die Wir . . . ebenfalls ausdrücklich verurteilen."
Papst Pius XL, dessen Amtszeit (1922-1959) in eine der schicksals-
schwersten Perioden der neueren Geschichte fiel, war ein Mann der Tat. Die
katholische Kirche wurde in steigendem Maße von den Entscheidungen des
68
Papstes abhängig. Er legte nicht nur Wert darauf, das auszuführen, was
seine Vorgänger gepredigt hatten, sondern hatte auch außergewöhnlich
feste eigene Ansichten über die Stellung der katholischen Kirche zu den
sozialen und politischen Problemen der Zeit.
Pius XI. war „voll Verachtung für die demokratischen Institutionen",
was seine erste Enzyklika sehr deutlich zeigte. Er war mit großem Erfolg
bestrebt, den Geist der katholischen Kirche zu festigen und die Politik des
Vatikans völlig dem Prinzip der Feindschaf t gegen die großen und modernen
sozialen und politischen Strömungen unterzuordnen. Seine auf weite Sicht
geplante Politik hinsichtlich dieser Strömungen beruhte auf dem Grund-
satz, die Autorität des Staates zu heben und der katholischen Kirche das
Recht zu sichern, in der modernen Gesellschaft eine gewichtigere Rolle zu
spielen als bisher. Die Kirche sah es als ihre Pflicht an, der Jugend eine
religiöse Erziehung angedeihen zu lassen, die Heiligkeit der Familie zu
schützen und dafür zu sorgen, daß der Säkular ismus in Acht und Bann
getan, der Sozialismus vernichtet, die Ehescheidung verboten und die Demo-
kratie verurteilt würde.
Die päpstlichen Bemühungen, diese Grundsätze zu verwirklichen, brach-
ten die katholische Kirche bald mit Bewegungen in Berührung, die keinerlei
Beziehungen zur Religion hatten, aber den Haß des Vatikans gegen be-
stimmte soziale und politische Tendenzen im gesellschaftlichen Leben teil-
ten. Gemeinsamer Haß gab ihnen ein gemeinsames Ziel und eine gemein-
same Plattform. So nahm der Vatikan Schulter an Schulter mit dieser
Bewegung den Kampf gegen seinen vermeintlichen Feind auf. Wer war der
Hauptverantwortliche für diese Allianz? Weshalb ließ sich der Vatikan auf
eine solche Politik ein?
Kapitel vii Die Politik des Vatikans
zwischen den Weltkriegen
Die katholiscfie Kirche und die sozialistische Ideologie — Die katholische Kirche am
Ende des ersten Weltkrieges, Ihre Allianz mit den konterrevolutionären Kräften. Der
italienische Faschismus - Die neue Politik des Vatikans - Die Auflösung der katho-
lisclien Parteien - Die Allianz der katholischen Kirche mit den faschistischen Diktaturen.
Die sozialen und politischen Ideologien und Systeme, die der Vatikan
während des vergangenen und zu Beginn unseres Jahrhunderts bekämpfte,
wurden mit einem Schlag harmlose Gegner der Kirche, als der Sozialismus
in seiner vollen Gestalt und als staatliche Realität vor ihr aufstand.
Im 19. Jahrhundert dominierte der Liberalismus. Er hatte den Säkula-
rismus, die Freiheit der Gesellschaft und des Staates von den Einmischungen
der Kirche, gefordert. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde der Liberalismus
durch eine Ideologie verdrängt, die bisher keine ernsthafte Gefahr für die
religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen, auf denen nach Mei-
nung der katholischen Kirche die Gesellschaft beruht, dargestellt hatte.
Diese Ideologie propagierte die soziale, wirtschaftliche und politische Revo-
lution. Sie war seit ihrer Entstehung mehr als einmal von der Kirche ver-
dammt worden — eine Verdammung jedoch, die selten über die theoretische
und religiöse Sphäre hinausdrang. Der Sozialismus in seinen verschiedenen
Schattierungen war, auch nachdem er in den letzten Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts in bestimmten sozialen, wirtschaftlichen und politischen
Bewegungen Gestalt angenommen hatte, ein relativ schwacher und vor
allem nur theoretischer Feind geblieben. Er schien die Grundlagen der
Gesellschaft nicht ernstlich zu bedrohen.
In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts erklärte die katho-
lische Kirche, nachdem sie zuvor die sozialistische Theorie und alle ihre
Forderungen verdammt hatte, daß der gute Katholik keine Verbindung mit
dem Sozialismus haben dürfe. Die theoretische Verurteilung des Sozialismus
wurde zur praktischen Zurückweisung, als die Sozialisten begannen, die
Arbeiterklasse zu organisieren und Ziele zu verkünden, die eine offene Her-
ausforderung der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Ordnung waren.
Seit Leo XIIL hatte die Kirche wiederholt die sozialistische Lehre offen
und scharf verurteilt. Jetzt versuchte sie, als Gegengewicht kirchliche
Arbeiterorganisationen ins Leben zu rufen, gab aber bereits zu Beginn des
ersten Weltkrieges diese Zielsetzung auf. Es hatte sich rasch herausgestellt,
daß diese Maßnahmen nicht geeignet waren, die sozialistische Bewegung
aufzuhalten. Aber die katholische Kirche ließ sich dadurch nicht in
70
Verwirrung bringen, sie besaß großes Selbstvertrauen, denn ihre Politik
stützte sich weniger auf die katholische Arbeiterbewegung als vielmehr auf die
religiösen und politischen Organisationen, die ihre Kämpfe an der Quelle
der politischen Macht, zumeist innerhalb der Regierungen selbst, atistrugen.
Neben den katholischen Parteien verfügte die Kirche über eine einfluß-
reiche katholische Presse und über starke Verbündete in den Schichten, deren
Interessen die Beibehaltung des sozialen und wirtschaftlichen Status quo
verlangten. Zu diesen konservativen Elementen gehörten die Großgrund-
besitzer und die Herren der riesigen Industriekonzerne. Sie alle sahen in
der katholischen Kirche ihren natürlichen Verbündeten, und die Kirche
wußte sie zu schätzen als zuverlässige Streiter gegen jede ernsthafte Be-
drohung durch den Sozialismus.
Mit dem Ausbruch des Weltkrieges änderte sich die Lage gründlich.
Millionen Menschen wurden plötzlich aus ihrer verhältnismäßig friedlichen
Umwelt gerissen und in die Schützengräben oder Munitionsfabriken ge-
steckt. Das Leben, das sie bislang geführt hatten, zerfiel immer mehr unter
der verheerenden Einwirkung des Krieges. Die moralischen Werte religiöser,
sozialer und politischer Art gerieten ins Wanken. Die sozialistische Ideologie
erfaßte die breiten Massen.
In Rußland kam es 1917 zur sozialistischen Revolution, die bolsche-
wistische Partei übernahm die Regierung. Ein Jahr später endete der erste
Weltkrieg. Er hatte Vertreibungen zur Folge, Massenarbeitslosigkeit, Ver-
wirrung und Desillusionierung. Die sozialistischen Lehren fanden daher
breiten Widerhall, sie wurden von vielen als ein Programm begrüßt, mit
dem man eine bessere soziale und wirtschaftliche Ordnung errichten konnte.
Streiks legten ganze Industriezweige, ganze Städte und Wirtschaften lahm.
Die Arbeiter besetzten die Fabriken und wählten Arbeiterräte zur Leitung
dieser Unternehmen. Die Landarbeiter ergriffen Besitz von den Ländereien
der Gutsherren. Die Vertreter der Staatsmacht wurden überwältigt und ab-
gesetzt. In mehreren Ländern begann man den theoretischen Plan der Er-
richtung einer sozialistischen Gesellschaft zu verwirklichen.
Wo stand die katholische Kirche in diesem Kampf? Sie war wegen ihrer
ständigen Angriffe auf die sozialistische Ideologie und ihre Träger und
wegen ihrer engen Verbindungen mit den natürlichen Feinden der sozia-
listischen Gesellschaft - den Großgrundbesitzern, den Industrieherren und
allen anderen konservativen Schichten der Gesellschaft — eines der Haupt-
angriffsziele der revolutionären Bewegung. Die Kommunisten forderten die
Enteignung der Kirche, ihre Trennung von der Schule und die Einstellung
aller Zahlungen des Staates an die Kirche. Im übrigen würde die welt-
anschauliche Propaganda schon dafür sorgen, daß die neue Gesellschaft die
Religion überwände. Die Blicke auf das große Vorbild, Sowjetrußland,
71
gerichtet, ließen sie diesen Worten Taten folgen. So wurde selbst dem kurz-
sichtigsten Kardinal im Vatikan sehr rasch klar, daß alle Säkularisations-
bestrebungen der Vergangenheit harmlos waren im Vergleich zu der Säku-
larisation, die sich die Kommunisten vorgenommen hatten. Alle Elemente,
die sich in ihrer Existenz bedroht fühlten, leiteten inzwischen mit Hilfe
der verschiedensten sozialen, politischen und nationalistischen Bewegun-
gen eine Gegenoffensive ein. Sie bildeten militaristische Gruppen und be-
gannen die revolutionäre Bewegung mit blutigem Terror zu unterdrücken.
Auf diese Weise gelang es der Gegenrevolution, dank ihrer besseren Or-
ganisiertheit, dank der Uneinigkeit im Lager ihrer Feinde und dank der
Tatsache, daß weite Kreise der Bevölkerung der ständigen Streiks und
Kämpfe müde wurden, das Vordringen des Sozialismus vorerst aufzuhalten
und ihn an einigen Stellen sogar zurückzuschlagen.
Der Vatikan begrüßte jede antisozialistische Bewegung mit großer
Sympathie und unterstützte sie, wo immer er konnte. Bald aber kam es zu
einem sich immer mehr zuspitzenden Konflikt in der Kirchenführung über
die Politik gegen die „Roten".
Der Konflikt entzündete sich an der Frage, ob man die Gewaltmaß-
nahmen der neuen antisozialistischen Bewegungen aktiv unterstützen solle
oder nicht. Von diesen Gewaltmaßnahmen versprach man sich nicht nur
die Vernichtung des Kommunismus, sondern auch die Wiederherstellung
der alten Ordnung und eine Kontrolle über alle Individuen und Gruppen,
die der Gesellschaft gefährlich werden könnten. Die andere Möglichkeit
war, die „rote Gefahr" so zu bekämpfen, wie die Kirche vor dem Krieg den
Liberalismus und den Säkularismus bekämpft hatte, nämlich auf legalem
Weg, das heißt in der Arena des sozialen und politischen Kampfes mit Hilfe
neuer Arbeiter- und Bauernorganisationen und politischer Parteien.
Die eine Gruppe bestand darauf, daß rücksichtslose Gewalt das einzige
Mittel sei, mit dem die Feinde der Kirche — vor allem die Kommunisten —
erfolgreich bekämpft werden könnten. Bannflüche, religiöse oder soziale
Organisationen und selbst mächtige katholische Parteien seien zu schwach,
seit sich „die katholische Kirche der gewalttätigen Propaganda und den
Methoden der Roten" gegenübersehe. Die Kirche könne jedoch nicht öffent-
lich zu Mord und Gewalttat aufrufen, denn immer, wenn dergleichen ge-
schehen sei - Mitglieder katholischer Parteien hatten es anläßlich einiger
von Sozialisten organisierter Streiks versucht — , habe es lediglich zu ver-
mehrtem Haß gegen die Kirche geführt. Der Kirche bliebe also nur der Weg,
eine neue Politik zu beginnen, eine Politik der engen Allianz mit jeder
politisch erfolgversprechenden Bewegung, die die Vernichtung des Sozialis-
mus, die Beibehaltung des Status quo und vor allem die privilegierte Stel-
lung der katholischen Kirche garantieren könnte.
72
Dies sei dringender nötig denn je, unterstrichen die Anhänger dieser
Theorie im Vatikan und beriefen sich auf die großen Verluste, die die katho-
lische Kirche täglich erlitt; die Kirchenaustritte seien keine Einzelerschei-
nungen mehr, eine Massenapostasie habe eingesetzt. Einige dieser Abtrün-
nigen seien wohl den giftigen Lehren des Liberalismus und der säkularen
Erziehung zum Opfer gefallen, aber der Sozialismus trage die Hauptschuld
an diesen Massenaustritten. Überall dort, wo sich die Industrie und damit
städtische Lebensformen breitgemacht hätten, verliere die Kirche unwei-
gerlich Mitglieder, während die Roten dort ebenso unweigerlich gewännen.
Diese Verluste der Kirche hatten doppeltes Gewicht, denn ein Mensch
erklärt seinen Austritt aus der Kirche nicht allein aus religiösen, sondern
ebenso auch aus politischen und sozialen Motiven. Die Menschen, die der
Kirche die Achtung versagten, schlössen sich in der Mehrzahl politischen
Bewegungen an, die der Kirche feindlich gesinnt, waren. Nach dem ersten
Weltkrieg hatte die sozialistische und die kommunistische Bewegung den
meisten Nutzen davon. Sehr bald war zu erkennen, daß die sozialistischen
Wähler mit ziemlicher Sicherheit für die katholische Kirche verloren waren.
Papst Pius XI. zog später daraus die Schlußfolgerungen und erklärte: „Kein
Katholik kann Sozialist sein." (Quadragesimo Anno, 1951)
In Italien, einem katholischen Land, eroberten die Sozialisten unmittel-
bar nach dem Krieg 1 840 589 von insgesamt 5 500 000 Stimmen; 1926 er-
rangen Liberale und Sozialisten zusammen 2494 685 Stimmen. In Öster-
reich erhielten im Jahre 1927 die Sozialisten 820000 Stimmen und hatten
allein in Wien einen Zuwachs von 120 000 Stimmen. In der Tschechoslowakei
verlor die katholische Kirche bis 1930 1 900 000 Anhänger. In Deutschland
entfielen 1952 auf Sozialisten und Kommunisten 13,2 Millionen Stimmen.
Diese schweren Verluste veranlaß ten die katholische Kirche, jede Regie-
rung zu unterstützen, die die Absicht zeigte, ihr Land aus einer Industrie-
macht in eine Agrarmacht zu verwandeln — das war übrigens auch der
Grund, aus dem der Papst Potain unterstützte denn Agrargemeinschaften
hatten sich als konservativ und kirchentreu erwiesen.
In den unruhigen Jahren nach dem ersten Weltkrieg konnte sich der
Vatikan nicht klar entscheiden, welche Politik er verfolgen sollte. Er
arbeitete in zwei Richtungen und in beiden nur mit halber Kraft. In
Italien erlaubte er zum Beispiel den Katholiken, eine starke katholische
Partei mit progressivem und sozialem Aushängeschild ins Leben zu rufen,
die bei manchen Anlässen auf die Maßnahmen ihrer Gegner mit Gewalt
antwortete. Dieser Beschluß war von Benedikt XV. gefaßt worden, der libe-
rale Neigungen zeigte.
Als Benedikt XV. starb, wurde das Steuer der Vatikanpolitik herum-
geworfen. Der neue Papst entschloß sich, wenn auch anfänglich unter
73
Beachtung gewisser Vorsichtsmaßnahmen, zu einer Politik der Allianz mit
den radikalen antibolschewistischen Kräften.
Das Jahr 1922, in dem Pius XI., ein Mann von autoritärer, kompromiß-
feindlicher und antidemokratischer Gesinnung zum Papst gewählt wurde,
war ein schicksalsschweres Jahr nicht nur in der Geschichte der katholischen
Kirche, sondern auch in der Geschichte Europas, ja der ganzen Welt. In
diesem Jahr errang die erste faschistische, totalitäre Bewegung Europas,
der italienische Faschismus, die Macht über eine moderne Nation. Seit
dieser Zeit wurde die Politik des Vatikans immer zielstrebiger, seine Allianz
mit den Mächten der Reaktion immer offensichtlicher. In ganz Europa, von
Spanien bis Österreich, von Italien bis Polen, kamen mit legalen oder halb-
legalen Mitteln Diktaturen an die Macht, die häufig offen vom Vatikan
unterstützt wurden. Nachdem der Vatikan einmal mit der alten Methode
gebrochen hatte, ging er so weit, die Auflösung der großen katholischen
Parteien zu befehlen, um die faschistischen Regime zu unterstützen und
ihre Machtposition im Staat zu festigen.
Aber damit nicht genug. Bei mehr als einer Gelegenheit verkündete der
Papst, der faschistische Diktator Mussolini sei „von der himmlischen Vor-
sehung gesandt", und empfahl in der Enzyklika Quadragesimo Anno allen
katholischen Ländern, die Form des faschistischen Ständestaates zu über-
nehmen.
Als die faschistischen Staaten ihre Aggressionen begannen, half ihnen
die katholische Kirche offen und versteckt. Sie hielt die Katholiken der be-
treffenden Länder an, die Aggressoren zu unterstützen, oder setzte diplo-
matische Mittel ein, wie im Fall des Abessinienkrieges (1935—36) und im
Fall der Annexion Österreichs (1938) und der Tschechoslowakei (1939).
Was erhielt die katholische Kirche als Gegenleistung? Sie erhielt, was
sie erwartet hatte, als sie mit den radikalsten reaktionären Bewegungen
ein Bündnis einging: die brutale Verfolgung all der Feinde, die sie so oft im
Lauf der letzten hundert Jahre verdammt hatte - nicht nur des Sozialismus
und des Kommunismus, sondern auch des Liberalismus, der Demokratie und
des Säkularismus. Die Gewerkschaften und alle sozialen, kulturellen und
politischen Organisationen, die unter dem Einfluß von Kommunisten,
Sozialisten, bürgerlichen Demokraten oder Liberalen standen, wurden zer-
treten, alle politischen Parteien verboten. Die Presse, der Film, das Theater
und alle anderen kulturellen Institutionen wurden unter die Kontrolle der
faschistischen Partei gestellt. Die Bevölkerung wurde aller demokratischen
Rechte beraubt.
Der Geist und die Maschinerie der faschistischen Diktatur hatten ihr
Vorbild im Geist und in der Maschinerie der katholischen Kirche. Es gab
nur eine Partei, sie allein besaß die politische Wahrheit. Es gab nur einen
74
Führer, er machte alles richtig und war niemandem rechenschaftspflichtig.
Das Volk hatte ihm blind zu gehorchen, seine Befehle durften nicht disku-
tiert werden. Die Bevölkerung hatte zu denken, was der Führer ihr zu den-
ken befahl, sie hatte die Sendungen zu hören und die Zeitungen und Bücher
zu lesen, die er für sie auswählte. Niemandem war gestattet, gegen das
Regime oder den Führer auch nur zu flüstern. Eine Geheime Staatspolizei
lauerte darauf, jeden zu verhaften und in ein Konzentrationslager zu werfen,
der gegen diese Regeln verstieß.
Die katholische Kirche konnte sich in den vom Faschismus befallenen
Ländern ungehindert betätigen und erhielt viele Vorrechte, ja sie wurde in
einigen dieser Staaten sogar zur Staatsreligion erklärt; das bedeutete
religiöse Erziehung an allen Schulen, religiöse Eheschließung, Abschaffung
der Ehescheidung, Verbot aller religionsfeindlichen Bücher, Verbot der
Empfängnisverhütung, Besoldung der Geistlichkeit durch den Staat, Teil-
nahme der höchsten Repräsentanten des Staates an öffentlichen religiösen
Zeremonien, Protektion und Subvention religiöser Zeitungen usw. Die
Kirche hatte auf einen Schlag nicht nur all ihre alten und neuen Feinde ver-
nichtet, sondern zugleich eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft ge-
wonnen, die sie unter anderen Umständen nie hätte erringen können.
Aber nicht immer herrschte Sonnenschein in dem Verhältnis zwischen
der katholischen Kirche und ihren politischen Verbündeten. Häufig ent-
standen bittere Kontroversen, vor allem mit der deutschen Spielart des
Faschismus, dem Nazismus. Es gab sogar Ansätze zu Kirchenverfolgungen,
gegen die der Papst in seinen Enzykliken Stellung nehmen mußte. (Non
Abbiamo Bisogno, 1931, gegen den italienischen Faschismus; und Mit bren-
nender Sorge, 1937, gegen den Nazismus) Diese Streitigkeiten entstanden
um die Frage der Jugenderziehung oder bei Verletzungen des Konkordats.
In Deutschland kam es zu Beschwerden der Kirche, weil der Nazismus vor-
sätzliche und unflätige Angriffe gegen die Religion richtete.
Der Vatikan wagte es nicht ein einziges Mal, den Faschismus, den Nazis-
mus oder ähnliche Bewegungen grundsätzlich zu verdammen, wie er es zum
Beispiel im 19. Jahrhundert mit dem Liberalismus oder im 20. Jahrhundert
wiederholt mit dem Sozialismus tat. Warum auch? Daß bei der neuen Allianz
nicht alles reibungslos abging, war menschlich verständlich. Schließlich
hatte die katholische Kirche, wenn sie auch nicht alles bekam, was sie sich
wünschte, doch unter den faschistischen Regimen einen Machtzuwachs er-
reicht, von dem sie sich vorher nie hätte träumen lassen. Darauf ist es auch
zurückzuführen, daß der Vatikan, nachdem er einmal die neue Politik ein-
geschlagen hatte, zwanzig Jahre lang nicht mehr von ihr abwich und da-
durch die Stellung des Faschismus auf dem ganzen Kontinent wesentlich
festigte.
75
Der Vatikan ermutigte die faschistischen Diktaturen nicht nur in ihren
innerpolitischen Maßnahmen, sondern auch auf dem Gebiet der inter-
nationalen Politik. Da die katholische Kirche überall die gleichen Feinde
zu bekämpfen hatte, verfolgte sie auch in fast allen europäischen Ländern
die gleiche Politik. Sie schloß überall ähnliche Allianzen wie jene, mit denen
sie in den faschistischen Staaten so gute Erfahrungen gemacht hatte. Selbst-
verständlich mußte sie dabei die örtlichen Umstände in Betracht ziehen und
in den einzelnen Ländern unterschiedliche Taktiken anwenden. So ge-
stattete sie in einem Land der katholischen Partei, mit den Sozialisten zu-
zusammenzuarbeiten (Deutschland), und ließ in einem anderen die gleichen
Sozialisten von einer offen katholischen Diktatur zusammenschießen (Öster-
reich) ; so beauftragte sie in einem Land die katholische Partei, die Regierung
zu unterwühlen und deren Sturz zu beschleunigen (Tschechoslowakei) und
machte ergebene Katholiken zu Agenten ausländischer faschistischer Aggres-
soren (Seyß-Inquart in Österreich und Tiso in der Tschechoslowakei) und
ließ in einem anderen Land (Spanien) einen katholischen General (Franco),
gestützt auf den Vatikan und die spanische Hierarchie, offen gegen die ver-
fassungsmäßige demokratische Regierung seines Landes revoltieren.
Die Allianz mit dem Faschismus hatte aber für den Vatikan noch einen
anderen Sinn. Er verfolgte mit diesem Bündnis das Ziel, das Zentrum des
Weltatheismus und des Kommunismus, die Sowjetunion, zu vernichten.
Seit der russischen Revolution von 1917, die, so parodox es klingt, vom
Vatikan begrüßt worden war, hatte die Vatikanpolitik in der internationalen
Sphäre nur ein Hauptziel; Vereinigung aller Kräfte und Länder zu einem
gegen die Sowjetunion gerichteten Block. Der Vatikan unterstützte Hitler,
weil dieser sich nicht nur zum Ziel gesetzt hatte, den Kommunismus in
Deutschland zu zerschlagen, sondern auch fest entschlossen war, eine starke
Macht zu errichten, die als eine Art Chinesische Mauer das Vordringen des
Kommunismus nach Europa verhindern oder eines Tages sogar die Sowjet-
union vernichten sollte. Diese gegen die Sowjetunion gerichtete Politik der
Unterstützung der faschistischen Diktaturen verfolgte der Vatikan rücksichts-
los vor und während des zweiten Weltkriegs. Er setzte sie nach dem Krieg fort
durch seine Allianz mit den USA, durch den Aufmarsch des zu neuem Leben
erwachten politischen Katholizismus, der 1 9 50 bereits die Herrschaft über zehn
europäische Staaten erobert hatte (Italien, Österreich, Westdeutschland,
Frankreich, Belgien, Luxemburg, Niederlande, Irland, Spanien und Portu-
gal), und durch die offene Einmischung in die Wahlen vieler Länder. So
wies Pius XII. die französischen und italienischen Wähler in den Jahren
1947 und 1948 offen an, gegen die Parteien zu stimmen, die der Kirche nicht
genehm waren - eines der zahlreichen Beispiele für die Anwendung eines un-
mittelbaren religiösen Druckes um politischer und ideologischer Ziele willen.
76
Diese Feindschaft erreichte 1949 ihren Höhepunkt mit jenem Dekret,
nach dem alle, „die sich zu der materialistischen und antichristlichen Doktrin
des Kommunismus bekennen, sie verteidigen oder verbreiten", exkommuni-
ziert werden (Dekret zur Exkommunikation, erlassen von der Höchsten
Heiligen Kongregation des Heiligen Offiziums am 15. Juli 1949). Es ließ
den katholischen Gläubigen nur die Wahl zwischen einer uneingeschränkten
Ablehnung des Kommunismus und dem Austritt aus der Kirche und verbot
ihnen nicht nur, für die kommunistische Partei zu stimmen, sondern unter-
sagte ihnen auch, „kommunistische Literatur ohne die besondere Genehmi-
gung ihres Beichtvaters zu lesen . . . Selbst Reporter, die über Theater, Sport
oder Literatur in einer kommunistischen Zeitung schreiben, begehen damit
in den Augen der Kirche eine unerlaubte Handlung." Nachzulesen im
Osservatore Romano vom 26. Juli 1949.
Die katholische Kirche wäre trotz ihre9 großen Einflusses in vielen
Ländern nie in der Lage gewesen, das Geschehen in den Jahren zwischen
den Kriegen so entscheidend zu beeinflussen, wenn die Umstände sie nicht
begünstigt hätten. Die ethischen, nationalen, sozialen, wirtschaftlichen und
politischen Kräfte, die durch ihre Dynamik die Welt in der niederdrückenden
Nachkriegszeit erschütterten, kamen den katholischen Absichten entgegen.
Auch wenn es keine katholische Kirche gegeben hätte, auch wenn sie sich
neutral verhalten oder gar dem Faschismus widersetzt hätte, wäre es zu den
gewaltigen Zusammenstößen gekommen, deren Höhepunkt der zweite
Weltkrieg war. Aber es besteht kein Zweifel, daß die unmittelbare oder
mittelbare Hilfe, die die katholische Kirche in bestimmten kritischen
Momenten den faschistischen Staaten gewährte, die Herausbildung eines
faschistischen europäischen Kontinents und damit den Ausbruch des zweiten
Weltkrieges beträchtlich beschleunigt hat. Selbstverständlich war es nicht
allein der profaschistischen Politik, die der Vatikan nach dem Auftauchen
der für ihn fürchterlichen Gefahr des Sozialismus verfolgte, zuzuschreiben,
daß die Welt dorthin gelangte, wo sie heute steht. Dafür waren im wesent-
lichen andere Kräfte verantwortlich, die mit der Religion und der katho-
lischen Kirche wenig oder gar nichts zu tun haben. Aber die Allianz des
Vatikans mit diesen nichtreligiösen Kräften und die Hilfe, die er ihnen in
kritischen Situationen gewährte, trugen dazu bei, die Welt aus dem Gleich-
gewicht zu bringen.
Den Vatikan für seinen Teil der Verantwortung an der Welttragödie zu
verurteilen oder freizusprechen, ist nicht unsere Aufgabe. Die Tatsachen
sprechen für sich. Unsere Sache wird es jetzt sein, diesen Tatsachen nach-
zuspüren und die Rolle der katholischen Kirche im Leben der einzelnen
Länder zu untersuchen, um einen Überblick über ihre Aktivität in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erhalten.
77
Kapitel viii Spanien, die katholische Kirche
und der Bürgerkrieg
Erste Gegensätze zwischen Kirche und Staat - Das 19. Jahrhundert - Der Liberalis-
mus und die katholische Kirche - Eine Kirchenflucht setzt ein - Die katholischen Ge-
werkschaften - Die erste Diktatur nach dem Krieg (1923) - Der Sturz der Monarchie -
Die Trennung von Kirche und Staat - Die katholische Kirche schürt den Krieg gegen
die Republik - Die Strategie des Vatikans - Der erste Schritt: Schaffung einer katho-
lischen politischen Bewegung - Gil Robles und der politische Katholizismus in Spanien -
Die Taktik des Trojanischen Pferdes - Die Fortschritte des politischen Katholizismus
und seine V orbereitungen zur Machtergreifung auf legalem und halblegalem Weg - Der
Sieg der V olks front macht die Pläne des politischen Katholizismus in Spanien zunichte -
Der Faschismus auf dem Marsch: Die F alange - Der Ausbruch des Bürgerkrieges
(1936) - Der spanische Bürgerkrieg verwandelt sich in einen internationalen diploma-
tisch-politisch-ideologischen Konflikt - Die Intervention des faschistischen Italiens und
N azideutschlands - Die Kampagne des Vatikans gegen die Republik - Der Papst organi-
siert einen weltweiten Kreuzzug gegen den Bolschewismus - Die Entsendung katho-
lischer Freiwilliger als Hilfstruppen für Franco - Die Vernichtung der Republik — Ein
neues katholisch-totalitäres Spanien entsteht - Das katholische Spanien und der zweite
W eltkrieg - Franco unterstützt Nazideutschland - „Die anderen sind gegen Gott, aber
wir sind seine Soldaten."
Nirgends hat die katholische Kirche jahrhundertelang alle Sphären des
Lebens einer Nation so unter ihrer Kontrolle gehabt wie in Spanien. Ob
dies auf das spanische Temperament zurückzuführen ist, das durch seine
Anlage zum Extremismus besonders anfällig für die Dogmen des Katholi-
zismus sein soll, oder ob andere Faktoren daran schuld sind - Tatsache ist
und bleibt, daß die katholische Kirche in Spanien vom frühen Mittelalter bis
in die Gegenwart eine gewaltige Macht ausübt. Sie prägte das kulturelle,
soziale, wirtschaftliche und politische Antlitz des Landes.
Trotz des Würgegriffs der Kirche kam es immer wieder zu turbulenten
Auseinandersetzungen zwischen ihr und dem Volk. Auch die Tatsache, daß
Kaiser Theodosius und Papst Damasus, die bereits im Jahre 580 als erste das
System der Partnerschaft zwischen Kirche und Staat einführten, Spanier
waren, machte dem spanischen Volk die römische Macht nicht schmackhafter.
Bereits Crosius bewies in seinem im Jahre 418 geschriebenen Geschichts-
werk ein gewisses „nationales spanisches Selbstbewußtsein" und teilte durch-
aus nicht die Bewunderung Sankt Augustins für Rom. Dieses Gefühl blieb
auch in den folgenden Jahrhunderten wach. So bemühte sich im 11. Jahr-
hundert der Bischof von Compostella um die Emanzipation der spanischen
Kirche. Er wurde exkommuniziert. Später revoltierten die Königreiche von
Leön und Kastilien gegen die Romanisierung Spaniens, die vor allem von
78
Gregor VII. und den Mönchen vonCluny betrieben wurde. Noch im 16. Jahr-
hundert wandten sich selbst spanische Könige, Karl I. und Philipp II., gegen
die römischen Päpste und trieben die spanische Hierarchie bis an den Rand
des Schismas.
Auch die rationalistischen Ideen des 18. Jahrhunderts gefährdeten die
Macht des Papstes in Spanien. Prominente spanische Staatsmänner wie
Aranda und Cabarrus waren Bewunderer Voltaires, d'Alemberts und
Rousseaus, sie wurden offiziell zu Feinden des Katholizismus erklärt.
Andererseits waren viele bedeutende Spanier, wie Burriel, Masdeu, Campo-
manes und Floridabianca, sowohl gute Katholiken als auch erklärte Gegner
der politischen Mächte Roms. Sie verwiesen zwar die Jesuiten des Landes,
respektierten aber trotzdem die Kirche.
Als sich während der napoleonischen Invasion die liberalen Patrioten in
Cadiz versammelten, beschränkten sie die Pressefreiheit der Kirche, legten
aber gleichzeitig in ihrer Verfassung fest, daß die römisch-katholische
Religion die Religion der Nation sei.
Im Jahre 1851 hatten Rom und seine Anhänger in Spanien, Todfeinde
selbst der geringsten liberalen Tendenz, ihre große Zeit. In diesem Jahr
wurde ein neues Konkordat abgeschlossen, in dem der spanische Staat der
Kirche zugestand, daß die römisch-katholische Religion die einzige Religion
sei; den Anhängern anderer Glaubensbekenntnisse wurde jede religiöse
Betätigung streng untersagt; die Kirche erhielt das Recht, durch ihre
Bischöfe selbst private Schulen und Universitäten zu überwachen. Die
Bischöfe hatten dafür zu sorgen, daß die Erziehung völlig im Geiste des
Katholizismus erfolgte. Der Staat sicherte in dem neuen Konkordat den
Bischöfen jede Hilfe bei der Unterdrückung aller Bestrebungen zu, die
darauf zielten, die Gläubigen der Kirche abspenstig zu machen. Alles, was
in Spanien geschah, hing von den Launen der Kirche ab.
Trotzdem kam es im Jahre 1869 zu einer Verfassung, die wegen ihres
demokratischen Charakters den Zorn der katholischen Kirche erregte. In ihr
hieß es zwar, daß der Staat alle Kosten der Kirche einschließlich des Unter-
halts der Geistlichkeit tragen würde, aber zugleich gewährte sie religiöse
Freiheit, Lehrfreiheit und Pressefreiheit. Als der darauffolgende Bürger-
krieg, in dem die katholische Kirche eine führende Rolle spielte, 1875 mit
einem Sieg der gemäßigten konservativen Elemente endete, versuchte die
Kirche abermals, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sie wollte die
Flammen des Liberalismus und der religiösen und politischen Freiheit end-
gültig austreten und setzte daher alles daran, dem widerstrebenden spani-
schen Volk von neuem das Konkordat von 1851 aufzuzwingen.
Die Kirche erhielt viel, aber nicht alles, was sie verlangte. Die Verfassung
von 1876 erkannte die katholische Religion als Staatsreligion an. Sie
79
verpflichtete den Staat, ebenso wie die Verfassung von 1869, die Kosten der
Kirche einschließlich des Unterhalts der Geistlichen zu übernehmen, und ließ
keine anderen Manifestationen zu außer denen der katholischen Kirche. Aber
der Führer der Konservativen, Canovas, brachte allen päpstlichen Protesten
und katholischen Drohungen zum Trotz Bestimmungen durch, nach denen
niemand wegen seines Glaubens oder wegen der Art seines Gottesdienstes
verfolgt werden durfte. Selbst diese bescheidene Toleranz wurde von der
Kirche in den letzten Jahrzehnten des vergangenen und den ersten Jahr-
zehnten dieses Jahrhunderts erbittert bekämpft. Die Kirche forderte hart-
näckig eine Beschränkung der religiösen und politischen Freiheiten nach
der anderen und zwang dem spanischen Volk Schritt für Schritt ihre Herr-
schaft auf. Ihren gefährlichsten Gegner sah die katholische Kirche in den
Liberalen. Sie waren trotz der starken Opposition der Kirche und der Kon-
servativen unablässig bemüht, Spanien aus der religiösen Zwangsjacke des
Katholizismus zu befreien. Die Liberalen kämpften im Einklang mit der
Verfassung gegen das angemaßte Recht der Bischöfe, private Schulen zu
überwachen und die Studenten der staatlichen Lehranstalten zum Besuch
religiöser Instruktionsstunden zu zwingen. Sie verlangten die Abschaffung
der religiösen Pflichtvorlesungen an den Universitäten und setzten sich für
die Pressefreiheit und andere liberale und demokratische Freiheiten ein.
Der unablässige Kampf der katholischen Kirche gegen den Liberalismus
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war in Spanien im Gegensatz zu
den meisten anderen europäischen Ländern erfolgreich. Hier blieben die
Menschen von der Gnade der katholischen Kirche abhängig. Die Gesetze
bürgerlich -rechtlicher, sozialer und selbst wirtschaftlicher und politischer
Art gaben lediglich den Rahmen ab für die ethischen und sozialen Grund-
sätze, die von der Kirche gelehrt oder begünstigt wurden. Die katholische
Kirche herrschte überall: in der Schule, in der Presse, in der Justiz, in der
Regierung, in der Armee. Dieses System stützte sich auf eine engstirnige
und militante Hierarchie, auf weltliche religiöse Orden, auf die Großgrund-
besitzer und auf die Monarchie. Seine Vertreter waren überall dort zu fin-
den, wo regiert und geherrscht wurde. Es vergiftete die gesamte Nation mit
seinem reaktionären Geist und machte alle Anstrengungen derer zunichte
- vor allem der Liberalen — , die dem frischen Wind der neuen Zeit Fenster
und Türen öffnen wollten.
Die katholische Kirche trat gegen die demokratischen Prinzipien auf,
indem sie versicherte, die Massen hätten keinerlei Macht zu beanspruchen,
da diese allein von Gott komme. Deshalb sei es auch falsch, eine „Selbst-
regierung" zu fordern. Die Kirche erstickte damit bereits im Keim jede Ten-
denz zur Selbstregierung und zu kollektiver Verantwortung, beschränkte
die Freiheit der Presse und kämpfte gegen alle modernen Forderungen, wie
80
die nach sozialer Befreiung der niederen Klassen und der Frauen, nach
religiöser Toleranz, nach Zulassung der Scheidung usw.
Der Haß der katholischen Kirche in Spanien gegen alle progressiven
Ideen war so groß, daß er selbst vor den Schulbüchern der Unterstufe nicht
haltmachte. Die katholische Kirche kontrollierte mit Hilfe der katholischen
Gemeindeverwaltungen fast alle staatlichen Schulen. Sie impfte den Kin-
dern vom ersten Schuljahr an ein, daß jeder, der sich mit Liberalen einließe,
in die Hölle käme. Diese Geistesverfassung herrschte selbst noch in den
zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, wie ein kirchlicher Katechismus
enthüllt, der 1927 in allen Schulen verteilt wurde. Er fordert, daß sich der
Staat der Kirche unterordnet wie der Körper der Seele, wie das Weltliche
dem Ewigen. Er zählt die Irrtümer des Liberalismus auf — Freiheit des
Gewissens, der Erziehung, der Versammlung, der Rede, der Presse — und
erklärt kategorisch, der Glaube an solche Dinge sei Häresie. In ihm heißt es
unter anderem:
kWas lehrt der Liberalismus?
Daß der Staat von der Kirche unabhängig sei.
Unter welche Sünden fällt der Liberalismus ?
Er fallt unter die schlimmsten Sünden gegen den Glauben.
Warum?
Weil er gleich aus mehreren Häresien besteht, die von der Kirche verdammt werden.
Ist es für einen Katholiken sündhaft, eine liberale Zeitung zu lesen?
Er darf die Börsenkurse lesen.
Welche Sünde begeht jeder, der einem liberalen Kandidaten seine Stimme gibt?
Im allgemeinen eine Todsünde."*
Diese groteske Engstirnigkeit und Un Versöhnlichkeit der katholischen
Kirche beherrschte alle Sphären der spanischen Gesellschaft, von der nied-
rigsten bis zur höchsten, einschließlich des Königs. 1910 stellte der Lehrer
und Beichtvater des jungen Königs, Ehrwürden Montana, in El Siglo Futuro
fest, der Liberalismus sei eine Sünde, und jeder Spanier, der mit Protestanten
an einem Tisch säße, würde exkommuniziert. (Nach H. B. Clarke)
Man kann sich leicht vorstellen, wie das Erziehungswesen in Spanien
aussah, wenn jahrzehntelang eine solche Politik betrieben wurde. 1870
waren noch mehr als 60 Prozent der Bevölkerung Analphabeten. 1900 be-
trug das Budget für Erziehungszwecke, einschließlich der Mittel für die
Mönchsschulen, nicht mehr als 17 Millionen Peseten. Auch 1930 war es trotz
der Erhöhung auf 166 Millionen Peseten nach wie vor unzureichend. Allein
in Madrid genossen 80 000 Kinder keinen Schulunterricht. Und die Kinder,
die das Glück hatten, zur Schule gehen zu können — sie wurde in der Regel
* Nach Nueva Ripalda, enriquecido con varios Apdndices^ 14. Auflage 1927, oder Una
Explicaciön Breve y Sencilla del Catequismo Catölico, von R. P. Angel Maria de Arcos.
6 M359
81
vom Gemeindepfarrer geleitet -, lernten dort so wenig, daß „die Eltern sich
gewöhnlich beschweren, ihre Kinder verbrächten in den staatlichen Schu-
len die Hälfte der Zeit damit, Rosenkränze zu beten und die Geschichte der
Heiligen herunterzusagen, und lernten nicht einmal richtig lesen". (Nach
The Spanish Labyrinth, Brenan, Seite 51)
Die Kirche übte nicht nur eine Diktatur über den Geist des Landes aus,
sondern kontrollierte auch einen großen Teil seiner Reichtümer. Sie verlor
im Lauf der letzten sechzig Jahre Millionen Gläubige, nahm aber von 1874
bis zum Sturz der Monarchie (1931) ständig an Macht und Reichtum zu.
Nach dem Tod des Königs Alfons XII. machte die königliche Regentin als
Gegenleistung für die Protektion des Papstes große Schenkungen an die
katholische Kirche und an katholische Schulen und Seminare. Diese Semi-
nare wurden Sammelpunkte der französischen Geistlichen, die Frankreich
infolge der Säkularisationsgesetze verlassen hatten. Der Vatikan, die spa-
nische Hierarchie, die Königin und der französische Klerus arbeiteten Hand
in Hand, um den „liberalen Atheismus" auszurotten. Eine Welle des Kleri-
kalismus überschwemmte Spanien, in dem sich mehr Konvente, Seminare
und religiöse Stiftungen befanden als je zuvor.
Die Führer dieser Bewegung waren die Jesuiten. Sie benutzten seit Jahr-
hunderten ihren Reichtum, politische Macht zu kaufen, und, vice versa,
ihre Macht, um neue Reichtümer anzuhäufen. Ihre finanzielle Macht war
so groß, daß sie bereits 1912 „ein Drittel des spanischen Kapitals kontrol-
lierten" (La Revue, J. Aguilera, Sekretär des Formento, 1912). Ihnen gehör-
ten Eisenbahnen, Bergwerke, Fabriken, Banken, Reedereien und Orangen-
plantagen. Ihr Kapitalbesitz belief sich auf etwa 60 Millionen Pfund
Sterling. Diese Kapitalkonzentration in den Händen der Jesuiten hatte sehr
nachteilige Folgen für die spanische Nation; die mittleren und niederen
Klassen mußten unter erschütternden Bedingungen ihr Leben fristen. Die
katholische Kirche war, um dieses Kapital zu mehren und zu schützen, dar-
auf angewiesen, den gesellschaftlichen Status quo zu erhalten und auf das
engste mit den Reichen zusammenzuarbeiten, die ihr oft als Gegenleistung
für die Hilfe, die sie ihnen gewährte, große Erbanteile vermachten. Man
erkennt daraus leicht, daß das Schicksal der Kirche untrennbar mit dem der
reaktionärsten Elemente verbunden war, daß beide gemeinsam einen Wall
gegen jede kulturelle, wirtschaftliche, soziale oder politische Erneuerung
bildeten. So wurde Spanien von einer Kaste regiert, die sich bemühte, eine
in anderen europäischen Ländern längst versunkene Vergangenheit am
Leben zu erhalten.
Diese erzreaktionäre Politik der katholischen Kirche führte dazu, daß sie
immer mehr Anhänger verlor. 1910 hatten bereits zwei Drittel der Bevölke-
rung der Kirche de facto den Rücken gekehrt. Zivile Eheschließungen und
82
Beisetzungen fanden immer größere Verbreitung. Als die Monarchie 1931
gestürzt wurde, erreichte die kirchenfeindliche Einstellung einen für die
katholische Kirche gefährlichen Höhepunkt. Nach Angaben von Ehrwürden
Peiro besuchten zu dieser Zeit in Zentralspanien nur 5 Prozent der länd-
lichen Bevölkerung den Gottesdienst, in Andalusien war es nur 1 Prozent,
in vielen Dörfern las der Priester die Messe vor leerer Kirche. In einer
Madrider Gemeinde kamen von 80 000 Einwohnern nur 5,5 Prozent zur
Messe. 25 Prozent aller Kinder wurden nicht getauft, mehr als 40 Prozent
der Sterbenden lehnten die Letzte Ölung ab. Die Ursachen für diese Hal-
tung der Bevölkerung lagen zum Teil im Obskurantismus der katholischen
Kirche, in ihrem Reichtum und in der militanten Einstellung ihrer Hier-
archie.
Die katholische Kirche hatte sich bemüht, die Arbeiter zu organisieren,
um sie besser in der Hand zu haben. Bereits 1861 hatte ein Jesuit, Ehr-
würden Vicente, in Valencia die Centros Catölicos de Obreros, eine katho-
lische Gewerkschaft, gegründet. Sie ging jedoch 1874 wieder ein, weil die
spanische Hierarchie gegen katholische Gewerkschaften war. Erst ein Be-
fehl Leos XIII. veranlaßte die spanische Geistlichkeit, diese Angelegenheit
wieder in die Hand zu nehmen. Die daraufhin gegründeten Klubs und Ge-
sellschaften wurden zumeist von Unternehmern geleitet. Da diese sich aber
keinerlei Vorteile davon versprachen, waren die Organisationen im Süden
und Osten des Landes bereits um 1905 wieder von der Bildfläche verschwun-
den. Im Norden, wo sie erfolgreicher gewesen waren, hatten sich zwei Grup-
pen herausgebildet. Die eine nannte sich Consejo Nacional de las Corpora-
ciones Catölicos Obreros. Sie unterstand dem Erzbischof von Toledo und war
dadurch automatisch unter die Kontrolle der Unternehmer geraten. Die
Hierarchie predigte den Arbeitern Ruhe und Ordnung und untersagte
Streiks auf das strengste. Von einer Vertretung der Arbeiterinteressen
konnte also keine Rede sein. Die andere Gruppe nannte sich Feder aciön
Nacional de Sindicatos Catölicos Libres. Sie war 1912 gegründet worden
und arbeitete mit mehr Erfolg als die andere Gruppe. Den stärksten Einfluß
hatte sie in den baskischen Provinzen. Diese katholischen Arbeiterorgani-
sationen waren selbstverständlich nichts anderes als Fallen, in denen die
unruhig gewordenen Arbeiter gezähmt werden sollten. Sie sollten davon
abgehalten werden, sich denen anzuschließen, die der katholischen Kirche
bereits den Rücken gekehrt hatten. Am kirchenfeindlichsten waren die
arbeitenden Schichten der Städte. Unter ihnen breitete sich der Anarcho-
Syndikalismus wie ein vom Wind getriebenes Feuer aus. Für sie war die
Kirche identisch mit den großen Grundherren und den Unternehmern. Und
welche Einstellung die Kirche zu den Arbeitern hatte, offenbarte sich am
klarsten in den Worten Bravo Murillos, der gesagt haben soll: „Sie wollen
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von mir die Genehmigung für eine Schule für sechshundert Arbeiter? Nicht,
solange ich lebe. Wir brauchen keine Menschen, die denken, sondern Ochsen,
die arbeiten können." Kein Wunder, daß unter solchen Umständen das
spanische Volk einen Hang zu wirtschaftlichen und sozialen Extremismen
zeigte und die arbeitenden Schichten sich, statt Veränderungen im Sinne
des Sozialismus anzustreben, dem Anarchismus und Syndikalismus zu-
wandten.
Die Kirche und die herrschenden Klassen gingen vereint mit den rück-
sichtslosesten Unterdrückungsmethoden gegen diese Aktivität d er Volksmassen
vor. Aus Angst um die Erhaltung des Status quo verfolgten sie ein halbes
Jahrhundert lang nicht nur die Extremisten, sondern auch die gemäßigten
Elemente und jeden, der verdächtig war, eine wenn auch noch so geringe
Änderung des bestehenden Zustandes anzustreben oder revolutionäre Sym-
pathien zu hegen. In der Zeit von 1890 bis zum Ausbruch des ersten Welt-
krieges verwandelte sich Spanien in ein riesiges Gefängnis. Tausende wurden
eingekerkert. Hunderte erschossen. Gegen politische Gefangene wurden
Foltermethoden angewandt, wie sie nur im Mittelalter gegen Häretiker
gebräuchlich gewesen waren.
Trotzdem begann auch die spanische Bevölkerung infolge der Erschütte-
rungen und Unruhen, die der erste Weltkrieg mit sich brachte, und ange-
regt durch die Ideen fortschrittlicher spanischer Schriftsteller wie Galdos
und Ibanez, sich bedrohlich zu regen. Die katholische Kirche, die weiter
Massen ihrer Anhänger verlor, der König, der peinliche Skandale fürchtete,
die Armee und die Großgrundbesitzer — alle verschworen sich gegen das
Volk und errichteten 1923 eine Diktatur mit dem monarchistischen General
Primo de Rivera an der Spitze. (Ein Jahr zuvor hatte Mussolini in Italien
die Macht ergriffen.) Die wenigen Freiheiten, deren sich das spanische
Volk erfreute, verschwanden; das wirtschaftliche und soziale Elend wuchs
an; hinter dem Schein der „Ordnung", die der Diktator mit Hilfe der Poli-
zei und der katholischen Kirche aufrechterhielt, verschlechterten sich die
Lebensverhältnisse des spanischen Volkes mehr denn je. Am Status quo
wurde nicht gerüttelt, im Gegenteil, eine Rückwärtsbewegung wurde ein-
geleitet. Die Mittel für das Erziehungswesen wurden von 37 Millionen auf
33 Millionen Peseten gesenkt, dagegen die für die Geistlichkeit von 62 Mil-
lionen auf 68 Millionen Peseten erhöht, damit sich der Reichtum der katho-
lischen Kirche mehre.
Eine Zeitlang unterstützten auch viele gemäßigte Kreise, die das alte
Regime satt hatten, die Diktatur Primo de Riveras. Sie hofften, daß die
Diktatur zu einer konstituierenden Nationalversammlung, den Cortes, füh-
ren würde. Aber sie wurden bitter enttäuscht. Immer mehr wurde offenbar,
daß sich die Weisheit des Diktators in Spitzeltum, Repressalien und Zensur-
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maßnahmen erschöpfte, so daß sich sogar die Armee allmählich von ihm
abwandte. Das totalitäre Regime Riveras machte sich unter den meisten
seiner früheren Anhänger - mit Ausnahme der katholischen Kirche und der
wütendsten Konservativen — so verhaßt, daß es im Januar 1930 gestürzt
wurde.
Alle bis dahin unterdrückten Kräfte des spanischen Volkes kamen nun
zutage. Sie forderten hartnäckig die Beseitigung der katholischen Monarchie
und die Trennung von Kirche und Staat. Eine Koalition der Republikaner
und Sozialisten eroberte 1951 bei den Gemeindewahlen in vielen Städten
ein Übergewicht von drei zu eins. Als die offiziellen Ergebnisse bekannt
wurden, flüchtete der König nach Frankreich. Zwei Monate später fanden
die allgemeinen Wahlen statt, bei denen die katholischen und konservativen
Parteien zusammen nur 121 Sitze errangen.
Wie Azanas in den Cortes erklärte, hörte Spanien damit auf, „ein katho-
lisches Land zu sein". Die Monarchie wurde abgeschafft, Spanien wurde zur
Republik erklärt. In den folgenden drei Jahren öffnete Spanien seine Tore
weit all den Reformen, die von der katholischen Kirche, der Monarchie und
ihren Alliierten so hartnäckig hintertrieben worden waren. Die Cortes er-
ließen Gesetze, die der Kirche den staatlichen Charakter nahmen und einen
Teil ihrer ungeheuren Reichtümer verstaatlichten. Die Jesuiten, die die
treibenden Kräfte hinter den Kulissen der katholischen Diktatur Primo de
Riveras gewesen waren, wurden des Landes verwiesen; den Mönchen und
Nonnen wurde der Handel sowie jegliche Betätigung auf dem Gebiet
der Erziehung, auf dem die katholische Kirche bislang das Monopol hatte,
untersagt, die Eheschließung wurde säkularisiert und die Scheidung
erlaubt, Redefreiheit, Pressefreiheit und religiöse Toleranz wurden ver-
kündet.
Der spanische Klerus und der Vatikan kämpften mit allen ihnen zu Ge-
bote stehenden Mitteln gegen das spanische Volk. Die Kirche appellierte an
das religiöse Gewissen der Bevölkerung, nicht zuzulassen, daß die „roten
Antichristen" Spanien regierten, und „Schluß zu machen mit den Feinden
des Königreichs Jesu Christi" (Kardinal Segura). Ein Hirtenbrief der spa-
nischen Bischöfe und eine päpstliche Enzyklika (3. Juni 1933) wandten sich
mit dem gleichen Anliegen an die spanischen Gläubigen und riefen sie zum
„heiligen Kreuzzug für die völlige Wiederherstellung der kirchlichen
Rechte" auf. Kardinäle und Bischöfe hetzten mündlich und schriftlich die
Bevölkerung auf, offen gegen die Regierung zu revoltieren.
Im Gegensatz zu den katholischen Regimen der Vergangenheit war die
neue Regierung, entsprechend ihren freiheitlichen Prinzipien, kein Freund
von Repressalien. Die antiklerikalen Parteien enthielten sich daher nach
dem Wahlsieg auch jeglicher Gewaltmaßnahmen. Erst vier Wochen später,
85
nach den fanatischen Bannflüchen der katholischen Kirche und der Hetze
des Kardinals Segura, steckten empörte Arbeiter einzelne Kirchen und Klö-
ster in Brand.
Diese Gewalttätigkeiten zogen andere nach sich. Die antiklerikalen
Parteien, die eine so bemerkenswerte Toleranz an den Tag gelegt hatten,
waren angesichts der fortgesetzten Provokationen und Drohungen der
katholischen Kirche und ihrer Anhänger gezwungen, Gewalt zu ge-
brauchen. Zu (Jen Anhängern der Kirche gehörten die reaktionärsten Kräfte
des früheren Regimes und die zurückgebliebensten Teile der Landbevölke-
rung, die dank der katholischen Kirche selbst im dritten Jahrzehnt des
20. Jahrhunderts noch zu 80 Prozent Analphabeten waren.
Die Republikaner hatten das Erbe eines bankrotten Spaniens angetreten
und standen daher vor großen Schwierigkeiten. Sie waren sich in allen anti-
monarchistischen und antiklerikalen Fragen einig, aber in den wichtigsten
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen gingen ihre Meinun-
gen auseinander. Damit schwächten sie sich selbst. Bei den Wahlen im Jahre
1953 erhielten die Mittel- und Linksparteien zwar 266 Sitze, aber die Rech-
ten errangen 207 Sitze und erweckten damit den Anschein, als hätten sie in
der kurzen Zeit der republikanischen Herrschaft größere Unterstützung
gefunden als zuvor.
Dieses Wahlergebnis hatte jedoch andere Ursachen. Einmal waren die
Bauern infolge der bisher unerfüllten Landversprechungen der Regierung
ungeduldig geworden und hatten eigene Organisationen gebildet, die An-
schluß nach rechts suchten; zum anderen hatten sich die Anarchisten ge-
weigert, an den Wahlen teilzunehmen; und schließlich hatte ein Teil der
Frauen, denen die Republik entsprechend ihren demokratischen Grund-
sätzen das Wahlrecht gewährt hatte, mit Ausnahme der Arbeiterfrauen,
unter dem Einfluß der Geistlichen für die Kirche gestimmt.
Eine weitere Ursache für den Rückgang des Stimmenanteils war die neue
Taktik, die die katholische Kirche unter den veränderten Umständen an-
gewandt hatte. Sie versuchte mit Hilfe einer politischen Partei ihre Feinde
auf deren eigenem Boden zu schlagen. Zu dieser Taktik griff sie gleich
nach der Ausrufung der Republik, ihre Initiatoren waren wieder einmal
die Jesuiten. Eine Partei nach dem Vorbild der deutschen Zentrums -
partei sollte nicht nur die Gutsherren und die Offiziere, sondern vor allem
die Massen des Volkes hinter sich bringen. Sie wurde 1931 unter dem
Namen Aceton Populär gegründet und war nichts anderes als ein poli-
tischer Ableger der Katholischen Aktion (siehe Kapitel V), der Acciön
Catölica.
Die politische Taktik dieser Partei bestand darin, die Republik zu tole-
rieren, die antikatholischen Gesetze zu bekämpfen und Einfluß auf die
86
antikatholische Regierung zu gewinnen, um sie zu stürzen. Die Partei sollte
das gegnerische Lager aufsplittern und dann selbst die Macht ergreifen. Es
war die Taktik des Trojanischen Pferdes.
Als der Vatikan erkannte, daß er mit den alten Methoden nicht weiter-
kam, wies er die spanische Hierarchie an, sich der neuen Taktik zu fügen
und eine nachgiebigere Haltung einzunehmen.
Dirigent der neuen Bewegung war Angel Herrera, der Direktor einer
von den Jesuiten kontrollierten Zeitung. Er lancierte den neuen Führer
der Katholiken, Gil Robles, einen Schüler der Salesianer. Gil Robles be-
suchte Hitler, Dollfuß und andere, wurde ein enthusiastischer Bewunderer
der Nazis und schwärmte, ähnlich wie Dollfuß in Österreich, von der
Schaffung eines Ständestaates.
Eine lärmende Propagandakampagne nach deutschem Muster setzte ein,
unterstützt vom Klerus und von den katholischen Zeitungen. Sie war so
erfolgreich, daß Gil Robles ein Abkommen mit den Radikalen über eine
Zusammenarbeit vor allem in wirtschaftlichen Fragen schließen konnte.
Der Führer der Liberalen, Lerroux, nahm gegen Widerstände innerhalb
der Regierung Katholiken in sein Kabinett auf.
Die Arbeiter, die eine radikale Veränderung der wirtschaftlichen und
sozialen Zustände erwarteten, kamen immer mehr zu der Erkenntnis, daß
die Zusammenarbeit der Liberalen mit den Katholiken und das Zaudern der
Sozialisten ihre Hoffnungen zunichte machten. Sie organisierten als Protest
gegen die Hereinnahme von Katholiken in die Regierung einen General-
streik, der an vielen Stellen des Landes in einen bewaffneten Aufstand um-
schlug (Herbst 1934). Die Regierung Lerroux ging mit so rücksichtsloser
Grausamkeit gegen die Arbeiter vor, daß sie nach Bekanntwerden der Un-
taten unter dem Druck der empörten öffentlichen Meinung zurücktreten
mußte.
Dieses Zwischenspiel offenbarte zwei bemerkenswerte Tatsachen: die
fanatische Grausamkeit der Polizei und die Rolle der marokkanischen
Truppen. Die Polizei bestand vor allem aus Katholiken, die darauf gedrillt
waren, „die gottlosen Feinde der Kirche auszurotten". Die Marokkaner
wurden von General Francisco Franco aus Afrika nach Spanien gebracht.
Franco führte kurz vor dem erwarteten Generalstreik lange Besprechungen
im Kriegsministerium. Gil Robles, der inzwischen als einer der katholischen
Minister in das Kabinett eingetreten war, wollte von Franco wissen, ob es
möglich sei, die marrokanischen Truppen gegen die Arbeiter einzusetzen.
Der Einfluß der katholischen Partei hatte sich inzwischen durch die
Uneinigkeit im gegnerischen Lager und infolge des Abkommens mit den
Liberalen weiter verstärkt. Ihre Anhänger begannen bereits die heuchlerische
Maske angeblicher Loyalität zur Republik abzuwerfen und fühlten sich
87
stark genug, ihre Reihen nach dem Muster der Faschisten und der Nazis zu
organisieren und ihre politischen Gegner zu bedrohen und zu überfallen.
Gil Kohles verfügte bereits über detaillierte Pläne für das erneute Verbot
der Ehescheidung, die Wiedereinführung des obligatorischen Religions-
unterrichts, den Aufbau eines spanischen Ständestaates usw. Aber seine
Anhänger waren sich nicht sicher, ob sie die Macht so leicht und so bald
erringen würden, wie sie hofften; sie bereiteten sich daher gleichzeitig auf
bewaffnete Auseinandersetzungen vor und koppelten die politischen Maß-
nahmen mit militärischen. Gil Robles forderte und erhielt die Leitung des
Kriegsministeriums. Nachdem er sich dort mit General Franco als rechte
Hand eingenistet hatte, begann er, die Armee zu reorganisieren und von
allen Offizieren zu säubern, die nach links tendierten. Er übernahm den
Oberbefehl über die Bürgergarde und baute oberhalb von Madrid in der
Sierra Guadarrama befestigte Stellungen. Die Kräfte der katholischen Re-
aktion trafen also unter den Augen der Republik ganz offen alle Vorberei-
tungen zu einer Revolte für den Fall, daß es ihnen nicht gelingen sollte, die
Macht auf legalem Wege zu erobern. Im ganzen Land kam es zu blutigen
Ausschreitungen, die Anzahl der politischen Morde nahm erschreckend zu.
Die zugespitzte Situation zwang die Linken, sich zu vereinen. Im Januar
1936 bildeten die Radikalsozialisten, Sozialisten, Syndikalisten und Kom-
munisten die Volksfront.
Die Wut der katholischen Kreise einschließlich der Kirche kannte keine
Grenzen. Die spanische Hierarchie, die mit Gil Robles Hand in Hand ar-
beitete, ging einen Schritt weiter. Am 24. Januar 1936, drei Wochen vor
den Parlamentswahlen, richtete Kardinal Görna y Tomas einen Hirtenbrief
an alle Gläubigen, in dem er sich im Namen der katholischen Kirche öffent-
lich hinter die Acciön Populär stellte, Bannflüche gegen die Volksfront
schleuderte und die Gläubigen beschwor, gegen die „Roten" zu stimmen.
Präsident Alcalä Zamora hatte erkannt, daß es unmöglich geworden war,
in den Cortes eine arbeitsfähige Mehrheit zu erhalten, und daher die Auf-
lösung des Parlaments verfügt. Bei den Wahlen am 16. Februar 1936 errang
die Volksfront eine überwältigende Mehrheit von 267 Sitzen gegenüber
132 Sitzen der Rechten und 62 Sitzen der Mitte.
Der Sieg der Volksfront beflügelte die arbeitenden Klassen und rief bei
den katholischen Kräften, die fest mit ihrem Sieg gerechnet hatten, eine
Panik hervor. Sie fürchteten die Ausrufung einer sozialistischen Republik.
Auf der anderen Seite rechneten die Linken mit einem Staatsstreich der
Rechten, da deren Machtstreben eine so vernichtende Niederlage erlitten
hatte. Diese Annahme war begründet, denn die katholische Seite hatte sich
gerade auf diesen Fall vorbereitet; nachdem ihr erster und zweiter Schritt
fehlgeschlagen war, mußte der dritte versucht werden: die offene Rebellion.
88
Von nun an galten alle Überlegungen des Vatikans, der spanischen Hier-
archie und der vorgesehenen Führer der Rebellion der Frage, wie der sieg-
reiche Gegner am besten zu vernichten sei.
Der Vatikan war entschlossen, Gewalt anzuwenden, nachdem sich her-
ausgestellt hatte, daß die Politik der Kirche, die Macht auf politischem Weg
zu erringen, wie in anderen Ländern so auch in Spanien gescheitert war und
daß sich ihr zweiter, schon etwas gröberer Versuch, durch einen halblegalen
Staatsstreich die Macht zu ergreifen, ebenfalls als Fehlschlag erwiesen hatte.
Der Weg der Gewalt war der einzige Weg, der dem Vatikan blieb, wenn er
Spanien nicht verlieren wollte, weil er nur mit der Hilfe einer Minderheit
rechnen konnte und die Mehrheit des Volkes gegen sich wußte. Die letzten
Wahlen hatten gezeigt, daß nur ein knappes Drittel der Wahlberechtigten —
und das obendrein in der Mehrzahl Frauen — die katholische Kirche unter-
stützte.
Rechte, von Katholiken geführte Elemente organisierten nach der Februar-
niederlage offen eine ganze Serie von Terrorakten: Die Falange Espanola y
1932 von dem Sohn Primo de Riveras gegründet, schob sich in den Vorder-
grund, obwohl sie trotz ihrer Vereinigung mit der faschistischen Gruppe
des Dr. Alvinana vor den Wahlen kaum eine Rolle gespielt hatte. Die An-
hänger Gil Robles, von Haß gegen die Republik durchdrungen, strömten
in die Falange. Die katholische Jugendorganisation unter ihrem Sekretär
Serrano Suner, dem Schwager General Francos, trat im April geschlossen
zur Falange über. Andere rechte Elemente organisierten sich in monarchi-
stischen Gruppen, deren Führer, Calvo Sotelo, öffentlich den militärischen
Aufstand forderte.
Die Falangisten lauerten ihren Gegnern auf, verprügelten sie und
schlugen sie tot. Auch viele gemäßigte Katholiken fielen ihnen zum Opfer.
Mit Maschinenpistolen bewaffnete Banden zogen durch die Straßen
Madrids und ermordeten Richter, Journalisten, Sozialisten und Kommuni-
sten. Sie unterschieden sich in nichts von den faschistischen Schwarzhemden
und von der SS der Nazis. Täglich kam es überall in Spanien zu Kämpfen
zwischen Falangisten und Republikanern.
Neben der Falange gab es eine Offiziersorganisation, die Union Militär
Espanola f die schon im März 1933, in Voraussicht eines möglichen Militär-
putsches, durch ihren Führer enge Verbindungen mit der italienischen
Regierung und mit Mussolini aufgenommen hatte. Ihre Vorbereitungen zu
einem Staatsstreich auf der Grundlage eines Bündnisses zwischen Armee
und Kirche waren bereits im März 1934 abgeschlossen. Ein Besuch in
Italien diente dazu, sich „für den Fall eines Bürgerkrieges in Spanien nicht
nur die Unterstützung der italienischen Regierung, sondern auch die der
faschistischen Partei" z~a sichern. (Nach einer Rede, die Goicoechea am
89
22. November 1957 in San Sebastian hielt und über die der Manchester
Guardian am 24. Dezember 1937 berichtete.) Die Koordinierung der Bürger-
kriegspläne zwischen den Monarchisten und den Katholiken war so weit
gediehen, daß die katholischen Führer, Gil Robles und General Franco,
unmittelbar nach dem Sieg der Volksfront die Stirn hatten, dem republika-
nischen Premierminister die Beteiligung an einem Militärputsch vorzu-
schlagen, der noch vor dem Zusammentritt der neuen Cortes inszeniert
werden sollte. Das geht aus einer Erklärung hervor, die der ehemalige
Premierminister Portela Valladares auf einer Sitzung der Cortes 1937 in
Valencia abgab.
Im Frühjahr und zu Beginn des Sommers 1936 verstärkte sich die Span-
nung immer mehr, eine Streikwelle jagte die andere, bewaffnete Zusammen-
stöße und politische Morde folgten einander in immer kürzeren Ab-
ständen.
Im Juni war es den verantwortlichen Männern der Regierung klar, daß
ein Militärputsch unmittelbar bevorstand. Die Republikaner verlangten
Waffen, aber die Regierung verweigerte sie ihnen. Am 13. Juni wurde,
offenbar als Vergeltung für die Ermordung eines Sozialisten durch die
Falange, Calvo Sotelo, der Führer der Monarchisten, getötet. Die weitver-
zweigten Organisationen der Katholiken und Monarchisten und ihrer Ver-
bündeten befanden sich in Alarmbereitschaft.
Am 16. Juli war es soweit. In Spanisch-Marokko begann der Militär-
putsch. Ceuta und Melilla fielen in die Hände der Aufständischen. Gleich-
zeitig putschten die Offiziere fast aller spanischen Garnisonen. Die katho-
lische Hierarchie schloß sich dem Aufstand sofort an und bat um den Segen
des Allmächtigen für den neuen Kreuzzug. General Franco beeilte sich, dem
Papst den Beginn des Aufstandes zu melden, bevor die Nachricht eine andere
Hauptstadt erreicht hatte. Der spanische Bürgerkrieg hatte begonnen.
Die katholischen Rebellen hofften, ganz Spanien innerhalb weniger Tage
in die Hand zu bekommen. Sie hatten sich sorgfältig vorbereitet und ver-
fügten außerdem nicht nur über den größeren Teil der Armee, sondern auch
über die Bürgergarde, über die spanische Fremdenlegion, über eine Division
marokkanischer Truppen, über monarchistische Aufgebote, die insgeheim
ausgebildet worden waren, sowie über italienische und deutsche Panzer und
Flugzeuge.
Die Regierung hatte nur die republikanischen Schutzgarden und die
schwache Luftwaffe auf ihrer Seite. Aber die Empörung und Begeisterung
des spanischen Volks vereitelte Francos Staatsstreich. Er war von Tag zu
Tag mehr auf die Hilfe Mussolinis und Hitlers angewiesen, die seit lan-
gem über das Komplott unterrichtet waren und vom ersten Tag an Waffen
und Soldaten nach Spanien entsandten. Der spanische Konflikt nahm
90
internationalen Charakter an und offenbarte damit sein eigentliches Wesen.
Es war eine vorweggenommene Auseinandersetzung, ein militärisches
Manöver auf spanischem Boden, ein Vorspiel dessen, was die Welt wenige
Jahre später an den Rand des Abgrunds brachte ; ein Konflikt zwischen zwei
unterschiedlichen sozialen Systemen und politischen Lehren.
Selbst die protestantischen Vereinigten Staaten von Amerika griffen in
die innerspanischen Kämpfe ein und halfen Franco, nicht zuletzt dank den
Bemühungen des amerikanischen katholischen Klerus, der seinen ganzen
Einfluß aufbot, die faschistischen spanischen Rebellen in den Vereinigten
Staaten populär zu machen.
Diese beinahe schon direkte Unterstützung Francos war nicht nur auf
die skrupellose Hetze der katholischen Kirche in ihrer Presse und von der
Kanzel zurückzuführen, sondern auch auf den Mißbrauch des Einflusses,
den die katholische Kirche in der amerikanischen Politik genoß; sie war
nicht zuletzt eine Folge der unmittelbaren Bemühungen des Vatikans im
State Department, wo er auf mehr Bereitwilligkeit stieß, als er erwartet
hatte.
So stellten sich also nicht nur die Regierungen fast aller europäischen
Staaten - mochten sie sich katholisch, faschistisch oder demokratisch nen-
nen — , sondern auch die Regierung der mächtigen protestantischen USA
gegen die spanische Republik. Großbritannien — ein demokratisches Land -
betrieb eine Politik der „Beschwichtigung des Faschismus", stimmte der
Farce der Nichteinmischung zu — dank deren Mussolini den Putschisten
ungefähr 100 000 Mann senden konnte, während der Republik jegliche
Waffenlieferung verweigert wurde — und übte einen ständigen Druck auf
andere Länder aus, ihre Grenzen Franco nicht zu verschließen.
Die Sowjetunion, die der Republik bereits Hilfe geleistet hatte, zog
ihre Freiwilligen schließlich auf Grund eines Völkerbundbeschlusses
zurück, an den sich jedoch, gedeckt durch den Vatikan, weder das faschi-
stische Italien und Nazideutschland noch Großbritannien und Frankreich
hielten.
Hier ist nicht der Platz, die unglaublichen Intrigen während des spa-
nischen Bürgerkrieges zu schildern. Uns geht es um die unmittelbare und
mittelbare Hilfe, die der Vatikan Franco gewährte. Wir wissen bereits,
welche Rolle der Vatikan bei der Vorbereitung des Bürgerkriegs gespielt
hatte. Die spanische Hierarchie hatte nicht nur die Republikaner bekämpft
und die Katholiken organisiert, sondern war darüber hinaus auch einer der
Rädelsführer der Revolte gewesen und hatte die Verbindungen zwischen
Gil Robles, Franco und anderen sowie zu Papst Pius XL und dessen Staats-
sekretär geknüpft, die Monate vorher bereits wußten, was geplant war. Als
die Revolte begann, stellten sich die spanische Hierarchie und der Vatikan
91
offen auf die Seite Francos.Die spanischen Bischöfe hetzten die Bevölkerung
zum Kampf gegen die Roten auf. Der Papst appellierte an die katholische
Welt, dem katholischen Spanien zu helfen. Die vatikanische Diplomatie
arbeitete Hand in Hand mit Hitler und Mussolini, um die Waffenlieferun-
gen und Truppentransporte für die Rebellen zu sichern. Der Vatikan nahm
im Interesse Francos nicht nur mit Mussolini, sondern auch mit Hitler enge
Verbindung auf. Er traf mit ihm ein Abkommen, in dem er sich als
Gegenleistung für die Hilfe in Spanien verpflichtete, in der ganzen katho-
lischen Welt eine breit angelegte Kampagne gegen den Bolschewismus zu
entfachen. Wir werden später sehen, weshalb Hitler sich damals so um die
Zusammenarbeit mit der Kirche bemühte. Sobald klar war, daß Franco den
Bürgerkrieg nicht sofort gewinnen konnte, eröffnete der Vatikan auf direkte
Weisung des Papstes eine wütende antibolschewistische Hetzkampagne.
Dadurch unterstützte er Hitlers innen- und außenpolitische Pläne; Hitler
brauchte zur Durchsetzung seiner Politik das Schreckgespenst des Bolsche-
wismus. Im Dezember 1936 gab der Papst selbst das Startzeichen zu dem
internationalen katholischen Propagandafeldzug gegen die spanische Repu-
blik, als er vor 500 spanischen faschistischen Emigranten die zivilisierte
Welt aufrief, sich gegen den Bolschewismus zu erheben, der „bereits alle
Beweise seines Willens zur Zerstörung jeglicher Ordnung von Rußland bis
China, von Mexiko bis Südamerika erbracht" habe. Der Bolschewismus habe,
so fuhr der Papst fort, „die Feuer des Hasses und der Verfolgung in Spanien
entzündet", die sich, falls nicht unverzüglich Gegenmaßnahmen getroffen
würden, gegen „alle göttlichen und menschlichen Institutionen richten
werden". Die Völker und die Nationen müßten sich vereinen und die Ge-
fahr abwehren. Der Papst beendete seine Rede, indem er „all denen, die die
schwierige und gefährliche Aufgabe übernommen haben, die Ehre Gottes
und der Religion zu verteidigen und wiederherzustellen", seinen Segen er-
teilte. Damit begann in der ganzen katholischen Welt eine antibolsche-
wistische, gegen die spanische Republik gerichtete Kampagne. Sie bediente
sich der gleichen Phrasen und der gleichen Worte, die die faschistische und
nazistische Propagandamaschine bis wenige Monate vor dem zweiten Welt-
kriege täglich gebrauchte.
In Deutschland hatten die Bischöfe auf unmittelbare Weisung des
Kard inalstaatssekretärs Pacelli bereits am 30. August 1936 einen Hirten-
brief veröffentlicht, in dem sie die gleichen Gedanken aussprachen und ein
furchteinflößendes Bild zeichneten, was geschehen würde, falls die „Bolsche-
wisten" Spanien eroberten. Unmißverständlich fügten sie hinzu: „Welche
Aufgabe damit unserem Volk und Vaterland zufällt, ergibt sich von selbst.
Möge es unserem Führer mit Gottes Hilfe gelingen, dieses ungeheuer
schwere Werk der Abwehr in unerschütterlicher Festigkeit unter treuester
92
Mitwirkung aller Volksgenossen zu vollbringen!" (Zitiert nach dem Kirch-
lichen Amtsblatt für die Diözese Münster, Jahrgang LXX., Nr. 21)
Einige Monate später verlieh der Papst der Kampagne neuen Auftrieb,
indem er in einer Rede erklärte, der spanische Bürgerkrieg sei eine „Mah-
nung, ernster und drohender als alle bisherigen". „Das sind Ereignisse, die
mit erschreckender Gewißheit und Deutlichkeit offenbaren und ankündigen,
was für Europa und die ganze Welt bevorsteht, wenn man nicht sofort und
wirksam zu Schutz- und Heilmitteln greift." (Zitiert nach Kölner Akten-
stücke, Verlag J. B. Bachem, Köln, 1949, S. 162)
Die deutschen Bischöfe folgten dem päpstlichen Beispiel und veröffent-
lichten am 3. Januar 1937 einen Hirtenbrief, in dem sie schrieben:
„Geliebte Diözesanen! Der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler hat den Anmarsch
des Bolschewismus von weitem gesichtet und sein Sinnen und Sorgen darauf gerichtet,
diese ungeheure Gefahr von unserem deutschen Volk und dem Abendland abzuwehren.
Die deutschen Bischöfe halten es für ihre Pflicht, das Oberhaupt des deutschen
Reiches in .diesem Abwehrkampf mit allen Mitteln zu unterstützen, die ihnen aus dem
Heiligtum zur Verfügung stehen. So gewiß der bolschewistische Todfeind der staatlichen
Ordnung und zugleich und sogar in erster Linie Totengräber der religiösen Kultur ist
und seine ersten Angriffe immer gegen die Diener und Heiligtümer des kirchlichen
Lebens richtet, wie die Vorgänge in Spanien aufs neue beweisen . . . , so gewiß ist die
Mitarbeit an der Abwehr dieser satanischen Macht auch eine religiöse und kirchliche
Zeitaufgabe geworden. Den Bischöfen liegt es ferne, die Religion in das politische Ge-
biet zu tragen oder gar zu einem neuen Krieg aufzurufen. Wir sind und bleiben Send-
boten des Friedens und reden als solche den religiösen Menschen ins Gewissen, an der
Abwehr der großen Gefahr mitzuwirken mit den Mitteln, die wir die Waffen der Kirche
nennen . . . Auch wenn wir die Eingriffe in die Rechte der Kirche zurückweisen, werden
wir die Rechte des Staates auf staatlichem Gebiet achten und am Werk des Führers
auch das Gute und Große sehen . . ." (Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster,
ebenda, Nr. 34)
Was waren denn das für „gerechte Ziele", die Hitler sich zu dieser Zeit
vorgenommen hatte? Etwa die, Bomber und Panzer zum Kampf gegen die
legale spanische Regierung zu entsenden, unschuldige republikanische Bür-
ger zu morden, ganze Dörfer - wie Guernica - dem Erdboden gleichzu-
machen und alles zu tun, um den Sieg des Katholiken Franco zu sichern?
In den anderen Ländern war die katholische Kirche nicht weniger eifrig
am Werk als in Deutschland. Die katholischen Organisationen und Hier-
archien unternahmen eine große Werbekampagne zur Rekrutierung „katho-
lischer Legionäre". Es dauerte nicht lange, da eilten die ersten katholischen
Freiwilligenbrigaden Franco zu Hilfe.
Nach all dem, was wir nun wissen, nimmt es uns nicht wunder, daß die
erste ausländische Flagge, die über Francos Hauptquartier in Burgos wehte,
die päpstliche Flagge war und daß sich Francos Banner schon sehr bald über
dem Vatikan entfaltete.
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Um zu zeigen, in welchem Ausmaß die katholische Kirche in Spanien mit
der Revolte verbündet war, genügt es, eine bezeichnende Feststellung des
Kardinals Görna anzuführen:
„Wir befinden uns in völliger Übereinstimmung mit der nationalen Regierung, die
niemals einen Schritt unternimmt, ohne vorher meinen Rat einzuholen, und diesen Rat
immer befolgt."
Als schließlich die Republik im Frühjahr 1939 zerschlagen war, erklärte
Pius XII., man solle Gott danken, daß er „wieder einmal die Hand der gött-
lichen Vorsehung so offensichtlich über Spanien gehalten hat" (Rundfunk-
botschaft vom 17. April 1939), und sandte folgende Botschaft an die Sieger:
„Mit großer Freude wenden Wir Uns an Euch, geliebteste Söhne des katholischen
Spaniens, um Euch Unsere väterlichen Segenswünsche für das Geschenk des Friedens
und des Sieges zu erteilen. Gott hat es gefallen, das christliche Heldentum Eures Glau-
bens und Eurer Opferbereitschaft, das sich in so vielen und großmütigen Leiden be-
währt hat, mit dem Sieg zu krönen . . . die gesunden, mit den Merkmalen edelsten
Geistes, mit Großmut und Kühnheit ausgestatteten Kräfte des spanischen Volkes hatten
sich gemeinsam erhoben, um die Ideale des Glaubens und der christlichen Zivilisation
zu verteidigen, die in Spanien so tief verwurzelt sind. Als Ausdruck der unermeßlichen
Dankbarkeit, die Euch von der Unbefleckten Jungfrau und vom Apostel Johannes, dem
Schutzheiligen Spaniens, zuteil wird und die Euch alle großen Heiligen Spaniens er-
weisen, erteilen Wir Euch, Unseren geliebten Söhnen des katholischen Spaniens, dem
Haupt des Staates und seiner erlauchten Regierung, dem strebsamen Episkopat und
seiner sich selbst verleugnenden Geistlichkeit, den heroischen Kämpfern und allen Gläu-
bigen Unseren Apostolischen Segen."
Franco erwies seinerseits der katholischen Kirche die schuldige Reverenz,
da sie „in dem siegreichen Kreuzzug an unserer Seite stand und den Geist
der nationalen Armee beflügelte".
Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges hatte sich somit ein neuer
totalitärer Staat zu den faschistischen Diktaturen Europas gesellt. Auf wel-
chen Grundlagen wurde dieses „neue Spanien" errichtet? Auf den religiösen,
moralischen, sozialen, Ökonomischen und nicht zuletzt politischen Prinzipien
der katholischen Kirche. Da die Macht nach Auffassung der katholischen
Kirche nicht vom Volk ausgeht, wurde sie in die Hände eines einzelnen ge-
legt, in die Hände eines absoluten und unkontrollierbaren Herrschers, der
damit der Grundpfeiler eines exakt nach dem Muster der Kirche aufgebauten
Staates wurde. Wie in der katholischen Kirche, so gab es nun auch in
Spanien einen Herrscher, der allein seinem Gewissen verantwortlich war.
Seine Macht erstreckte sich auf alle Lebensbereiche der Nation; seine
Befehle waren höchstes Gesetz, Widerspruch wurde nicht geduldet. Unter
ihm regierten Miniaturdiktatoren als unbeschränkte Herrscher der ver-
schiedenen Ministerien.
Da eine Partei das Recht und die Wahrheit gepachtet hatte, waren alle
anderen Parteien schädlich und wurden zerschlagen. Ebenso erging es den
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Gewerkschaften. Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und
die Freiheit der politischen Meinungsäußerung wurden aufgehoben. Alle
Zeitungen, Filme, Rundfunksendungen und Bücher wurden unter Zensur
gestellt und „gesäubert" oder unterdrückt, wenn sie sich nicht zu dem neuen
Regime bekannten; andererseits mußte jeder die Bücher lesen, die Filme
sehen und die Rundfunksendungen anhören, die die Größe des „neuen
Spaniens", Francos Ideen und sein System verherrlichten. Die katholische
Kirche sorgte dafür, daß sich diese Propaganda auch über die Grenzen
Spaniens hinaus auf die spanischsprachigen Länder Süd - und Mittelamerikas
ausdehnte, denen empfohlen wurde, dem Vorbild des Mutterlandes zu fol-
gen. Ein mächtiges Propagandaministerium — ähnlich dem der Propaganda
Fide der katholischen Kirche — kontrollierte das gesamte kulturelle und lite-
rarische Leben des Landes.
Alle Feinde des Francoregimes wurden in Verwahr genommen. Massen-
erschießungen fanden statt. Man schätzt, daß Spaniens Gefängnisse noch
drei Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges mehr als 1,5 Millionen poli-
tische Gefangene beherbergten, von denen Tausende und aber Tausende an
die Wand gestellt wurden. Jeder, der auch nur im geringsten des Sozialismus,
des Kommunismus oder liberaler Ideen verdächtig war, wurde von der Ge-
heimpolizei, einer würdigen Nachfolgerin der Inquisition, auf Schritt und
Tritt überwacht.
Der Katholizismus wurde zur einzig wahren und damit zur Staatsreligion
erklärt. Protestantische und andere Bekenntnisse wurden unterdrückt, ihre
Geistlichen wurden eingesperrt, viele von ihnen erschossen. Der Staat wurde
nach dem in der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo Anno vorgeschlagenen
Ständesystem aufgebaut; der Religionsunterricht war obligatorisch; die
Lehrbücher unterlagen der kirchlichen Überwachung; Lehrer, die nicht die
Gottesdienste besuchten, wurden entlassen. Die katholische Kirche erhielt
ihre ungeheueren Reichtümer zurück, und der Klerus kam wieder in den
Genuß seiner früheren Privilegien und Pfründen.
In den folgenden Monaten unternahmen zahllose „Verteidiger der katho-
lischen Kirche" aus Dankbarkeit für die Hilfe, die der Papst ihnen ge-
leistet hatte, Pilgerfahrten nach Rom. Im Juni 1939 empfing der Papst
3000 Francosoldaten, die nach Italien gekommen waren, um mit den
italienischen Faschisten den Sieg zu feiern. Pius XII. erklärte vor ihnen, daß
sie „für den Triumph der christlichen Ideale" gekämpft und ihm „als Ver-
teidiger des Glaubens unermeßliche Tröstungen gespendet" hätten, und
schloß sie in seinen apostolischen Segen ein.
In den nächsten Jahren besuchten häufig prominente spanische Faschisten
in politischer oder diplomatischer Mission den Papst oder den Vatikan. Der
Prominenteste unter ihnen war Serrano Suner, Francos Schwager, ein
95
Freund Mussolinis und Hitlers. Am 20. Juni 1942 wurde er vom Papst mit
dem Großkreuz des Ordens Pius* IX. und, ebenso wie Spanien und General
Franco, „benemerito de la causa de Dios y de la Iglesia" (Bulletin of Spanish
Studies, Januar 1943), mit dem päpstlichen Segen ausgezeichnet.
Aber wie in anderen Ländern, so kam es auch in Spanien bald zu einigen
Differenzen zwischen Staat und Kirche. Es ging um die gleichen Fragen wie
in Nazideutschland, im faschistischen Italien und in anderen europäischen
Ländern. Staat und Kirche pochten auf ihre Rechte in Fragen des neuen
Staatsaufbaus, und beide erhoben Anspruch auf das alleinige Recht der
Jugenderziehung, auf die Besetzung bestimmter Schlüsselstellungen usw.
Franco ging einmal sogar so weit, die päpstliche Enzyklika Mit brennender
Sorge in Spanien zu verbieten, da die Kirche in ihr die Spielart des Totali -
tarismus rügte, die den Staat über die katholische Kirche stellte. Aber diese
Differenzen waren nicht von großem Gewicht und hielten daher keinen der
beiden Partner ab, von Jahr zu Jahr enger zusammenzuarbeiten.
Auf außenpolitischem Gebiet folgte Francospanien den Spuren des faschi-
stischen Italiens und Nazideutschlands und verband sich mit ihnen vor allem
dann, wenn sich ihre Politik gegen die Sowjetunion oder gegen die West-
mächte richtete. Als im September 1939 der zweite Weltkrieg ausbrach,
gewährte Spanien, selbst zu schwach, in den Krieg einzugreifen, den faschi-
stischen Mächten jede nur denkbare Hilfe auf militärischem, wirtschaft-
lichem und diplomatischem Gebiet. Franco hielt Reden, in denen er der Welt
verkündete, daß nur Hitlers Sieg Europa retten könne, und rief zur gleichen
Zeit pathetisch aus: „Spanien wird sich nie mit einem Lande verbünden, das
sich nicht von den Prinzipien des Katholizismus leiten läßt" (1944).
Im Juli 1 940, als der Sieg Hitlers sicher schien, glorifizierte Franco in seiner
Ansprache zum Jahrestag seines Putsches „die deutschen Waffen, die jene
Schlachten schlagen, auf die Europa und die Christenheit so lange gewartet
haben". In derselben Rede griff er Großbritannien wegen seiner „unmensch-
lichen Rlockade des Kontinents" an und erklärte, „die Freiheit der Seefahrt"
sei eine „einzige große Farce". Er riet den USA, sich von Europa fernzu-
halten, wandte sich gegen die anglo- amerikanische Wirtschaftshilfe und
konstatierte oberpriesterlich, die Alliierten hätten den Krieg bereits ein für
allemal verloren. (Sir Samuel Hoare, britischer Sonderbotschafter in Madrid
während des zweiten Weltkrieges, in My Mission to Spain.)
Am 8. August 1940 berichtete der deutsche Botschafter in Spanien,
Stohrer, „streng vertraulich" nach Berlin, er könne mit Sicherheit Spaniens
baldigen Kriegseintritt melden. Diesen Worten folgten Taten. Im Septem-
ber 1940 besprach Hitler mit dem spanischen Innenminister Sun er Pläne
zur Eroberung Gibraltars. Suner versicherte Hitler, daß Spanien bereit sei,
in den Krieg einzugreifen, sobald der Nachschub an Lebensmitteln und
96
Rohstoffen für Spanien gesichert sei. Anschließend übergab der spanische
Minister Hitler eine persönliche Botschaft Francos, in der der Caudillo
seine „Dankbarkeit, Sympathie und hohe Wertschätzung" für Hitler zum
Ausdruck brachte und ihn seiner „Loyalität von gestern, heute und für alle
Zeiten" versicherte. (Nach Fünfzehn Dokumente über die Kollaboration
zwischen den Achsenmächten und Spanien, herausgegeben vom US State
Department am 4. März 1946.)
In einem Brief an Hitler vom 22. September 1940 beteuerte Franco aber-
mals seine „unabänderliche und treue Verbundenheit mit Hitler persönlich".
„Ich möchte Ihnen noch einmal meinen Dank für das Angebot der Solidarität aus-
sprechen. Ich versichere Sie meiner unabänderlichen und treuen Verbundenheit mit
Ihnen persönlich, mit dem deutschen Volk und mit der Sache, für die Sie kämpfen.
Ich hoffe, zur Verteidigung dieser Sache bald in einer Lage zu sein, die es ermöglicht,
die kameradschaftlichen Bande zwischen unseren Armeen zu erneuern."
Gegen Ende des Jahres, als Nazideutschland mit Hilfe des uneingeschränk-
ten U-Boot-Krieges England auszuhungern begann, und in den folgenden
Jahren, fast bis ans Ende des Krieges, gewährte Franco den deutschen
Unterseebooten in spanischen Häfen die Möglichkeit, Reparaturen auszu-
führen und Brennstoff aufzunehmen. Das waren Hilfeleistungen, die mit
„Neutralität" nicht zu vereinbaren waren.
Es gibt zahllose weitere Dokumente, die beweisen, daß Franco nicht auf-
hörte, seine Sympathie für Hitler und die nazistische „Neuordnung" zu
beteuern. Hier seien nur einige Stellen aus einem Brief angeführt, den er
am 26. Februar 1941 an Hitler richtete:
„Ich bin gleich Ihnen der Ansicht, daß die Vorsehung der Geschichte Sie mit mir und
mit dem Duce unlöslich verbunden hat. Es war nicht nötig, mich davon erst zu über-
zeugen. Wie ich Ihnen mehr als einmal mitgeteilt habe, bietet unser Bürgerkrieg von
seiner Planung bis zu seinem Ende mehr als einen Beweis dafür." {Dokumente des US
State Department)
Obwohl Franco bereit war, Hitler zu helfen und an dem neuen, faschisti-
schen Europa teilzuhaben, trat Spanien, wenn es auch manchmal nahe daran
war, nicht in den Krieg ein. Die Gründe dafür legte Franco in demselben
Brief dar:
„Wir stehen heute auf der gleichen Seite, auf der wir immer gestanden haben, in
unveränderlicher Treue und mit der festesten Überzeugung. Sie dürfen keine Zweifel
aufkommen lassen über meine absolute Loyalität zu unserer gemeinsamen politischen
Konzeption und zu der Vereinigung unseres nationalen Schicksals mit dem Deutschlands
und Italiens. Mit der gleichen Loyalität habe ich Ihnen seit Beginn der Verhandlungen
unsere wirtschaftliche Situation geschüdert. Das ist der einzige Grund, warum es uns
bisher nicht möglich war, das Datum des Kriegseintritts zu bestimmen . . {Dokumente
des US State Department)
Franco versicherte dann abschließend: „Ich werde immer ein loyaler
Anhänger Ihrer Sache sein."
7 MS59
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In einer Versammlung von Armeeoffizieren sagte Franco unter anderem:
„Zwanzig Jahre hindurch war Deutschland der Verteidiger der europäischen Zivili-
sation . . .
Wenn die Straßen nach Berlin offen wären, würde nicht nur eine Division Spanier
am Kampf teilnehmen, sondern eine Million würden zu Hilfe eilen."
Um zu unterstreichen, daß das keine leeren Worte waren, eröffnete
Franco einen Werbefeldzug für die Division, die an der Seite der Nazis am
Kampf gegen die Sowjetunion teilnehmen sollte. Da sich aber nur wenige
Freiwillige meldeten, wurden „ganze Einheiten dienender Truppenteile zu
der Division (der ,Blauen Division') überstellt, ohne daß die dazu aus-
ersehenen Männer die Möglichkeit hatten, sich zu entscheiden" (Sir Samuel
Hoare). Ein Verband in Stärke von etwa 17 000 Mann mit einer Luftwaffen-
abteilung zu zwei oder drei Staffeln wurde aufgestellt. Die Bischöfe und
Priester segneten die Legionäre, versuchten in ihnen Begeisterung für ihre
„heilige Aufgabe" zu wecken und übergaben den „heldenhaften katholischen
Kreuzfahrern gegen die Roten" geweihte Medaillons.
Hitler und Franco vereinbarten ferner, auf spanischen Werften deutsche
U-Boote zu bauen und Ausbildungsstützpunkte für U-Boot- Besatzungen in
Spanien einzurichten (Angaben von Mr.Sidney Älderman, USA- Staats-
anwalt am Nürnberger Internationalen Gerichtshof, am 27. November 1945).
Gleichzeitig verfolgte Franco aufmerksam, was im Fernen Osten geschah,
und übermittelte den Japanern bei militärischen Erfolgen regelmäßig seine
Glückwünsche.
Francos Zusammenarbeit mit den Nazis dauerte bis zum Zusammenbruch
Nazideutschlands - und darüber hinaus. Sie ging so weit, daß das katho-
lische Spanien Francos, als Hitlers Selbstmord bekanntwurde, offiziell und in-
offiziell -wenn auch längst nicht so provokatorisch wiedas katholische Irland
de Valeras — sein Beileid zum Tod des Führers und zum Zusammenbruch
des Naziregimes ausdrückte. Während nach dem Krieg die Demokratien in
Worten und mit den Mitteln der Diplomatie die letzte große faschistische
Diktatur in Europa verurteilten, fuhr die spanische Hierarchie unter der
Führung ihres Primas fort, Franco zu segnen und zu unterstützen. „Die
Kirche unterstützt in der Tat den Rat des Staates, Gehorsam gegenüber der
Obrigkeit zu üben. Möge die Stunde des Weltfriedens zugleich die Stunde
des inneren Friedens für Spanien sein", erklärte der Erzbischof von Toledo
und Primas von Spanien, Dr. Pia y Deniel, im Herbst 1945 als Antwort auf
den diplomatischen Boykott des Francoregimes durch Großbritannien, die
USA und die Sowjetunion und angesichts des wachsenden illegalen Kampfes
des spanischen Volkes.
Die katholische Hierarchie ging noch weiter. Sie erklärte durch den Mund
des Erzbischof s Gonzales über den Vatikansender:
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„Wir richten unsere Augen auf Mutter Iberia und danken Gott, daß er uns seine
Gnade hat zuteil werden lassen . . . Dank der göttlichen Vorsehung hat Spanien seine
jugendlichen Kräfte wiedererlangt ... es ist segensreich, zu sehen, wie echt und gesund
sich Spaniens Wiederaufstieg auf sozialem, wirtschaftlichem und geistigem Gebiet voll-
zieht und vor allem im Bereich des Glaubens, dem Fels der katholischen Kirche, seinem
Fundament . . . Die spanische Nation ist ein Verteidiger der Wahrheit geworden und
verdient Gottes Unterstützung."
Auch Franco betonte immer wieder, das neue Spanien verdiene Gottes
Unterstützung. Auf einer Zusammenkunft von Priestern und Mitgliedern
der falangistischen Frauenorganisation am 12. September 1945 sagte er:
„Ich denke, die Schlacht wurde zu unseren Gunsten entschieden, weil die
anderen gegen Gott sind, aber wir sind seine Soldaten."
Wie verträgt sich aber diese Behauptung mit der Tatsache, daß die An-
zahl der „Soldaten Gottes" ständig vermehrt werden muß, um das rebel-
lische, dem faschistischen Regime zu 90 Prozent feindlich gesinnte Volk
niederzuhalten? Manchem skeptischen Leser geben vielleicht folgende Zah-
len einiges zu denken: Am Ende des zweiten Weltkrieges verfügte Franco-
spanien als einziges noch bestehendes faschistisches Land Europas über die
stärkste faschistische Armee in der Welt und die stärkste Polizeimacht. Beide
mußten ständig vergrößert werden, um die Spanier in der Zwangsjacke des
Katholizismus und des Faschismus zu halten. 1940 erhielt die Falange, die
faschistische Partei Spaniens, staatliche Zuschüsse in Höhe von 10 Millionen
Peseten, 1941 waren es 14 Millionen, 1942 142 Millionen, 1943 154 Mil-
lionen, 1 944 1 64 Millionen und am Ende des zweiten Weltkrieges mehr als
192 Millionen. Die Staatspolizei erhielt 1940 950 Millionen Peseten,
1941 1001 Millionen, 1942 1325 Millionen, 1943 1089 Millionen,
1944 1341 Millionen und 1945 1475 Millionen Peseten.
Das Gesamtbudget der Republik Spanien betrug 1936 weniger als die
Summen, die Franco in einem Jahr allein für Armee, Marine und Luft-
waffe auswarf. Für die Polizei gab er in demselben Zeitraum ebensoviel
Geld aus, wie eine Armee von einer Million Mann benötigt. Nach Kriegs-
ende reichten selbst diese Kräfte zur „Aufrechterhaltung des inneren Frie-
dens" nicht mehr aus. Franco rief daher mit wärmster Unterstützung der
Kirche von neuem die sogenannten Somates, eine Art Miliz, ins Leben. Die
Unterstützung Gottes genügte nicht mehr, das faschistische Musterland
Spanien mußte sich auf handfestere Grundlagen stützen, um sich weiter als
„Verteidiger der Wahrheit" aufspielen zu können. Aber was machte das
schon? Hauptsache, die von der Kirche gesteckten Ziele wurden erreicht;
und die katholische Kirche erreichte gleich zwei Ziele auf einmal: die Ver-
nichtung ihrer geschworenen Feinde und den gewaltsamen Aufbau eines
Staatswesens auf katholischer autoritärer Grundlage. Sie erlangte unum-
schränkte Gewalt über das spanische Volk.
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Kapitel IX Italien, der Vatikan und der Faschismus
Die feindselige Einstellung der katholischen Kirche zum vor faschistischen Italien -
Der Vatikan verbietet den Gläubigen, am politischen Leben in Italien teilzunehmen -
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges - Die „rote Gefahr". Die Geburt einer katholischen
Partei - Unsicherheit innerhalb der Kirche - Das erste Auftauchen einer faschistischen
Partei - Die Wahl des neuen Papstes Pius XL - Die neue Politik des Vatikans : Die katho-
lische Partei wird fallengelassen - Die Allianz mit dem Faschismus - Frühe geheime
Verbindungen des Vatikans mit dem faschistischen Regime — Die ersten Früchte der
neuen Allianz - Der Vatikan befiehlt den Führern der katholischen Partei, zurückzu-
treten, um das faschistische Regime zu stärken - Die endgültige Auflösung der katho-
lischen Partei — Die Verhandlungen über eine offizielle Allianz zwischen der katholischen
Kirche und dem Faschismus - Die Lateranverträge, Der Vatikan erhält den Status eines
unabhängigen Freistaates - Das Konkordat. Der Katholizismus wird die offizielle Reli-
gion des faschistischen Italiens — Der Vertrag über gegenseitige Hilfe zwischen Kirche
und Staat - Streitigkeiten zwischen der Kirche und dem Faschismus - Die Kirche preist
und unterstützt Mussolini - Die erste faschistische Aggression: der Abessinienkrieg -
Der Papst an der Seite des faschistischen Italiens - Die katholische Kirche ruft die
Italiener auf, die Aggression zu unterstützen - Der Plan des Vatikans, im Gefolge der
faschistischen Legionen die Abessinier zu bekehren — Der spanische Bürgerkrieg,
Mussolini, die katholische Kirche in Italien und der Papst - Cianos Bakterienkrieg -
Der Tod Pius 1 XL - Die W ahl eines neuen Papstes - Pius XIL — Die Vertreibung der
Juden - Der Uberfall auf Albanien - Der Ausbruch des zweiten Weltkrieges - Die Be-
mühungen des Papstes, Italien aus dem Krieg herauszuhalten - Mussolini tritt in den
Krieg ein - Der Papst und die italienische Hierarchie unterstützen den neuen Krieg -
Der Plan des Vatikans, dem Sturz Mussolinis zuvorzukommen und den Ausbruch einer
Volksrevolution in Italien zu verhindern - Die Verbündeten des Vatikans: die italienische
Monarchie, Großbritannien und die USA - Erzbischof Spellman - Der Zusammenbruch
des faschistischen Regimes - Der Erfolg des ersten großen Gegenzugs des Vatikans nach
dem zweiten Weltkrieg - Der Vatikan bereitet sich auf die Zukunft vor - Die Gründung
neuer katholischer Parteien.
Im Jahr 1922 soll während der Wahl des Papstes Pius XI. ein atheistischer
italienischer Redner in einer großen Menschenmenge auf dem Platz vor
Sankt Peter gesagt haben:
„Seht euch an, wieviel Menschen hier sind! Aus aller Herren Ländern sind sie ge-
kommen! Woran liegt es, daß die Politiker, die die Nationen regieren, nicht das uner-
meßliche Gewicht dieser internationalen Kraft, dieser weltweiten Glaubensmacht er-
kennen?" (Teeling, The Pope in Politics)
Der Mann, der dies gesagt hatte, kam noch in demselben Jahr zu Amt
und Würden. Er errichtete nach Grundsätzen, die dann vielen europäischen
Ländern als Vorbild dienten, die erste faschistische Diktatur. Die Allianz
zwischen Pius XI. und Mussolini beeinflußte in der Zeit zwischen den beiden
Weltkriegen nicht nur die soziale und politische Situation Italiens, sondern
100
ebenso die der meisten anderen Länder Europas. Die Tatsache, daß der Faschis -
mus in einem katholischen Lande geboren wurde und seinen Weg gerade im
Zentrum des römischen Katholizismus begann, war weder ein Zufall noch
eine Laune der Geschichte. Wohl waren verschiedene Faktoren sozialer
und wirtschaftlicher Art dafür verantwortlich, aber nicht zuletzt auch die
Beteiligung und die Hilfe des Vatikans.
Bevor wir uns die weitere Entwicklung ansehen, wird es zweckmäßig
sein, die Bedingungen zu untersuchen, unter denen der Faschismus entstand.
Hierzu ist es vor allem erforderlich, sich über die Rolle des Vatikans im
sozialen und politischen Leben des vorfaschistischen Italiens Klarheit zu
verschaffen. Die Geschichte der Beziehungen zwischen Staat und Vatikan
im vorfaschistischen Italien ist, ebenso wie im Falle Spaniens, die Geschichte
einer bitteren Feindschaft zwischen Staat und Kirche. Der Staat versuchte
die katholische Kirche in ihre Schranken zu weisen, während die Kirche mit
allen Mitteln danach strebte, die Privilegien zu behaupten oder wiederzu-
gewinnen*, auf die sie Anspruch erheben zu müssen glaubte. Es war der
gleiche Kampf, den wir bereits in Spanien beobachteten und den wir in
vielen anderen europäischen Ländern feststellen werden, der Kampf zwi-
schen der katholischen Kirche und dem vom Liberalismus und von den
demokratischen Prinzipien des 19. Jahrhunderts getragenen Staat. Dieser
Kampf nahm in Italien weit härtere Formen an als in jedem anderen Land,
weil Italien seine nationale Einheit nicht erringen konnte, ohne die Besitz-
tümer des päpstlichen Staates zu enteignen.
Das italienische Volk war - vor allem in Süd- und Mittelitalien - ge-
wohnt, daß die Kirche praktisch alle Lebensgebiete kontrollierte. In den
päpstlichen Besitzungen war der Prozentsatz des Analphabetentums, der
Unwissenheit und des Elends einer der höchsten in ganz Europa. Nach der
nationalen Einigung Italiens machte sich die italienische Regierung daran,
Ordnung im Lande zu schaffen, und ließ sich dabei von den Grundsätzen des
Liberalismus leiten. Sie säkularisierte das Erziehungswesen und die Presse,
verkündete Redefreiheit und Freiheit des religiösen Bekenntnisses und
unternahm andere ähnliche Schritte. Die katholische Kirche bekämpfte jede
dieser Maßnahmen mit ungewöhnlicher Schärfe. Sie erklärte allen Gläubi-
gen, der Liberalismus sei eine Sünde, und drohte jedem mit ewiger Ver-
dammnis, der seine Stimme für den Säkularstaat erhob.
Die Kirche bezog diese Haltung nicht nur wegen des säkularen Charakters
des neuen Italiens, sondern auch wegen der Rechtsansprüche, die der Papst
nach wie vor auf seine Besitztümer geltend machte. Deshalb waren der
Staat und alle Italiener, die ihn unterstützten, Feinde der Kirche, solange
der Papst nicht Mittelitalien und Rom vom Staat zurückerhielt; aber das
hätte die Einigung Italiens verhindert. Von dieser Haltung ließ sich der
101
Vatikan nicht abbringen, obwohl die italienische Regierung wiederholt ihre
Bereitschaft erklärte, auf dem Verhandlungsweg die strittigen Fragen
freundschaftlich zu klären.
Hält man sich vor Augen, wann und wie die Kirche diesen unablässigen
Krieg gegen den Staat führte, so muß man die Bedingungen, die der Staat
der Kirche anbot, mehr als großzügig nennen. Aber der Vatikan verfolgte
mit seinem Starrsinn ganz andere Ziele. Er wollte dem neuen italienischen
Staat fortwährend Schwierigkeiten bereiten, um ihn eines Tages zu besei-
tigen und an seine Stelle das klerikale katholische Regime der Vergangen-
heit zu setzen. Der Vatikan erreichte dadurch, daß er die „römische Frage
offenließ" — wie es damals hieß — , daß Millionen italienischer Bürger dau-
ernd in Konflikt mit der Regierung und ihren Gesetzen gerieten. Diese von
der Kirche künstlich erzeugte Opposition großer Teile des Volkes zu ihrem
Staat machte es den Regierenden unmöglich, sich auf ein Mandat der Mehr-
heit des Volkes zu berufen und drastischere Reformen im Rahmen des
Säkularisationsprogramms durchzusetzen. Darüber hinaus verbot der Vatikan
allen Italienern, sich aktiv am demokratischen Leben der Nation zu be-
teiligen und von ihrem neuerworbenen Wahlrecht Gebrauch zu machen.
Pius IX. verkündete ein Non expedit, das heißt, er untersagte den
Gläubigen bei Strafe der Exkommunikation, sich an den Wahlen zu be-
teiligen. Da aber Millionen Italiener dem Befehl nicht Folge leisteten und die
Kirche verließen, mußte Leo XIII. 1886 eine neue Weisung erteilen, nach der
es den Gläubigen nicht gestattet war, ihre Stimme abzugeben.
Diese eklatante Einmischung in das politische Leben des Landes war in
Wirklichkeit nur ein verzweifelter Versuch des Vatikans, die Säkularisation
Italiens zu behindern und die liberalen und alle anderen antiklerikalen und
revolutionären Kräfte, die im ganzen Land immer mehr Anhänger fanden,
zu schwächen. Der Vatikan hielt den anmaßenden Anspruch, den Italienern
das Wählen zu verbieten, auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhun-
derts aufrecht. 1905 wurde das Verbot etwas gemildert, und in den Wahlen
von 1904, 1909 und 1913 traten erstmals katholische Kandidaten auf. Aber
endgültig aufgehoben wurde det Bann erst nach dem ersten Weltkrieg. Der
Vatikan tat dies keineswegs aus demokratischen , Erwägungen — die ver-
änderten Umstände und der Volkswille hatten ihn dazu gezwungen. Zu
Tausenden hatte die Bevölkerung die Kirche verlassen, insgesamt waren die
antiklerikalen Tendenzen seit dem ersten Non expedit hundertfach stärker
geworden. Der Sozialismus und der Anarchismus hatten zu Beginn des
Jahrhunderts auf der ganzen Halbinsel Fuß gefaßt und vor dem ersten
Weltkrieg dort bereits beachtlichen politischen Einfluß gewonnen.
Als durch Italiens Kriegseintritt Millionen Italiener in die Schützen-
graben und Fabriken geschickt wurden, nahm der Sozialismus an Einfluß
102
zu. Die unmittelbar nach dem Krieg einsetzenden wirtschaftlichen,
sozialen und politischen Unruhen trugen ebenfalls dazu bei, die Reihen
seiner Anhänger rasch zu vermehren. Der Vatikan suchte verzweifelt nach
Mitteln, die „rote Flut" einzudämmen. Die Bannflüche des Papstes und die
Predigten der Bischöfe und Priester reichten ebensowenig wie die Ergeben-
heit der rückständigen Volksschichten aus, dieser Bewegung Herr zu wer-
den. Es mußte etwas geschehen, was mehr der Zeit entsprach. So entschloß
sich der Vatikan, wenn auch schweren Herzens, allen Katholiken die Teil-
nahme am politischen Leben zu gestatten, und rief sie auf, sich in einer
katholischen Partei zu organisieren. Diese Partei wurde von einem sizilia-
nischen Priester, Don Sturzo, gegründet und geführt und nannte sich
Partito Popolare.
Die neue katholische Partei entwickelte sich rasch und fand Anhänger in
ganz Italien. Sie wurde eine beachtliche politische Macht, ein Gegengewicht
gegen die Sozialisten, die im Jahre 1919 von 3 500 000 Wahlberechtigten
1840593 für sich gewonnen hatten. 1920 hatten die Sozialisten in
2163 Städten und Dörfern die Gemeindeverwaltung in ihrer Hand. Die
katholische Partei, die sich vor allem auf die ländlichen Bezirke stützte,
wurde jedoch ein ernsthafter Gegner der wachsenden revolutionären
Kräfte.
1921 errangen die Sozialisten, obwohl sie sich gespalten hatten, 1 569 533
Stimmen und die Kommunisten 291952, dazu kamen Hunderttausende
antiklerikal eingestellte Liberale. Obwohl der Vatikan also ein politisches
Mittel gefunden zu haben glaubte, mit dessen Hilfe er den Vormarsch der
Linken unter Kontrolle halten konnte, hatte er sich. noch nicht entschieden,
welche Politik er unter den gegebenen Umständen einschlagen sollte. Es gab
zwei Strömungen : Die eine befürwortete die Bekämpfung des Kommunismus
auf politischem und sozialem Gebiet, die andere forderte drastischere Maß-
nahmen.
Die Anhänger der zweiten Richtung schoben sich in den Vordergrund,
als eine neue Partei die Szene betrat. Sie wurde von einem Exsozialisten,
Exrepublikaner und Atheisten geführt, war militant antisozialistisch,
antibolschewistisch, antiliberal und antidemokratisch und predigte und
praktizierte Gewalttätigkeiten im großen Stil. Ihre Anhänger waren meist
Desperados, die sich in Banden organisierten, Sozialisten überfielen, mor-
deten und plünderten. Sie nannten sich Partito Fascista, ihr Führer hieß
Mussolini.
Alle Elemente, die eine soziale Revolution fürchteten oder fürchten zu
müssen glaubten — von den extremen Nationalisten und den Industrieherren
bis zu den Mittelklassen — , unterstützten diese Partei. Ein Kardinal
beobachtete die neue Bewegung sehr aufmerksam. Sein Interesse galt
103
weniger ihrem Programm - der Bewegung gehörten zahlreiche antiklerikale
Kräfte an — als vielmehr ihrem Charakter. Diese Partei konnte die Feinde
der Kirche mit Waffen bekämpfen, die die Kirche selbst nicht anwenden
durfte, wollte sie nicht ihr Gesicht verlieren - mit den Waffen der Gewalt.
Der Name dieses Kardinals war Ratti.
Im Jahre 1922, als sich die sozialistische und die katholische Partei etwas
gefestigt hatten und die zwei großen Parteien des Landes geworden waren,
starb Benedikt XV. Kardinal Ratti, der das Auftreten der Faschisten mit so
großem Interesse verfolgt hatte, wurde unter dem Namen Pius XI. zum
Papst gewählt.
Pius XI. haßte den Sozialismus und hegte keinerlei Sympathien für die
Demokratie. Mit ihm begann eine neue Ära in der vatikanischen Politik.
Er unterstützte die faschistische Partei bereits vor ihrem „Marsch auf
Rom".
Pius XI. befahl die Auflösung aller katholischen Parteien nicht nur in
Italien, sondern in ganz Europa, weil sie nach seiner Meinung den Sozialis-
mus auf Grund der einfachen Tatsache nicht zerschlagen konnten, daß es in
einem demokratischen Staat bestimmte politische Freiheiten gibt. Außerdem
trafen täglich im Vatikan alarmierende Nachrichten über ein weiteres An-
wachsen der sozialistischen Bewegung in Italien und anderen Ländern ein.
Neue, drastische Maßnahmen schienen geboten. So kam es, daß der Vatikan,
als die Koalitionsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen worden waren, die
italienische Hierarchie am 22. Oktober 1922 in einem Schreiben aufforderte,
sich nicht mit der katholischen Partei zu identifizieren, sondern neutral zu
bleiben. Eine solche Weisung konnte zu diesem Zeitpunkt nur den Sinn
haben, die Koalitionsbestrebungen der katholischen Partei zu hinter-
treiben.
Das war die erste Tat des neuen Papstes, sie war darauf gerichtet, dem
Faschismus den Weg zu ebnen. Am 28. Oktober 1922 übernahmen die
Faschisten nach der Farce eines sogenannten „Marsches auf Rom" auf
Grund eines Angebots des Königs Viktor Emanuel die Macht.
Einige Monate später, am 20. Januar 1923, begann der Kardinalstaats-
sekretär Gasparri geheime Besprechungen mit Mussolini. Der Kardinal
machte den Handel zwischen dem Vatikan und dem Faschismus perfekt. Die
katholische Kirche verpflichtete sich, das neue Regime zu unterstützen,
indem sie die katholische Partei ausschaltete, die den Faschisten ebenso im
Wege stand wie der Sozialismus. Als Gegenleistung verpflichtete sich
Mussolini, dem viel an diesem Verbündeten lag, seine Politik der Ver-
nichtung des Sozialismus fortzusetzen, die Rechte der katholischen Kirche
zu gewährleisten und sie auch sonst zu unterstützen. Die „römische Frage"
wurde bei diesen Verhandlungen ebenfalls berührt.
104
Die erste Frucht der neuen Allianz war ein großer Dienst, den Mussolini
dem Vatikan leistete.
Die Bank von Rom, der hohe Würdenträger des Vatikans und der
Heilige Stuhl selbst Teile ihres Vermögens anvertraut hatten, stand vor
dem Bankrott. Mussolini rettete die Bank. Das kostete den italienischen
Staat ungefähr 1,5 Milliarden Lire. Als Dank dafür ertönten bald
darauf aus dem Munde hoher Vertreter des Vatikans Lobsprüche zu
Ehren des Faschistenführers. Am 21. Februar 1923 pries Kardinal
Vannutelli, der Vorsitzende des Heiligen Kardinalskollegiums, Musso-
lini öffentlich „wegen seiner energischen Hingabe an die Sache seines
Landes" und erklärte, der Duce sei „auserkoren, die Nation zu retten und
ihr Glück wiederherzustellen". Zur gleichen Zeit waren faschistische Ban-
den dabei, Mitglieder der katholischen Partei zu überfallen und zu ermor-
den. Die katholische Partei rief auf, dem Terror der Faschisten, dem auch
katholische Priester zum Opfer fielen (so unter anderem im August 1923
der Pfarrer Don Minzoni), Einhalt zu gebieten. Der Papst hätte keine
Minute gezögert, den Zorn Gottes auf die Häupter der Mörder zu laden,
wenn es Kommunisten gewesen wären. Da es aber die von ihm protegierten
Faschisten waren, verhielt er sich still und äußerte nicht ein einziges Wort
des Protestes.
Ungerührt verfolgte der Papst den einmal gewählten Weg der Zusam-
menarbeit mit dem Faschismus. Im Frühjahr 1923 wollte Mussolini die
Abgeordnetenkammer zwingen, einer Wahlrechtsreform zuzustimmen, die
der faschistischen Partei künftig wenigstens zwei Drittel aller Stimmen
gesichert und dadurch zur Ausschaltung des Parlaments geführt hätte.
Ein Erfolg in dieser Frage wäre der erste Schritt zur Errichtung der
offenen Diktatur gewesen. Alle demokratischen Kräfte, voran Don
Sturzo, das Haupt der katholischen Partei, und 107 katholische Abgeord-
nete, weigerten sich, der Vorlage zuzustimmen und bekämpften sie aufs
äußerste. Dieser Widerstand gefährdete Mussolinis Pläne, eine Diktatur
zu errichten, und brachte die neue vatikanische Politik, die darauf zielte,
den Faschisten den Weg zu einem autoritären Staat frei zu machen, in
Gefahr.
Der Papst verlor keine Zeit. Wenige Wochen nach dem Aufflackern des
katholischen Widerstandes, am 9. Juni 1923, erhielt Don Sturzo vom
Vatikan den entschiedenen Befehl, zurückzutreten und die Partei nach
Möglichkeit sogar aufzulösen. Don Sturzo beugte sich dem Befehl, obwohl
er anfangs entschlossen war, sich zu widersetzen; aber er war nicht nur der
Führer der katholischen Partei, sondern zugleich katholischer Priester. Die
katholische Partei wurde nicht sofort aufgelöst, war aber durch den Verlust
ihres Gründers und Führers empfindlich getroffen. Das erste ernsthafte
105
Hindernis der Faschisten auf dem Vormarsch zur offenen Diktatur war
durch den Papst aus dem Weg geräumt worden.
Unmittelbar darauf inszenierten höchste Vertreter der katholischen
Hierarchie - vor allem jene, die die politischen Pläne des neuen Papstes
kannten - eine schon ans Enthusiastische grenzende Propagandakampagne
für Mussolini.
Diese Kampagne erreichte ihren Höhepunkt, als eine der Säulen der
katholischen Kirche, ein Anhänger der neuen päpstlichen Politik, in einer
öffentlichen Rede den Segen des Allmächtigen für die faschistischen Führer
erflehte, sie mit Dank überschüttete, daß sie die Feinde der Kirche ver-
nichtet hätten, und den Exatheisten feierlich umarmte und ihn auf
beide Wangen küßte (Kardinal Mistrangelo, Erzbischof von Florenz, am
19. Juni 1923).
Ein Jahr später wurde der Führer der Sozialisten, Matteotti, ein erbitterter
Gegner Mussolinis, auf Weisung des Duce von Faschisten ermordet. Die
Entrüstung im ganzen Land war so stark, daß das Regime dem Sturz nahe
war. Sämtliche Abgeordneten verließen aus Protest das Parlament und
forderten vom König die Absetzung Mussolinis.
Wieder eilte der Vatikan dem Faschistenführer zu Hilfe. Als die Sozia-
listen und die Katholiken von neuem verhandelten, um eine feste Koalition
gegen die Faschisten zustande zu bringen, warnte Papst Pius XI. alle Gläu-
bigen vor einer Allianz mit den Sozialisten einschließlich deren gemäßigtem
Flügel. Er erklärte, das Moralgesetz verbiete streng eine solche Allianz,
jede Zusammenarbeit mit dem Teufel sei eine Sünde. Der Papst verschwieg
dabei wohlweislich, daß in Belgien wie in Deutschland die Sozialdemokraten
und die Katholiken mit Einverständnis des Vatikans seit Jahr und Tag
zusammenarbeiteten. Um sein Zerstörungswerk zu vollenden, befahl der
Vatikan allen Priestern, aus der katholischen Partei auszutreten. Das be-
deutete praktisch die Auflösung des Partito Popolare, da in den ländlichen
Bezirken, auf die sich die Partei vor allem stützte, die Pfarrer die Politik
machten.
Aber der Papst gab sich damit nicht zufrieden, er rief eine neue Bewe-
gung ins Leben, die Katholische Aktion, und unterstellte sie unmittelbar den
Bischöfen.
Offiziell war der Katholischen Aktion streng untersagt, sich mit Politik
zu befassen, richtiger müßte, es jedoch heißen, es war ihr verboten, etwas
zu unternehmen, was dem Faschismus schaden konnte. Papst Pius XL for-
derte alle Katholiken auf, sich der neuen Organisation anzuschließen. Er
veranlaßte dadurch Hunderttausende, die Reihen des Partito Popolare zu
verlassen, und setzte auf diese Weise die dezimierte Partei den pausenlosen
Schlägen der triumphierenden Faschisten aus.
106
Diese Taktik des Vatikans gegenüber der von ihm selbst gegründeten
Partei dauerte von 1925 bis Ende 1926, also bis zu ihrer Auflösung durch
Mussolini. Die faschistische Bewegung hatte erreicht, was sie von Anfang
an erstrebt hatte - die Errichtung der Diktatur.
Es war kein Zufall, daß Pius XI. und Mussolini gerade um diese Zeit die
Verhandlungen begannen, die zum Abschluß der Lateranverträge führten.
Der Vatikan und die neue Diktatur bedachten einander häufig mit öffent-
lichen Lobsprüchen. Die gelegentlichen Zwistigkeiten — meistens hervor-
gerufen durch Überfälle der Faschisten auf katholische Gläubige - konnten
das gute Einvernehmen kaum stören.
Die folgenden beiden Zitate mögen noch einmal zusammenfassend zeigen,
wie die katholische Kirche zum Faschismus in der Zeit der Festigung seiner
Diktatur Stellung nahm. Am 51. Oktober 1926 erklärte Kardinal Merry
del Val öffentlich:
„Mein Dank gilt auch ihm (Mussolini), der die Zügel der italienischen Regierung
fest in den Hunden hält und der mit klarem Blick für die Realität wünschte und wünscht,
daß die Religion respektiert, geehrt und ausgeübt wird. Sichtbar von Gott beschützt, hat
er weise die Geschicke der Nation zum Guten gewendet und ihr Ansehen in aller Welt
gestärkt."
Und der Papst erklärte am 20. Dezember 1926 vor der Weltöffentlichkeit:
„Mussolini wurde uns von der göttlichen Vorsehung gesandt."
Solche öffentlichen Segnungen durch den Papst (zufällig war der Papst
einer der ersten, der Mussolini nach dem Scheitern eines gegen ihn gerich-
teten Attentats beglückwünschte), die dauernde Unterstützung durch den
Vatikan und vor allem die Hilfe durch die Liquidierung der katholischen
Partei zu einem Zeitpunkt, als sie in der Lage gewesen wäre, Mussolini den
Weg zur Alleinherrschaft zu verlegen, hatten es den Faschisten ermöglicht,
die Diktatur zu errichten, die seit 1922 das Ziel der päpstlichen Politik
war.
Die Liberalen und die Sozialisten, die 1926 bei der letzten Wahl noch
mehr als 50 Prozent aller Stimmen erhalten hatten, wurden verboten, ihre
Zeitungen wurden unterdrückt, ihre Führer wurden verhaftet oder emigrier-
ten. Die Gefahr der „roten Flut" schien gebannt, die Kirche hatte sich dank
ihrer Allianz mit einem starken autoritären Regime in Sicherheit gebracht.
Nachdem alle inneren Feinde vernichtet waren, gingen die Kirche und
der Faschismus daran, ihre Beziehungen weiter zu verbessern. Denn trotz
der in der Praxis bereits bewährten Allianz machte es sich notwendig, die
Interessensphären durch einen offiziellen Vertrag abzugrenzen. Häufig kam
es noch zu Zusammenstößen zwischen Faschisten und Katholiken und zu
antiklerikalen Demonstrationen. Ein Konkordat war am besten geeignet,
die Atmosphäre zu reinigen. Dem Papst lag aber an diesem Punkt der
107
Entwicklung viel mehr daran, die Frage der päpstlichen Besitztümer zu klä-
ren. Mussolini, der bereits proklamiert hatte, daß die Religion zu respektieren
sei, war sowohl mit einem Vertrag als auch mit einem Konkordat einver-
standen, denn er saß trotz seiner Erfolge noch nicht sehr fest im Sattel.
Viele frühere Mitglieder des Partito Popolare und viele einfache Gläubige
mißtrauten ihm und verweigerten ihm trotz der unmißverständlichen Wei-
sungen des Vatikans ihre Unterstützung. Man brauchte daher etwas, womit
man an die Gefühle der Katholiken appellieren konnte. Was wäre besser
dazu geeignet gewesen als eine offizielle, feierliche Allianz zwischen Kirche
und Staat, etwas, was die demokratischen Regierungen seit einem halben
Jahrhundert nicht zustande gebracht hatten? Ein Vertrag und ein Konkordat
konnten das Regime so stärken, daß es nur durch eine gewaltige soziale
Revolution zu stürzen war. Sie mußten nicht nur zu einer inneren Festigung
des Regimes führen, sondern auch das Ansehen des Faschismus und seines
politischen Systems in der ganzen Welt heben.
Die Verhandlungen begannen - nicht zufällig - nach der Auflösung der
katholischen Partei im Jahre 1926 und wurden 1929 mit der Unterzeich-
nung der sogenannten Lateranverträge abgeschlossen.
Wir haben über diese Verträge bereits im zweiten Kapitel gesprochen.
Der Vatikan wurde durch sie als unabhängiger und souveräner Staat an-
erkannt; das faschistische Regime verpflichtete sich, dem Vatikan als Ent-
schädigung für die Enteignung der päpstlichen Besitztümer die ungeheure
Summe von 750 Millionen Lire zu zahlen und ihm fünfprozentige Obli-
gationen im Nennwert von 1000 Millionen Lire zur Verfügung zu stellen.
Die Lösung der „römischen Frage" wurde von der katholischen Kirche und
ihren Gläubigen in der ganzen Welt begrüßt, das Ansehen des Faschismus
wuchs überall sprunghaft.
Aber der Vatikan erreichte noch ein anderes, nicht weniger wichtiges
Ziel: Er schloß mit dem italienischen Staat ein Konkordat, das der katho-
lischen Kirche Italiens alle ihre Rechte zurückgab, entsprechend der katho-
lischen Lehre, daß Staat und Kirche einander wie Leib und Seele ergänzen
müssen und daher nicht getrennt sein dürfen. Der Katholizismus wurde
zur Staatsreligion erklärt; in allen Schulen mußte katholischer Religions-
unterricht erteilt werden; die Lehrer durften ihr Amt erst nach Bestä-
tigung durch die Kirche ausüben und nur solche Lehrbücher benutzen, die
„von den kirchlichen Stellen genehmigt" waren; die kirchliche Trauung
wurde wieder obligatorisch; das „Sakrament der Ehe" wurde den Bestim-
mungen des kanonischen Rechts untergeordnet; das bedeutete das Verbot der
Ehescheidung; die Geistlichkeit und die religiösen Orden erhielten staat-
liche Zuschüsse; antikirchliche Bücher, Presseerzeugnisse und Filme wur-
den verboten; Kritik oder Beleidigung des Katholizismus waren strafbare
108
Handlungen — kurz, die Kirche wurde wieder in ihre Stellung als absolute
Glaubensmacht der Nation eingesetzt.
Aber dem Vatikan genügte auch das noch nicht. Er untersagte allen
Geistlichen, von denen eine Minderheit unter Führung des früheren Vor-
sitzenden der katholischen Partei nach wie vor dem Faschismus feindlich
gegenüberstand, eine politische Partei zu unterstützen. Das machte es jedem
Priester unmöglich, sich einer antifaschistischen Bewegung anzuschließen.
Wenn man bedenkt, daß alle Geistlichen dem unmittelbaren Befehl des
Vatikans, also eines Verbündeten des Faschismus, unterstanden, so wird der
Sinn dieser Vertragsklausel rasch klar.*
Andererseits erkannte das faschistische Regime die Katholische Aktion an,
deren „Tätigkeit zur Verbreitung und Ausübung der katholischen Lehre
außerhalb aller politischen Parteien und in unmittelbarer Abhängigkeit
von der Hierarchie der katholischen Kirche zu erfolgen hat".
Der Sinn dieser Klausel, die es der Geistlichkeit und der Katholischen
Aktion untersagte, an einer politischen Bewegung teilzunehmen, kam im
Artikel 20 des Konkordats von 1929 unmißverständlich zum Ausdruck.
* Als in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg, nach der Zerschlagung des Faschis-
mus, wieder politische Parteien zugelassen wurden, befahl der Vatikan allen Katholiken,
sich aktiv am politischen Leben des Landes zu beteiligen. Die Angst, daß die soziali-
stischen und kommunistischen Kräfte die Macht erringen könnten, war so groß, daß der
Vatikan den Bischöfen und Priestern in ganz Italien die Order erteilte, in ihren Predig-
ten alle Gläubigen nicht nur zur Erfüllung ihres Wahlrechts anzuhalten, sondern ihnen
auch zu raten, der neuen katholischen Partei (Christlich-Demokratische Partei) ihre
Stimme zu geben, um den alten Feinden der Kirche, den Sozialisten und Kommunisten
eine Niederlage zu bereiten.
Im März 1946 verabschiedete die italienische beratende Nationalversammlung den
Artikel 66 des Wahlgesetzes, der den Priestern verbot, in der Kirche politische Ange-
legenheiten zu behandeln. Das war de facto nichts anderes als der Artikel 43 des 1929
mit Mussolini geschlossenen Konkordats, der es jedem italienischen Geistlichen unter-
sagte, eine politische Partei zu unterstützen. Was der Vatikan unter dem Faschismus gut-
geheißen hatte, erregte jetzt seinen Zorn. Pius XII. erklärte am 16. Marz 1946, daß „die
Geistlichkeit die Laien auch in zivilen Fragen, die Fragen des Glaubens und der Moral
einschließen, leiten muß", und fuhr fort: „Es ist ein wesentliches Recht und eine Pflicht
der Kirche, die Gläubigen in Wort und Schrift alles zu lehren, was den Glauben und das
moralische Verhalten betrifft. Die Ausübung des Wahlrechts birgt eine schwerwiegende
moralische Verantwortung in sich, insofern es bei der Wahl darum geht, jene zu wählen,
die dem Land seine Verfassung und seine Gesetze geben sollen." Der Osservatore
Romano nannte den Artikel 66 des Wahlgesetzes „offensiv, unfair, ungerecht und un-
nütz". Unter dem Druck der Christlich-Demokratischen Partei wurde dieser Artikel
faktisch aufgehoben. Trotzdem errangen bei den Gemeindewahlen 1946 die Christ-
lichen Demokraten nur in 1907 von 5614 Gemeinden die Mehrheit, die Sozialisten und
Kommunisten eroberten 1887 Gemeinden. In den Gemeinden, in denen auf Grund des
Verhältniswahlrechts gewählt wurde, errangen die Katholiken 992509, die Kommu-
nisten 738651 und die Sozialisten 734120 Stimmen.
109
Dieser Artikel enthielt den Treueschwur, den die italienischen Bischöfe
dem faschistischen Staat zu leisten hatten. Er lautete:
„Vor Gott und seinen heiligen Offenbarungen schwöre und verspreche ich anläßlich
meiner Ernennung zum Bischof, dem italienischen Staat die Treue zu halten. Ich
schwöre und verspreche, den König und die Regierung, die entsprechend der ver-
fassungsmäßigen Grundlage des Staates gebildet wurde, zu achten und sie von der mir
unterstellten Geistlichkeit achten zu lassen. Ich schwöre und verspreche, daß ich mich
an keinen Beratungen oder Ubereinkünften beteiligen werde, die dem italienischen Staat
und der öffentlichen Ordnung Schaden zufügen könnten, und ich werde auch der mir
unterstellten Geistlichkeit nicht erlauben, daran teilzunehmen. Ich werde mich um das
Wohlergehen und die Interessen des italienischen Staates bemühen und mich befleißigen,
allen Gefahren entgegenzutreten, die ihn bedrohen könnten."
Wie man sieht, unternahm der Vatikan alles, um die Geistlichkeit an
den faschistischen Staat zu binden. Er war daran interessiert, die Bischöfe
zu Kettenhunden des faschistischen Regimes zu machen.
Die Kirche wurde die religiöse Waffe des faschistischen Staates, und der
faschistische Staat wurde der weltliche Arm der Kirche. Der Vatikan erntete
die Früchte seiner neuen Politik — die systematische Verfolgung seiner
großen Feinde: Säkularismus, Liberalismus, Freimaurerei, Sozialismus
Kommunismus und Demokratie und die Wiedereinsetzung der katholischen
Kirche in ihre Position als vorherrschende Glaubensmacht des Landes.
Mussolini äußerte nach der Unterzeichnung des Konkordats:
„Wir billigen der katholischen Kirche den Vorrang im religiösen Leben des italie-
nischen Volkes zu - eine Tatsache, die in einem katholischen Land wie dem unsrigen und
unter der Herrschaft des Faschismus ganz natürlich ist."
Gleichzeitig begann Mussolini mit Zustimmung des Papstes die katho-
lischen politischen Zeitungen und Zeitschriften zu zensieren, da sich die
katholische Presse nach dem Konkordat nur noch mit religiösen Angelegen-
heiten befassen durfte. Mussolini brüstete sich öffentlich, in den ersten drei
Monaten nach Abschluß des Vertrages mehr katholische Zeitungen ent-
eignet zu haben als in den sieben Jahren zuvor.
Der Papst verkündete am 13. Februar 1929 aller Welt, Mussolini sei
„von der göttlichen Vorsehung" aus erwählt, sich mit ihm zusammenzu-
setzen. Er fügte hinzu, die Lateranverträge und das Konkordat wären nicht
möglich gewesen, wenn nicht „auf der anderen Seite ein Mann wie der
Ministerpräsident gestanden hätte". Am 17. Februar 1929 applaudierte die
päpstliche Aristokratie und Hierarchie anläßlich eines Empfanges im Vati-
kan, als Mussolini in einem Film auf der Leinwand erschien. Am 9. März
1929 erklärten die Kardinäle in einer Botschaft an den Papst, daß- „der
bedeutende Staatsmann" Italien „im Auftrag der göttlichen Vorsehung"
regiere. Zur Krönung des Ganzen befahl der Vatikan allen Priestern, zum
Abschluß der täglichen Messe „für den König und den Duce" zu beten.
110
Eine engere Allianz zwischen Kirche und Staat als die zwischen dem
Vatikan und dem faschistischen Regime war kaum denkbar. Trotzdem blieb
auch dieses Verhältnis nicht ungetrübt. Da beide, Kirche und Staat, totalitär
waren, gerieten sie trotz aller Übereinstimmung im Grundsätzlichen ernst-
haft in Streit. Beide beanspruchten die unumschränkte und alleinige Kon-
trolle über bestimmte Gebiete des gesellschaftlichen Lebens, vor allem über
die Jugenderziehung. Pius XI. behauptete, die katholische Kirche müsse auf
Grund des Konkordats größeren Anteil an der Erziehung der Jugendlichen
haben als bisher, und die Katholische Aktion habe sich ausschließlich nach
den Weisungen der kirchlichen Stellen zu richten. Mussolini aber wollte die
Kontrolle über das Erziehungswesen und die Katholische Aktion in seine
Gewalt bringen. Der Streit nahm so ernste Formen an, daß Pius XI. die
Enzyklika Non Abbiamo Bisogno nur auf Umwegen außer Landes bringen
konnte. In ihr verurteilte der Papst keineswegs den Faschismus, wenn es
auch später immer wieder von kirchlicher Seite beteuert wurde, er ver-
dammte, lediglich die Gewaltmaßnahmen der Faschisten gegen die Katho-
lische Aktion und die faschistischen Erziehungsgrundsätze, die darauf ziel-
ten, den Staat über alles zu stellen, auch über die katholische Kirche. In
derselben Enzyklika dankte der Papst dem faschistischen Regime für alles,
was es der katholischen Kirche gegeben hatte:
„Wir werden Uns immerfort dankbar an das erinnern, was zum Nutzen der Religion
in Italien geschehen ist, selbst wenn die Wohltaten, die daraus der Partei und dem
Regime erwuchsen, nicht geringer, ja vielleicht noch größer gewesen sind."
Im weiteren gestand der Papst, er habe den Faschismus in einem Maß
begünstigt, daß „manche" erstaunt gewesen seien und den Gedanken ge-
äußert hätten, der Vatikan sei bei dem Kompromiß mit dem faschistischen
Regime zu weit gegangen. Er schrieb dann:
„Wir haben nicht nur von formalen und ausführlichen Verurteilungen Abstand ge-
nommen, sondern sind sogar zu der Überzeugung gelangt, daß Kompromisse möglich
sind. Wir haben daher Kompromisse begünstigt, die andere als unannehmbar ansahen.
Es ist nicht Unsere Absicht, die Partei und das Regime zu verurteüen . . . Wir sind be-
strebt, nur jene Dinge im Programm und in der Tätigkeit der Partei zu verdammen, die
im Gegensatz zur katholischen Lehre und Praxis stehen." (Pius XI., Enzyklika Non
Abbiamo Bisogno, 1931)
Der Papst gab zu, daß die faschistische Eidesformel, weil sie den Lehren
der Kirche widerspreche, verurteilt werden müsse, beschwichtigte aber zu-
gleich das Gewissen jedes Katholiken, indem er erklärte, die Gläubigen soll-
ten, wenn die Kirche auch den Eid verdamme, dem Duce doch Gefolgschaft
schwören. Sie täten dies am besten so, daß sie den Eid mit der reservatio
mentalis leisteten, nichts „gegen die Gesetze Gottes und seiner Kirche zu
tun". Die staatlichen Stellen, die den Eid entgegennähmen, wüßten von
111
diesem „geistigen Vorbehalt" nichts. So schworen Hunderttausende Katho-
liken ohne Bedenken dem Faschismus treue Gefolgschaft, da ihre höchste
religiöse Autorität, der Papst, ihnen versichert hatte, sie könnten das ohne
Gewissensbisse tun.
Deutlicher konnte die Entschlossenheit der katholischen Kirche, das
faschistische Regime trotz aller Meinungsverschiedenheiten zu stützen,
kaum zum Ausdruck gebracht werden. Wir werden noch sehen, daß die
katholische Kirche den deutschen Katholiken ähnliche Ratschläge bezüglich
der Unterstützung Hitlers erteilte. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten
kamen sich Kirche und Staat allmählich wieder näher und arbeiteten später
offener denn je zusammen.
Den ersten Schritt in dieser Richtung unternahm Mussolini, als er im
Juni 1931 erklärte:
„Ich wünsche überall in diesem Land die Religion 2U sehen. Man soll die Kinder den
Katechismus lehren . . . , wie jung sie auch sein mögen . . ."
Mussolini konnte es sich leisten, so zu reden. Die katholische Kirche war
nach allem, was sich ereignet hatte, nur zu bereit, mit den Faschisten in
den Schulen, in den Lagern und in den faschistischen Jugendheimen, in
denen die Kinder vor jeder Mahlzeit ein Tischgebet aufsagen mußten, zu-
sammenzuarbeiten. Folgendes Gebet wurde von der Kirche verfaßt und
verbreitet :
„Duce, ich danke dir, daß du mir die Möglichkeit gegeben hast, gesund und kräftig
aufzuwachsen. Lieber Gott, beschütze den Duce, damit er unserem faschistischen Italien
lange erhalten bleibt." (New York Times, 20. Januar 1958. Siehe auch Towards the New
ltaly 7 von T. L. Gardini, S. 195.)
Höchste kirchliche Würdenträger begannen wieder, das Loblied des Duce
zu singen. Kardinal Gasparri, der päpstliche Legat in Italien, erklärte im
September 1932:
„Die faschistische Regierung Italiens bildet die einzige Ausnahme in der politischen
Anarchie der Regierungen, Parlamente und Schulen der ganzen Welt . . .
Mussolini hat als erster das Chaos klar vorausgesehen, das gegenwärtig in der Welt
herrscht. Er bemüht sich jetzt, die schwerfällige Regierungsmaschinerie auf den
rechten Pfad zu führen, damit sie in Übereinstimmung mit den moralischen Gesetzen
Gottes arbeitet."
Schließlich war die Zeit reif zur offiziellen Versöhnung. Ami 1. Februar 1952
betrat Mussolini feierlich den Petersdom und kniete zum Gebet nieder.
Von nun an war das Schicksal der Kirche eng mit dem des Faschismus ver-
bunden. Die im Lateranvertrag vorgesehenen finanziellen Abkommen besie-
gelten die Allianz. Annähernd die Hälfte der Summe, die der Staat an den
Vatikan zu zahlen hatte, gewährte er in Regierungsobligationen. Der Papst
verpflichtete sich, diese Obligationen auf Jahre hinaus nicht zu verkaufen.
112
Dadurch hing das finanzielle Wohl des Vatikans weitgehend von der Er-
haltung des Faschismus ab.
In den folgenden zwei Jahren, als das italienische Volk, vor allem seine .
Jugend, dem doppelten Bombardement der religiösen und der faschistischen
Propaganda ausgesetzt war, arbeiteten Faschisten und Kirche Hand in
Hand. So hatten die Schulbücher in den Grundschulen zu einem Drittel
religiösen Inhalt — Katechismus, Gebete usw. — , die anderen zwei Drittel
bestanden aus Lobreden auf den Faschismus und den Krieg. Priester und
Faschistenführer arbeiteten eng zusammen. Papst und Duce bedachten ein-
ander weiter mit Lobreden und wurden „zwei gute Kameraden", die sich
bemühten, „das Glück des Volkes zu mehren".*
Aber Mussolini, der alles andere als ein gläubiger Christ war, hatte den
Petersdom keineswegs mit seiner Anwesenheit beehrt, weil ihm plötzlich
eine Erleuchtung gekommen war. Er hatte einen Plan, zu dessen Verwirk-
lichung er die Hilfe der katholischen Kirche brauchte. 1935 begann die erste
der brutalen Aggressionen, die schließlich zum zweiten Weltkrieg führten :
Das faschistische Italien überfiel Abessinien.
Es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu streiten, ob Italien übervölkert
war oder nicht, ob es sich einen „Platz an der Sonne" erkämpfen mußte
oder nicht. Uns interessiert hier vor allem, welchen Anteil der Vatikan als
der engste Verbündete des Faschismus an dieser Aggression hatte. Die Fa-
schisten versuchten ihre Aggression mit der angeblichen Notwendigkeit einer
Expansion zu rechtfertigen. Dies war jahrelang ihre Hauptpropagandathese.
Im Sommer 1935, als sich Mussolinis Absicht, Abessinien anzugreifen,
immer klarer abzeichnete, wurde diese Kampagne verstärkt. Aber die fa-
schistische Version zur Bemäntelung des Krieges wurde von der italienischen
Bevölkerung mit großer Skepsis aufgenommen und fand bei ihr wenig Be-
geisterung. Da eilte der Papst dem Regime wieder zu Hilfe und mißbrauchte
* Die Allianz der katholischen Kirche mit dem faschistischen Regime ging so weit, daß
manche Priester von der faschistischen Partei Geld erhielten, um faschistische Ideen zu
propagieren. Andere wurden sogar Agenten der faschistischen Geheimpolizei, der OVRA,
sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes. Hier zwei typische Beispiele : Der Erz-
bischof von Gorizia - Monsignore Margotti - erhielt von Mussolini monatlich eine
Summe von 10 000 Lire für die Unterstützung des faschistischen Regimes, Nach dem
Krieg wurde er von jugoslawischen Partisanen zum Tode verurteilt, aber auf eine alli-
ierte Intervention hin begnadigt und lediglich aus seiner Diözese verbannt (März 1946).
Als er einige Monate später zurückkehrte - man hatte ihm großzügig die Erlaubnis er-
teilt -, wurde er von den italienischen und den jugoslawischen Kommunisten heftig an-
gegriffen. Er exkommunizierte darauf seine Ankläger und das Redaktionskollegium der
Zeitung, die ihn angegriffen hatte (Juni 1946). Ehrwürden Pucci, früher römischer
Korrespondent der Nachrichtenagentur NCWC, war ein Agent der OVRA. Sein Name
stand auf einer offiziellen Liste von 600 OVRA-Leuten, die im Juli 1946 im amtlichen
italienischen Bulletin veröffentlicht wurde.
8 M359
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von neuem seine Autorität in Glaubensfragen für politische Zwecke. Er
beruhigte jene italienischen Katholiken, denen Zweifel gekommen waren,
ob sie die vom Duce geplante Aggression unterstützen könnten, und erklärte
am 27. August 1935, als die Kampagne der Kriegsvorbereitungen auf
Hochtouren lief, daß ein Verteidigungskrieg zum Zweck der Expansion
einer wachsenden Bevölkerung durchaus gerecht und richtig sein könne.
Diese Äußerung des Papstes war der erste von zahlreichen Schritten, mit
denen der Vatikan nicht nur vor dem Inland, sondern auch vor dem Ausland,
vor allem aber vor dem Völkerbund, der in erster Linie berufen war, die
Aggression zu vereiteln, den faschistischen Überfall zu rechtfertigen suchte.
Am 5. September 1935, an dem Tag, an dem der Völkerbund das Abes-
sinienproblem zu behandeln begann, fand in Teramo ein nationaler Eucha-
ristischer Kongreß statt, an dem der päpstliche Legat, 19 Erzbischöfe, 57
Bischöfe und Hunderte anderer Würdenträger der katholischen Kirche
Italiens teilnahmen.
Man kann darüber streiten, ob dieses Zusammentreffen reiner Zufall
war. Gewiß aber war es kein Zufall, daß die in Teramo versammelten Säu-
len der katholischen Kirche Italiens gerade zu der Zeit eine Botschaft an
Mussolini richteten, als er von der gesamten Weltöffentlichkeit scharf ange-
griffen wurde. In der Botschaft hieß es : „Das katholische Italien betet für
die wachsende Größe seines geliebten Vaterlandes und schart sich geschlos-
sener denn je um Ihre Regierung."
Nicht genug damit, warf der Papst selbst zwei Tage später, als die Abes-
siniend ebatte im Völkerbund ihren Höhepunkt erreichte, das Gewicht sei-
ner Autorität zugunsten des Faschismus in die Waagschale. Er tat dies auf
Grund zweier Überlegungen: Einmal wollte er dem Faschismus helfen,
unter den unwilligen Italienern nationalistische Begeisterung für den
bevorstehenden Krieg zu wecken, zum anderen wollte er die Verhandlungen
im Völkerbund beeinflussen, indem er den zahlreichen katholischen Dele-
gierten der vielen katholischen Länder den Hinweis gab, nicht gegen das
faschistische Italien zu stimmen. Denn, so erklärte der Papst, obgleich er
für den Frieden bete, wünsche er doch, daß „die Hoffnungen und Rechte . . .
des italienischen Volkes befriedigt und in Gerechtigkeit und Frieden an-
erkannt . . . werden".
Am nächsten Tag, als die päpstlichen Worte noch in den Ohren der katho-
lischen Gläubigen und der katholischen Nationen nachklangen, erklärte der
Duce vor aller Welt, daß das faschistische Italien den Frieden wünsche, aber
nur für einen Frieden sein könne, der auf Gerechtigkeit beruhe. Von da an
verstärkte die faschistische Propaganda, sekundiert von der katholischen
Kirche, ihre Paukenschläge zu einem Fortissimo. Am 3. Oktober 1935 über-
schritten italienische Truppen die abessinische Grenze.
114
Ein Schrei der Entrüstung war die Antwort aus allen Teilen der Welt
auf diese Schandtat der Faschisten, nur der Papst rührte sich nicht. Ein
katholischer Schriftstell er schrieb später darüber: „Die ganze Welt verdammte
Mussolini, nur der Papst nicht." (Teeling, The Pope in Politics, S. 129)
Das italienische Volk nahm die Nachricht des Überfalls trotz der Propa-
ganda wenig begeistert auf. Die Faschisten versuchten ihm einzureden, daß
die Welt nicht wegen des Überfalls gegen Italien sei; man wolle vielmehr
Italien in wirtschaftlicher Sklaverei halten. Unter dem fortwährenden Druck
dieser Propaganda und der katholischen Kirche begann die italienische Be-
völkerung das faschistische Abenteuer Schritt für Schritt zu unterstützen.
Die faschistischen Führer schwangen auf Straßen und Plätzen laute
Reden, und die Bischöfe und Priester predigten mit dem gleichen Ziel in
den Kirchen. Sie forderten vom Volk, den Duce zu unterstützen. Als Musso-
lini an die italienischen Frauen appellierte, ihre Gold- und Silberringe dem
Staat zu spenden, riefen die Priester die Frauen auf, soviel wie nur irgend
möglich zu opfern. Viele Bischöfe und Geistliche gingen sogar den Frauen
voran und stellten den Faschisten den Juwelen- und Goldschatz der Kirche
zur Verfügung. Sie boten sogar Kirchenglocken an.
So erklärte der Bischof von San Miniato eines Tages, die Geistlichkeit sei
„bereit, das Gold und die Glocken der Kirche für den Sieg des faschistischen
Italiens einzuschmelzen". Der Bischof von Siena grüßte und segnete „Ita-
lien, unseren großen Duce, unsere Soldaten, die für den Sieg der Wahrheit
und der Gerechtigkeit kämpfen".
Der Bischof von Nocera ließ einen Hirtenbrief in allen Kirchen seiner
Diözese verlesen, in dem es hieß: „Als italienischer Bürger halte ich diesen
Krieg für gerecht und heilig," Der Bischof von Civitä Castellana dankte in
Anwesenheit Mussolinis dem Allmächtigen, daß er „es mir vergönnt, diesen
historischen und ruhmreichen Tag zu erleben, der unsere Einheit und un-
seren Glauben besiegelt".
Der Kardinal erzbischof von Mailand, Schuster, versuchte, dem Krieg
gegen Abessinien den Charakter eines Kreuzzuges zu verleihen, und sagte:
„Die italienische Flagge bringt in diesem Augenblick im Triumph das Kreuz
des Christentums nach Äthiopien, um den Weg für die Befreiung der Skla-
ven frei zu machen und das Land unserer Missionspropaganda zu öffnen."
(Siehe T. L. Gardini, Towards the New ltaly> S. 183)
Der Erzbischof von Neapel mißbrauchte sogar das Bild der Madonna, das
in einer großen Prozession von Pompeji nach Neapel getragen wurde, für
die Kriegspropaganda. Veteranen, Kriegerwitwen, Kriegswaisen und Fa-
schisten zogen hinter dem Madonnenbild her. Gleichzeitig warfen faschi-
stische Militärflugzeuge Flugblätter ab, in denen die Jungfrau, der Faschis-
mus und der abessinische Krieg in einem Atemzug verherrlicht wurden.
115
Zum Abschluß der Prozession erteilte der Kardinalerzbischof, auf einem
Panzer stehend, der erregten Menge feierlich den Segen.
Solche Dinge geschahen überall in Italien. Professor Salvemini von der
Harvarduniversität hat festgestellt, daß wenigstens 7 italienische Kardinäle,
29 Erzbischöfe und 61 Bischöfe die Aggression sofort unterstützten. Und
das alles im Zeichen des Konkordats von 1929, das den Bischöfen und Prie-
stern jede politische Betätigung streng untersagte.
Der Vatikan machte bei der Unterstützung der faschistischen Aggression
keineswegs an den Grenzen Italiens halt. Die Hilfeleistung wurde auch im
Ausland organisiert. Die katholische Presse in aller Welt, selbst in Ländern
wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten, erging sich in Lobreden
über das faschistische Italien. So schrieb der Catholic Herald:
„Die Sache der Zivilisation verlangt gegenwärtig die Stabilität des faschistischen
Regimes in Italien . . . Das faschistische Regime hat viel für Italien getan . . . Trotz
seines Antiklerikalismus . . . hat es die katholische Religion begünstigt."
Das Haupt der katholischen Kirche in England äußerte :
„Um es klar zu sagen : Die bestehende faschistische Herrschaft, obwohl in mancherlei
Hinsicht ungerecht, . . . verhinderte schlimmeres Unrecht, und wenn der Faschismus,
den ich grundsätzlich nicht gutheiße, dort untergehen sollte, könnte nichts das Land
vor dem Chaos bewahren. Gottes Sache würde mit ihm untergehen." (Catholic Times,
18. Oktober 1955)
Zur Krönung des Ganzen erklärte der Papst am 12. Mai 1936, als die
Abessini er unterworfen waren, daß er teilhabe an der „triumphierenden
Freude des ganzen großen und guten Volkes über den Frieden, der, wie man
hoffen und annehmen darf, ein wirksamer Beitrag, ein Vorspiel für den
wahren Frieden Europas und der Welt sein wird".
Den faschistischen Armeen in Abessinien folgten die Priester. Missio-
nare, Nonnen und katholische Organisationen begannen, die religiösen Vor-
stellungen der Abessinier auszurotten und sie durch den Katholizismus zu
ersetzen. Denn die italienische Flagge hatte, wie sich der Kardinalerzbischof
von Mailand vor der Öffentlichkeit ausdrückte, „den Weg . . . für unsere
Missionspropaganda frei gemacht". Der Erzbisch of von Tarent äußerte,
als er auf einem Unterseeboot eine Messe zelebrierte: „Der Krieg gegen
Äthiopien sollte als heiliger Krieg angesehen werden, als ein Kreuzzug";
ein italienischer Sieg werde „Äthiopien, das Land der Ungläubigen und
Schismatiker, dem katholischen Glauben öffnen".
Der faschistische Überfall auf Abessinien versetzte dem Völkerbund den
ersten der schweren Schläge, die schließlich zu seinem Tode führten und den
Frieden der Welt zerstörten. Es war der Beginn des großen Abenteuers, das
der Faschismus - Italiens, Deutschlands und anderer Nationen - unternahm,
um in engem Bündnis mit dem Vatikan die Weltherrschaft zu erringen.
116
Wenige Monate nach der ersten faschistischen Aggression flackerte ein
zweiter Brandherd auf, diesmal in Europa. Am 16. Juli 1936 brach auf der
Iberischen Halbinsel der spanische Bürgerkrieg aus.
Die Rolle Mussolinis bei der Vorbereitung und Durchführung des Franco -
putsches haben wir bereits untersucht. Der Vatikan mobilisierte die spa-
nische Hierarchie, um Franco unmittelbar zu helfen, und die italienische,
um Mussolinis Hilfe für Franco zu verstärken. Wir können uns hier darauf
beschränken, an einigen Beispielen zu zeigen, mit welcher Begeisterung
die katholische Kirche zu dieser Zeit Mussolini huldigte.
Anfang Januar 1938 baten 60 Erzbischöfe und Bischöfe und 2000 Priester
nach einer Feierlichkeit auf dem Lande, von Mussolini empfangen zu werden.
Sie marschierten mit Kirchenfahnen an der Spitze des Zuges zum Grab des
Unbekannten Soldaten und zum Ehrenmal der „in der faschistischen Re-
volution gefallenen Helden". Als sie schließlich vor dem Duce standen,
brachen sie in lauten Beifall aus. Der Erzbischof von Undino verlas eine
Botschaft, in der es unter anderem hieß: „. . . Duce, möge Gott Sie be-
schützen! Wir alle richten unser Gebet an Ihn, damit Er Ihnen hilft, alle
Schlachten zu gewinnen, die Sie so weise und energisch für den Wohlstand,
die Größe und den Ruhm des christlichen Roms, . . . des Zentrums der
Christenheit, der Hauptstadt des römischen Imperiums, führen."
Anschließend verlas ein Geistlicher eine Erklärung, die zuvor von der
Versammlung gebilligt worden war. Sie brachte wiederholt den Willen der
Erzbischöfe, Bischöfe und Priester zum Ausdruck, mit dem faschistischen
Regime zusammenzuarbeiten, und versprach Unterstützung „sowohl bei der
Weizenkampagne als auch bei der Eroberung des Imperiums . . damit
Italien geistig, wirtschaftlich und militärisch darauf vorbereitet ist, seinen
Frieden gegen alle Feinde seiner imperialen Macht zu verteidigen". Die
Erklärung endete: „Möge der Segen des Himmels über Sie kommen. Die
Geistlichkeit Italiens erfleht für Ihre Person, für Ihr Werk als Gründer des
Imperiums und des faschistischen Regimes den Segen des Herrn. Duce, die
Priester Christi erweisen Ihnen ihre Ehrerbietung und schwören Ihnen
Treue."
Die Geistlichen riefen im Sprechchor: „Duce, Duce, Duce." Als Musso-
lini schließlich das Wort ergreifen konnte, erklärte er, die Zusammenarbeit
zwischen der katholischen Kirche und dem Staat habe für beide Seiten
Früchte getragen. Er sprach „mit dem Gefühl tiefster Dankbarkeit" von
der „wirksamen Mitarbeit des Klerus im abessinischen Krieg, . . . wobei ich
vor allem an die Beispiele von Patriotismus denke, die viele italienische
Bischöfe zeigten, als sie ihr Gold den örtlichen Stellen der faschistischen
Partei überbrachten, und an die Priester, die den Widerstandswillen und die
Kampfbereitschaft des italienischen Volkes stärkten". Die Erzbischöfe und
117
Bischöfe brachen von neuem in begeisterten Beifall aus und riefen abermals
im Sprechchor: „Duce, Duce, Duce." (Corriere della Sera vom 10. Januar
1938)
Zu der Zeit, als der spanische Bürgerkrieg in sein kritisches Stadium ge-
treten war, schickte der italienische Klerus Gebete gen Himmel, die Musso-
lini helfen sollten, die von ihm „so weise und energisch unternommenen
Schlachten" zu gewinnen. Zur gleichen Zeit ermordeten faschistische Agen-
ten systematisch italienische Bürger, die bereit waren, als Freiwillige die
spanische Republik zu verteidigen (zum Beispiel Fratelli Rosselli), und ar-
beiteten mit illegalen französischen Faschisten (Les Cagoulards) zusammen,
um den Nachschub für die Republik zu sabotieren. In einem Gerichtsverfah-
ren gegen führende italienische Faschisten, das im Januar 1945 in Rom
stattfand, wurde festgestellt, daß sich die faschistische Regierung damit
beschäftigt hatte, durch Einschleppung von Bakterienkulturen Krankheiten
und Seuchen unter den republikanischen Truppen zu verbreiten.
„Graf Ciano, Mussolinis Schwiegersohn, war der Hauptanstifter einer ganzen Serie
von Morden, Schiffsuntergängen und Zugunglücken. Er organisierte eine Verschwö-
rung, die Krankheitsbazillen während des spanischen Bürgerkrieges . . . unter den
Regierungsanhängern verbreiten sollte.
Emanuele erwähnte, daß in Marseille ein Individuum, inzwischen als Capitano
Betrognami der italienischen Geheimpolizei entlarvt, Bakterienkulturen erwarb; sie
sollten in Verpflegungstransporte nach Barcelona eingeschmuggelt werden." {Daily
Telegraph vom 1. Februar 1945)
Von 1936 bis zum Ende des spanischen Bürgerkrieges herrschten zwi-
schen Kirche und Staat harmonische Beziehungen. Gelegentliche Differen-
zen hatten keine tiefen Wurzeln und dienten lediglich zur Verschleierung
dieses Teufelsbundes. So protestierte der Papst zum Beispiel gegen einige
antisemitische Gesetze, weil sie auch die Heirat mit christlichen Juden
verboten, stellte aber im gleichen Atemzug ausdrücklich fest:
„Wir erklären offen, daß nach Gott Unsere Würdigung und Unser Dank vor allem
jenen hochgestellten Persönlichkeiten gilt; Wir meinen den sehr ehrenwerten Souverän
und seine unvergleichlichen Minister . . . nichts liegt Uns ferner als der Gedanke, einen
Streit zu beginnen." (Papst Pius XI. in seiner Weihnachtsbotschaft 1938)
Wenige Monate später starb Pius XI. Kardinal Pacelli wurde am
12. März 1939 zum neuen Papst gewählt und nahm den Namen Pius XII. an.
Der Thronwechsel des höchsten geistlichen Würdenträgers der katho-
lischen Kirche änderte nichts an der Einstellung des Vatikans zum Faschis-
mus. Warum auch? Der neue Papst hatte ja bereits zehn Jahre lang die
Außenpolitik des Vatikans geleitet und war vor allem, wie wir noch «ehen
werden, an der Machtergreifung Hitlers maßgeblich beteiligt. Er unter-
schied sich von seinem Vorgänger lediglich darin, daß er ein geschickterer
Diplomat war.
118
Als der neue Papst sein Amt antrat, erließ Mussolini ein Dekret über
die Ausweisung von mehr als 69 000 Juden aus Italien. Pius XII. schwieg
dazu. Einige Wochen später überfiel das faschistische Italien Albanien. Der
Papst protestierte, aber nicht etwa, weil die Faschisten heimtückisch in ein
Land eingebrochen waren, sondern weil sie die Aggression an einem Kar-
freitag begonnen hatten.
Ende April 1939 empfing der Papst eine Botschaft, die so geheim war,
daß er sie - nach Angaben seines Biographen Rankin — nur seinem Staats-
sekretär zu lesen gab. Darauf begann im Vatikan eine „fieberhafte Aktivi-
tät". Eine diplomatische Unterredung, vor allem mit den Vertretern Polens,
Frankreichs und Deutschlands, jagte die andere. Wenige Wochen zuvor
hatte Hitler seinen tödlichen Schlag gegen die Tschechoslowakei geführt.
Der Sturm des Krieges näherte sich mit rasender Geschwindigkeit. Am
1. September 1959 überfiel Hitlerdeutschland Polen, zwei Tage später
erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg.
Der Papst machte einige Friedensangebote, aber ohne Erfolg. Als Polen
zerschlagen war, legte sich eine unheilschwangere Stille über Europa.
Pius XII. hofierte weiterhin das faschistische Regime in Italien. Zum
Abschluß des schicksalsschweren Jahres überraschte er die Welt durch eine
einmalige Geste: Er empfing den König und die Königin feierlich im Vati-
kan und erschien kurz darauf im Quirinal zum Gegenbesuch. Der Papst
wünschte aus verschiedenen Gründen, das faschistische Italien aus dem
Krieg herauszuhalten: Er wollte nicht, daß sich die Feindseligkeiten aus-
dehnten und sich die Situation hinsichtlich der Westmächte komplizierte,
solange eine Friedenschance bestand; weiter lag ihm daran, daß Italien erst
dann in den Krieg eingriff, wenn er sich gegen die Sowjetunion richtete;
schließlich hätte sich ja die katholische Kirche auch in einer wenig benei-
denswerten Lage befunden, wenn der Faschismus in Italien infolge einer
militärischen Niederlage oder durch eine Revolution im Innern zusammen-
gebrochen wäre.
Unmittelbar nach dem Angriff Deutschlands auf Polen brachte der Vati-
kan der italienischen Regierung sein Wohlwollen zum Ausdruck, daß Ita-
lien neutral geblieben war. Graf Ciano erzählte Frater Tacchi Venturi -
einem jesuitischen Mittelsmann zwischen Mussolini und dem Vatikan — , daß
es Italiens Absicht sei, sich aus dem Kriege herauszuhalten; am 29. Fe-
bruar 1940 erklärte er dem päpstlichen Nuntius in Italien: „Ich habe den Ein-
druck, daß eine große Off ensive bevorsteht . . . Deutschland wird große Anstren-
gungen unternehmen, uns in den Krieg hineinzuziehen." (Das Friedenswerk
des Heiligen Stuhls in Italien^ herausgegeben vom Vatikan im Juni 1945)
Am 24. April 1940 richtete der Papst ein Handschreiben an Mussolini,
in dem er ihn bat, dafür zu sorgen, daß Italien nicht in den Krieg
119
hineingezogen würde. Unterdessen bereitete Hitler den Angriff auf den
Westen vor und schickte Ribbentrop nach Rom, um den Vatikan über den
Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion zu beschwichtigen Als Hitler die
Niederlande und Belgien okkupierte, protestierte der Papst in milder Form.
Er schrieb an den belgischen König und an die niederländische Königin, daß
er die willkürliche Besetzung ihrer Länder mißbillige.
Hitler forderte daraufhin Mussolini auf, den Papst zum Schweigen zu
bringen. Der Duce kam diesem Verlangen durch Androhung von Repres-
salien und unter Berufung auf den Artikel 24 des Lateranvertrages nach.
Der Osservatore Romano, das offizielle Organ des Vatikans, hörte in der
Tat auf, politische Artikel zu veröffentlichen.
Die erste Mitteilung über den Entschluß der italienischen Regierung,
in den Krieg einzugreifen, gab der faschistische Unterstaatssekretär am
22. Mai 1940 dem Erzbischof Borgongini- Duca. Sie wurde am 28. Mai von
Graf Ciano wiederholt. Einige Wochen später, am 10. Juni 1940, als Frank
reich bereits am Boden lag, ließ Mussolini seine Truppen in Süd-
frankreich einrücken und zog auf diese Weise Italien in den Krieg. Wieder
schlug sich die katholische Kirche unverhüllt auf die Seite des Faschismus.
Neun Tage nach der Kriegserklärung äußerte der Papst auf einem
Empfang einiger Hundert neuverheirateter Paare, es sei „ihr Pflicht, für
das Land zu beten, das, durch den Schweiß und das Blut der Vorfahren
fruchtbar geworden, nunmehr erwartet, daß seine Söhne ihm treulich
dienen".
Am 4. September 1940 wandte sich der Papst an 5000 Mitglieder der
Katholischen Aktion und ermahnte sie, bereit zu sein, ihr Leben für das
Vaterland zu opfern.
Als Mussolini Griechenland überfiel, hüllte sich der Papst in Schweigen
und enthielt sich jeder Verurteilung dieser neuen Aggression. Zwei Tage
später jedoch, am 30. Oktober, gewährte er 200 italienischen Armee-
offizieren in Uniform, „den Repräsentanten der italienischen Armee**, eine
Audienz und erklärte, es sei ihm eine besondere Ehre, Männer zu segnen,
„die ihrem geliebten Vaterland in Treue und mit Liebe dienen** Am
4. Februar 1941 empfing er 50 deutsche Fliegeroffiziere und 200 italienische
Soldaten, alle in Uniform, und stellte fest, daß er „glücklich ist, sie zu
begrüßen und zu segnen**.
Im Mai 1Ö41 empfing Pius XII. den Herzog von Spoleto am Vorabend
seiner Ausrufung zum König von Kroatien. Einen Tag nach der Zeremonie
erschien eine kroatische Delegation beim Papst, angeführt von dem faschisti-
schen Diktator Kroatiens, Ante Pavelic", von eben jenem Paveli6, der in
Frankreich wegen seiner Teilnahme an der Ermordung des Königs von
Jugoslawien (1934) zum Tode verurteilt worden war.
120
Am 13. August 1941 empfing Pius XII. 3 000 italienische Gläubige und
600 italienische Soldaten. Vor ihnen erklärte er: „Wie viele Heldentaten
legen heute auf den Schlachtfeldern, in der Luft und auf den Meeren von
jener Seelenstärke ein glänzendes Zeugnis ab, welche die Todesgefahren mutig
auf sich nimmt . . . Gerade in den Sturmgewittern des Krieges kommen
Stunden und Augenblicke lichtvoller Bewährung, in denen sich häufig un-
vermutete Großtaten von solch heldenhaften Seelen offenbaren, die alles,
selbst das Leben, opfern für die Erfüllung der vom christlichen Gewissen
vorgeschriebenen Pflichten." (Zitiert nach dem Kirchlichen Amtsblatt für
die Diözese Münster, Jahrgang LXX V, Nr. 1 6)
Trotz allem mußte sich der Papst bei der Ermunterung der faschistischen
Soldaten Zurückhaltung auferlegen. Er wußte, daß Millionen Katholiken
in den Ländern der Alliierten seine Worte und Taten wachsam verfolgten.
Aber was der Papst selbst nicht sagen konnte, das sagte die Kirche. Sie war
eins mit dem Faschismus, jedes neue Abenteuer der Faschisten fand ihre
volle Unterstützung. Gemeindepfarrer, Bischöfe, Erzbischöfe, ja selbst
Kardinäle bezeichneten es als höchsten Ruhm, für das faschistische Italien
zu kämpfen und zu sterben, und forderten alle Bürger auf, der Regierung
zu folgen. In ganz Italien suchten die Bischöfe, allen voran der Kardinal
von Mailand, die zum Abtransport bereitstehenden Soldaten in den Kaser-
nen auf und segneten Maschinengewehre, Kampfflugzeuge und Untersee-
boote. Der Kardinal überreichte den Gläubigen geweihte Medaillons und
verteilte an sie heilige Bilder, die die faschistischen Legionen, geführt von
Engeln, auf dem siegreichen Vormarsch zeigten. Auf anderen Bildern war
der Erzengel Gabriel als Drachen töter zu sehen, wobei der Engel die
faschistische Macht und der Drache ihre Feinde darstellen sollte. Die katho-
lische Kirche machte aus ihrer Unterstützung des faschistischen Italiens
kein Hehl. Ihre Begeisterung für die Faschisten nahm solche Ausmaße an,
daß selbst der Vatikan die italienische Hierarchie einige Male mahnen
mußte, sich etwas mehr zurückzuhalten.
Der Papst empfing weiter italienische und deutsche Soldaten und erteilte
ihnen seinen Segen. Aber vom Frühjahr 1942 an wurden die Audienzen
eingeschränkt und schließlich eingestellt. Seit den Tagen des Jahres 1940
hatte sich in der Welt einiges geändert.
Die Sowjetunion, deren Vernichtung Hitler für Ende 1941 versprochen
hatte, war weit davon entfernt, zusammenzubrechen - im Gegenteil, sie
begann zurückzuschlagen. Die Schlacht von Stalingrad zeigte der Welt und
auch dem Vatikan, daß die Deutschen in die Defensive gedrängt wurden.
Ein Sieg der Nazis, 1941 für viele noch so gut wie sicher, wurde immer
zweifelhafter. Die Schwächung des deutschen militärischen Potentials, die
Niederlage in Afrika mit der fast vollständigen Vernichtung der dort
121
operierenden faschistischen Armeen und schließlich die Landung der Alliier-
ten in Italien zeigten, daß sich die Situation grundlegend gewandelt hatte.
Der Vatikan stellte sich angesichts des bevorstehenden Zusammenbruchs des
Faschismus darauf ein, der „Gefahr des Bolschewismus" in Italien zu begeg-
nen. Schon mehrere Monate vor der Landung der Alliierten in Italien war
das Land von einer zunehmenden Unruhe erfaßt. An verschiedenen Orten
kam es zu Streiks. Im industriellen Norden wurde bereits wieder kommuni-
stische Propaganda getrieben, und diese Gefahr zwang den Vatikan, rasch
zu handeln.
Im Vatikan war ein Plan entwickelt worden, wie man der heranreifenden
Situation am besten Herr werden könnte. Zuvor hatte man sich mit Groß-
britannien und den USA und im eigenen Lande mit gewissen faschistischen
Elementen und bestimmten, unter der Führung des Königs stehenden
militärischen Kreisen beraten. Der Plan bestand darin, Mussolini zu stürzen,
um zu verhindern, daß er durch die revolutionären Kräfte des Volkes hin-
weggefegt würde. Sein Sturz war ohnehin infolge der inneren Verhältnisse
und der Unfähigkeit des Regimes, den italienischen Boden zu verteidigen,
unvermeidlich geworden. Außerdem war die Beseitigung des Mussolini-
regimes eines der Kriegsziele der Alliierten.
Der Vatikan fürchtete ebenso wie die westlichen Alliierten, daß die revo-
lutionären Kräfte in Italien die Oberhand gewinnen könnten. Er verein-
barte daher mit den Alliierten, nach dem Sturz Mussolinis die Struktur des
faschistischen Regimes im großen und ganzen beizubehalten. Nur auf diese
Weise glaubte man verhindern zu können, daß die Gegner des Faschismus
Herr der Lage wurden. Dieser Plan wurde im Frühjahr 1943 ausgearbeitet.
Seine wichtigsten Initiatoren waren: Der Erzbischof von New York,
Spellman, der die Verbindung zwischen dem Papst, Präsident Roosevelt und
den italienischen Putschisten hielt, der frühere Botschafter des faschistischen
Italiens in London, Graf Grandi, und der faschistische Minister Federzoni.
Erzbischof Spellman befaßte sich bei seinem Aufenthalt in Rom im Früh-
jahr 1943 vor allem damit, Verbindung mit Graf Grandi und Minister
Federzoni sowie mit dem König (am 22. und 23. Februar) aufzunehmen
und sowohl dem Papst als auch Präsident Roosevelt mit minutiöser Genauig-
keit über den Fortschritt der Beratungen zu berichten. Als die vorgesehenen
Pläne ausgearbeitet waren, reiste Spellman durch viele europäische und
außereuropäische Länder und verbrachte seine Zeit damit, die Bomben-
flugzeuge zu segnen, die ihre tödliche Last auf die deutschen Städte abwarfen
(zum Beispiel am 6. April 1943), und die Leute aufzusuchen, die in der
neuen Politik des Vatikans, der USA und Großbritanniens eine Rolle spielen
sollten. So besuchte er unter anderem den amerikanischen Botschafter in
Istanbul und zwei Vertreter des Papstes, Monsignore Pappalardo von der
122
Kongregation der orientalischen Kirchen und Monsignore Ciamio vom
Staatssekretariat des Vatikans, die sich „zufällig** dort aufhielten.
Zu derselben Zeit unternahm der Vatikan die ersten vorsichtigen
Schritte in Italien selbst. Als bei einigen Streiks, die unter Führung von
Sozialisten und Kommunisten in Norditalien stattfanden, der Sturz des
Regimes, die Abschaffung der Monarchie und die soziale Revolution ge-
fordert wurden, ermahnte die hohe Geistlichkeit alle Italiener, der Monarchie
die Treue zu halten. Am 50. März 1943 erklärte der Erzbischof von Mai-
land, alle Italiener sollten sich „stets daran erinnern, daß die Monarchie des
Hauses Savoyen die Gewähr der nationalen Einheit** sei.
Allmählich drang einiges über die Geheimverhandlungen an die Öffent-
lichkeit. Einen ersten Hinweis gab der französische Journalist Pertinax,
der sehr enge Beziehungen zur vatikanischen Delegation in Washington
unterhielt. Pertinax behauptete, daß „der Vatikan den zu erwartenden
sozialen Unruhen, die auf der Halbinsel infolge der militärischen Nieder-
lage zur See und der pausenlosen Luftangriffe wahrscheinlich seien, mit
Sorge*' entgegensehe.
Einige Tage später, am 18. Mai 1945, berichteten aus Bern die New York
Times y deren Meldungen über solche Angelegenheiten wegen ihrer freund-
schaftlichen Beziehungen zum New- Yorker erzbischöflichen Stuhl als
offiziös anzusehen waren:
„Der Vatikan hat der britischen und der amerikanischen Regierung mitgeteilt, daß
ein Zusammenbruch Italiens fürchterliche Folgen haben müsse, falls Italien nicht sofort
neutralisiert oder auf dem schnellsten Weg von alliierten Truppen besetzt werde.**
Die Times erschienen mit den Schlagzeilen: „Mussolini appelliert an den
Papst", „Italiens Führer sollen den Vatikan gebeten haben, seine guten
Beziehungen zu den Alliierten zu benutzen" und „Vatikan teilt mit, er habe
London und Washington vor den Gefahren eines Zusammenbruchs ge-
warnt".
Der Korrespondent der Times, Mr. Brigham, behauptete am 1 9. Mai 1 943,
er habe aus einer „gut unterrichteten Quelle des Vatikans" erfahren, daß
eine Sonderbotschaft des Papstes an Erzbischof Francis J. Spellman, der
gegenwärtig durch den Mittleren Osten reise, einen „Plan" enthalte. Der
Plan sei „gestern, am 17. Mai, auf dem Luftweg von Monsignore CJarizio,
einem Vertreter des Vatikans, nach Istanbul gebracht worden. Clarizio war-
tet dort auf eine Antwort." Der Plan ziele darauf ab, eine „Mitwirkung
Italiens bei der Zerschlagung des faschistischen Regimes zu ermöglichen
und sofort einen Waffenstillstand zu schließen". Er sehe ferner vor, daß
„die Beamten in den Präfekturen um der Aufrechterhaltung der zivilen
Verwaltung willen nicht als aktive Helfer der Partei angesehen und den
Befehlen einer in Rom stationierten alliierten Kommission unterstellt
123
werden sollten. Mit der Verwirklichung eines auf zehn Jahre berechneten
Programms der politischen Umgestaltung des Landes solle sofort begonnen
werden, um die zivile Verwaltung schrittweise in die Hände der Bevölkerung
zurückzulegen. Die faschistische Partei solle sofort verboten und aufgelöst
werden." Wie Mr. Brigham weiter erklärte, sah dieser erste Plan nicht vor,
die faschistischen Führer zu verhaften und abzuurteilen oder sie an die
Alliierten auszuliefern.
Der Vatikan kämpfte an zwei Fronten: Er wollte einer Volksrevolution
gegen das Regime zuvorkommen und zugleich die soziale Revolution ver-
hindern.
Die Lage spitzte sich zu. Der Papst setzte am 13. Juni 1943 sogar seine
eigene Autorität ein und riet den italienischen Arbeitern auf einer Ver-
sammlung, jede soziale Umwälzung zu vermeiden.
In der Nacht vom 25. zum 26. Juli 1943 wurden diese Bestrebungen für
die ganze Welt sichtbar. In dieser Nacht kam es unter Führung Grandis im
Faschistischen Großen Rat zu einer Revolte gegen Mussolini. Eine von
Grandi eingebrachte Entschließung, dem König die oberste Gewalt über
alle Streitkräfte zu übergeben, wurde von 17 Mitgliedern des Rates unter-
stützt, nur acht stimmten dagegen. Mussolini begab sich sofort zum König.
Dieser teilte ihm kurz und bündig mit, daß er nicht mehr Ministerpräsident
sei. Bald darauf wurde Mussolini verhaftet.
Marschall Badoglio, der die Regierung übernahm, erklärte zwar, daß der
Krieg fortgesetzt werde, nahm aber sofort Verhandlungen über die militä-
rische Kapitulation Italiens auf, in der Absicht, das alte Regime, wenn auch
in neuem Gewände, zu erhalten. In der Regierung wurden einige Personen
ausgewechselt, aber die Faschisten blieben in ihren Stellen. Die revolutionäre
Bewegung wurde von der neuen Regierung sofort wieder in die Illegalität
gedrängt. Zwei Tage lang durften kommunistische Zeitungen erscheinen,
dann wurden sie von neuem verboten. Badoglio rief alle Italiener auf, „dem
König und allen anderen bewährten Institutionen Treue zu bewahren". Die
Kirche, voran die Bischöfe, erhob ihre Stimme gegen die revolutionären
Kräfte und untersagte den Gläubigen jede Opposition gegen die Regierung.
Der Papst und sein Staatssekretär führten laufend Besprechungen mit
dem portugiesischen, dem spanischen, dem deutschen und dem britischen
Botschafter. Als die Luftangriffe der Alliierten auf Italien an Heftigkeit zu-
nahmen, wurde der Papst ungeduldig; er fürchtete, das italienische Volk
könne „eine Beute des Bolschewismus werden". Er drängte Großbritannien
und die USA, annehmbare Bedingungen zu stellen, denn in Italien „wächst
die Gefahr des Kommunismus ständig an, statt abzunehmen. Die Verlän-
gerung des Krieges", fuhr er fort, „bringt die Gefahr mit sich, daß die junge
Generation in die Arme des Kommunismus getrieben wird — Moskau
124
wartet nur auf den Augenblick, daß Italien sich einem europäischen Staaten-
bund unter kommunistischer Oberherrschaft anschließt."
Während der Papst Präsident Roosevelt mit dem Schlagwort „Bomben-
angriffe brüten Bolschewismus aus" zu schrecken versuchte, begann Badoglio,
von der katholischen Hierarchie und dem Vatikan begeistert unterstützt,
von neuem alle sozialistischen Elemente zu verfolgen. (Näheres über die
Ereignisse dieser Zeit in Italien und über den Anteil des Vatikans daran
findet der Leser in Towards the New Italy von T. L. Gardini.)
Am 3. September 1943 kapitulierte Italien bedingungslos. Mussolini war
von der politischen Bühne verschwunden, einige besonders auffallende Er-
scheinungen des faschistischen Regimes wurden geopfert. Die westlichen
Demokratien waren zufrieden, daß der Diktator nicht länger regierte. Aber
das Fundament und die Struktur des autoritären Regimes, mit einem König
und einem General an der Spitze, blieben erhalten.
Die Macht des Königs und des Marschalls und der britische und ameri-
kanische Einfluß verhinderten, daß es in Italien zu einer sozialistischen
Revolution kam. Der erste große Gegenzug des Vatikans und seiner welt-
lichen Verbündeten hatte Erfolg gehabt.
Bald nach diesen Ereignissen wurde Italien von Nazideutschland in ein
Kampf feld verwandelt. Die alliierten Armeen mußten sich mühevoll ihren
Weg nach Norden bahnen; das hatte unerhörte Zerstörungen und soziales,
wirtschaftliches und politisches Chaos zur Folge.
Während die Armeen kämpften, verloren der Vatikan und die West-
mächte keine Zeit, in den befreiten Gebieten der Halbinsel auch den zweiten
Teil ihres Planes zu verwirklichen. Es galt, die revolutionären Kräfte zu
hindern, die Macht zu ergreifen.
Die Alliierten setzten diese Politik mit Hilfe eines militärischen Ver-
waltungsapparates durch, den sie in den befreiten Gebieten aufbauten. Diese
Militäradministration verbot politische Versammlungen, verweigerte die Ge-
währung politischer Freiheiten, ließ die Gründung antifaschistischer Par-
teien nicht zu und verhinderte gleichzeitig die Vertreibung der Faschisten
aus den öffentlichen Ämtern. Die wichtigsten Säulen des faschistischen Ver-
waltungsapparates, die Präfekten, blieben im Amt, die hohen Beamten und
Offiziere standen unter dem besonderen Schutz der Alliierten Kommission.
Diese Kommission vereitelte nicht nur alle Bemühungen, das Land von sei-
nen Unterdrückern zu befreien, sondern nahm sogar Faschisten, die sich bis
zur letzten Minute aktiv faschistisch betätigt hatten, in die amerikanisch -
britischen Etappenbehörden auf.
Die vatikanische Politik unterstützte unmittelbar oder mittelbar alle
Kräfte, die an der Erhaltung der Monarchie interessiert waren. Das stellte
sich im Mai 1944 heraus, als „ Spezialbeauf tragte" der amerikanischen
125
Armee in der Nähe der süditalienischen Front Geheimkuriere aufgriffen
und bei ihnen einen Briefsack des Vatikans fanden. Die darin enthaltenen
Schriftstücke bewiesen dokumentarisch, daß der Vatikan durch Machen-
schaften hinter den Kulissen versuchte, das Haus Savoyen zu retten.
Die Erhaltung der Monarchie wurde nun das wichtigste politische Ziel
des Vatikans in Italien. Er fand in dem konservativen britischen Premier
Winston Churchill einen warmherzigen Befürworter seiner Pläne. Churchill
fuhr selbst nach Rom und wurde im August 1944 mehrmals von Pius XII.
in Privataudienz empfangen. Im September 1945 führte er, obwohl zu die-
ser Zeit nicht mehr Premier, ausgedehnte Unterredungen mit dem päpst-
lichen Nuntius bei der italienischen Regierung.
Das Ende des faschistischen Regimes in Italien und der bevorstehende
Zusammenbruch des Faschismus in Deutschland ließen den Fehlschlag von
fünfundzwanzig Jahren Vatikanpolitik vor aller Welt sichtbar werden. Die
veränderten Umstände verlangten eine neue Politik, neue Methoden und
neue Taktiken. Es kam jetzt darauf an, zu retten, was zu retten war.
Die Mächte, die den faschistischen Totalitarismus besiegt hatten, behaup-
teten, auf dem Boden demokratischer Grundsätze zu stehen, und verkün-
deten darüber hinaus, daß sie den Wunsch hätten, diese Grundsätze auch in
dem übrigen befreiten Europa verwirklicht zu sehen. Der Gegner, den der
Vatikan seit dem Jahre 1917 bekämpft hatte, gehörte nicht nur zu den
Überlebenden des Krieges, sondern war stärker und einflußreicher geworden
denn je. Die Sowjetunion war nicht mehr ein geschwächtes Land wie in den
Jahren nach dem ersten Weltkrieg, sondern ging aus dem zweiten Weltkrieg
als eine der drei großen Siegermächte hervor. Ihr Prestige war gewachsen, sie
war eine Weltmacht geworden, deren politischer Einfluß sich über ganz Ost-
und Südeuropa bis an die Grenzen Italiens erstreckte. Und auch dort nahm
der Kommunismus an Kraft sprunghaft zu.
Um diesen gewaltigen Veränderungen entgegenzuwirken, verfolgte der
Vatikan in seiner Politik zwei voneinander abhängige Linien, die in der
Folge die neue Strategie des Vatikans in der Nachkriegsperiode bildeten.
Seine internationale Politik auf weite Sicht hatte das Ziel, die Sowjetunion
mit allen verfügbaren Mitteln zu bekämpfen. Zu diesem Zweck mußte sich
der Vatikan, ebenso wie früher, Verbündete suchen. Diesmal fand er sie in den
Westmächten, die nicht weniger als er interessiert waren, den Einfluß der
Sowjetunion einzudämmen oder soweit wie möglich zurückzudrängen.*
* Bei dem 1946 zwischen den früheren Alliierten - den USA und Großbritannien auf
der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite - entbrannten Streit um Triest zum
Beispiel ging es gar nicht um die Grenzziehung. Die westlichen Alliierten wollten ein
weiteres Vordringen des „sowjetischen Einflusses" nach Westeuropa verhindern. Triest
war für sie in diesem Sinne, ebenso wie die Dardanellen im Süden, eine Schlüsselstellung
für das Mittelmeer und für ganz Westeuropa.
126
Das Nahziel der vatikanischen Innenpolitik in Italien war, alle anti-
kommunistischen Kräfte in einem festen Block zu vereinen. Hierzu sollte
eine von Katholiken geführte und vom Vatikan gelenkte militante politische
Partei geschaffen werden, die den Sozialismus nicht nur politisch, sondern
auch sozial und wirtschaftlich zu bekämpfen hatte. Der Vatikan gestattete
daher den Gläubigen, sich in einer politischen katholischen Bewegung zu
organisieren.
So war die erste neue politische Partei Nachkriegseuropas eine Schöpfung
des Vatikans. Sie gab sich den Namen Christlich -Demokratische Partei.
Ihre der Kirche ergebenen Führer begannen rasch, die Politik des neuen
Italiens zu bestimmen. Sie richteten dabei ihre Anstrengungen nicht nur
gegen die wiedererstandenen Arbeiterparteien, sondern auch gegen eine
katholische Gruppe, die eine beunruhigende revolutionäre Aktivität an den
Tag legte. Diese linksorientierten Katholiken gingen so weit, sich in einer
politischen Bewegung zu organisieren, und nannten sich „Katholische Kom-
munisten" (1944). Später gaben sie ihrer Partei den Namen „Christliche
Linkspartei**. Der Vatikan ließ die Partei durch den Osservatore Romano
verurteilen. Kardinal Salotti, Präfekt der Ritenkongregation, und einige
Bischöfe warnten die Gläubigen offiziell vor ihr. Kardinal Salotti sagte dabei
unter anderem :
„Ein Katholik kann nicht Kommunist sein. Jene guten und liebenswerten Söhne, die
sich im Bestreben, ihren christlichen Glauben zu erhalten, in eine Reihe mit den
Kommunisten begeben haben, müssen über diese Wahrheit nachdenken, erkennen, in
welche Lage sie geraten sind, und iur Straße des Heils zurückfinden."
Dieser revolutionäre Geist, der viele katholische Gläubige in der Zeit
zwischen der Kapitulation im Sommer 1943 und dem Ende des Krieges im
Mai 1945 in allen Teilen Italiens erfaßt hatte, veranlaßte den Vatikan,
die rechtsgerichteten katholischen Parteien, die er zwischen den beiden
Kriegen abgelehnt und unterdrückt hatte, zu neuem Leben zu erwecken
und mit allen Mitteln zu unterstützen.
So konnte man in den Jahren nach der Kapitulation Italiens beobachten,
daß der Vatikan in dem erschöpften Land eine auffallende politische Akti-
vität an den Tag legte und sich offen in das politische Leben des Landes ein-
mischte, indem er große katholische Parteien organisierte und jede politische
Bewegung verurteilte, die seiner Meinung nach nicht den Grundsätzen der
katholischen Kirche entsprach. Er verdammte den Sozialismus und attak-
kierte den Kommunismus mit einem Eifer, der nichts von seinem früheren
Feuer eingebüßt hatte, sondern im Gegenteil immer schärfere Formen an-
nahm, je größer seit dem Verschwinden Mussolinis die „rote Gefahr" wurde.
Der Papst, seine Kardinäle, Bischöfe und Pfarrer, seine Kanzelprediger,
seine Presse und sein Kundfunk — sie alle beschäftigten sich keineswegs nur
127
mit religiösen Angelegenheiten, sondern zumindest ebenso intensiv mit
politischen und sozialen Fragen; sie bemühten sich, die verwirrten Massen
des italienischen Volkes wieder auf den Weg zu führen, den die katholische
Kirche ihnen wies. Der Vatikan stellte sich, ohne ein Hehl daraus zu machen,
schützend vor die Institutionen und die Männer, die für das Aufkommen
des Faschismus verantwortlich waren. Er befahl den Italienern, dem König
die Treue zu wahren, demselben König, der Mussolini die Macht in die
Hände gegeben hatte. Auch nachdem sich die Italiener in einer Volksab-
stimmung mit überwältigender Mehrheit für die Republik entschieden
hatten, versuchte der Vatikan, entgegen dem Volkswillen, durch allerlei
Manipulationen die Monarchie und das Haus Savoyen zu retten.*
Der Vatikan versuchte nicht nur die Monarchie zu retten, sondern unter-
stützte, seiner alten Politik folgend, mittelbar alle Bewegungen, die sich
nur durch ihren Namen von den bisherigen Faschisten unterschieden. Ein
Beispiel dafür war Uomo Qualunque, die Jedermanns -Partei, die bei den
Wahlen von 1946 mehr als eine Million Stimmen erhielt. Ihre Führer er-
kannten rasch, was die Hilfe des Vatikans für sie bedeutete, und traten
daher noch während der Wahlkampagne der katholischen Kirche bei, obwohl
sie sich vorher zum Atheismus bekannt hatten.
Der Vatikansender verbreitete am 10. Juni 1946 die Nachricht, daß
Signor Gianini sich habe taufen lassen, zu seiner Erstkommunion gegangen
sei, gefirmt worden sei und sich in der Kirche vom Heiligen Herzen zu Rom
habe trauen lassen; der Papst habe ihm seine Glück- und Segenswünsche
übermittelt.
Dies geschah in einer Zeit, in der Katholiken, unter ihnen auch Priester,
* Der König wollte nach dem Krieg, als er erkannte, wie unpopulär er sich gemacht
hatte, abdanken, aber der Vatikan hielt ihn davon ab. Schließlich trat er, als die politische
Situation immer gespannter wurde, mit Einverständnis Englands und der USA zurück,
nicht ohne zuvor die Zustimmung des Papstes eingeholt und sich mit ihm in langen
Besprechungen über die Wege zur Erhaltung der Monarchie geeinigt zu haben. An
diesen Zusammenkünften hatte auch Ministerpräsident de Gasperi, der Führer der
katholischen Christlich-Demokratischen Partei, teilgenommen. Vor dem Volksentscheid
im Mai 1946 sandte der Papst dem Kronprinzen Umberto seinen Segen und erteilte den
Katholiken den Rat, für die Erhaltung der Monarchie zu stimmen. Nicht zufällig gab
Umberto wenige Wochen vor dem Entscheid den Mitgliedern des Heiligen Kollegiums
der Kardinäle im Quirinal einen Empfang, den ersten Empfang dieser Art seit dem
Jahr 1870, also seit das Haus Savoyen den Thron bestiegen und die päpstlichen Besitz-
tümer übernommen hatte. Die überzeugten Katholiken stimmten geschlossen für
Umberto, aber auch das konnte ihm den Thron nicht retten. Nach dem Plebiszit, das
Italien zur Republik erklärte, weigerte Umberto sich zunächst auf Anraten des Vatikans,
dem Thron zu entsagen, und behauptete, das Wahlergebnis sei gefälscht worden. Erst
als darüber ein Bürgerkrieg auszubrechen drohte, beugte er sich dem Volkswillen und
verließ das Land.
128
vom Heiligen Offizium ermahnt oder sogar exkommuniziert wurden, weil
sie soziale Lehren vertraten, die die Kirche nicht billigte. So wurde zum
Beispiel Fr. Fernando Tartaglia, ein Priester aus Florenz, laut Meldung des
Vatikansenders vom 12. Juni 1946 auf Grund eines Dekrets des Heiligen
Offiziums exkommuniziert.
Hingegen ist nicht ein einziger Fall bekannt geworden, daß Gläubige
oder Priester, die die faschistische Untergrundbewegung unterstützten, von
hohen Kirchenvertretern öffentlich gerügt worden waren. Als Beweis dafür
kann unter anderem der von fanatischen Faschisten organisierte Raub der
Leiche Mussolinis von einem Friedhof in Mailand dienen. Die Leiche wurde
einige Monate später gefunden. Mönche hatten sie in der Nacht vom 12. zum
13. August in einem Kloster in Pavia versteckt, nachdem andere Mönche sie
im Kloster Sankt Angelo verborgen gehalten hatten. Einige der faschisti-
schen Fanatiker und einige Mönche wurden wegen Leichenraubs und Mit-
wisserschaft verhaftet.
Aber diese Beispiele, so bezeichnend sie auch sind, verblassen angesichts
anderer Unternehmungen, die der Vatikan inspirierte und die mehr als alle
anderen die Politik des Vatikans charakterisieren. Diese Unternehmungen
hingen mit der Gründung zweier neuer politischer Parteien zusammen,
die, obwohl von Katholiken gebildet, gegensätzliche politische Pole ver-
traten.
Über die erste der beiden Parteien haben wir bereits gesprochen. Es war
eine katholische Partei mit einer klaren Linkstendenz. Sie forderte, obwohl
sie auf dem Boden der Kirche stand, radikale soziale und wirtschaftliche
Reformen ähnlich denen, für die die Sozialisten eintraten. Sie nannte sich
anfangs Katholische Kommunistische Partei und später Italienische Christ-
liche Linkspartei. Wenige Wochen nach ihrer Gründung rückte der Kar-
dinalstaatssekretär von der Partei ab. Er wies die katholischen Mitglieder
an, die Partei aufzulösen. Im Januar 1946 erklärte er über den Vatikan-
sender :
„Eine weitere Partei ... ist verschwunden. Sie hatte sich den monströsen Namen einer
Christlichen Linken 4 zugelegt und sich vorgenommen, die neue Welt auf dem Weg des
Klassenkampfes Gott näherzubringen. Das hätte nichts anderes bedeutet, als die christ-
lichen Arbeiter auf die Seite des Sozialismus und der Häresie zu führen. Natürlich hat
sie ihr Ziel nicht erreicht, sondern sich durch ihre Politik selbst gerichtet. Wir haben
die Tragödie einer kleinen, aber dynamischen Partei erlebt, die von begeisterten, aber
irregeleiteten jungen Menschen gebildet worden war. Sie hatten sich Apostel Christi ge-
nannt, aber geredet und gehandelt wie die Anhänger von Marx."
Wenige Monate später (August/September 1946) tauchte eine zweite
katholische Partei auf. Sie nannte sich Nationale Christliche Partei, ver-
kündete offen, daß sie sich zur Mitte gehörig fühle, genauer gesagt zur
rechten Mitte, und fand daher rasch die Unterstützung des Vatikans. Sie
9 M359
129
beabsichtigte nicht, der Tendenz der Christlichen Demokraten nach links
zu folgen, „weil die Volksabstimmung die Notwendigkeit gezeigt" habe,
sich von den Christlichen Demokraten zu trennen, die sich „durch ihre tak-
tische und ideologische Zusammenarbeit mit den marxistischen Parteien
kompromittiert" hätten. (Dr. Padoan, zitiert vom Sender Rom am
24. August 1946)
Trotz aller gegenteiligen Bemühungen des Vatikans verstärkten die
Sozialisten und Kommunisten in den ersten Jahren nach dem Krieg ihre
Reihen. Das alarmierte den Vatikan. In Italien drängten ebenso wie in
anderen europäischen Ländern die endlich freigesetzten und in den sozia-
listischen und kommunistischen Parteien organisierten Kräfte des Volkes an
die politische Macht.
Sicherlich war es kein Zufall, daß nach dem ersten Weltkrieg Italien das
Geburtsland des Faschismus wurde und daß nach dem zweiten Weltkrieg
die erste katholische Partei, die ausersehen war, den Kampf gegen die Feinde
der katholischen Kirche in der sozialen und politischen Arena zu führen,
ebenfalls in Italien entstand. Als die veränderten Bedingungen eine Ände-
rung der Taktik notwendig machten, schlug der Vatikan einen neuen Weg
ein, einen Weg jedoch, das wurde bald offenkundig, der unter einem neuen
Namen das alte Ziel verfolgte, nämlich die Vormachtstellung der Kirche im
Leben des italienischen Volkes auszubauen.
Kapitel x Deutschland, der Vatikan,
der erste Weltkrieg, Hitlers Aufstieg
Der Vatikan und das Kaiserreich - Die Geburt der deutschen katholischen Partei —
Krieg zwischen Kirche und Staat — Die allgemeine Übereinstimmung Bismarcks und des
Papstes in der Bekämpfung liberaler und demokratischer Bestrebungen — Die Zentrums-
partei, eine Säule des deutschen Imperialismus und ein Verfechter der kaiserlichen Poli-
tik - Die Rolle der katholischen Partei am Ende des ersten Weltkrieges - Die Unter-
zeichnung des Waffenstillstandes - Erzberger - Erzbergers Ermordung - Die katho-
lische Kirche und ihr Einfluß auf das politische Leben in Deutschland — Die Schulgesetz-
gebung - Der Rechtsdrall der Zentrums partei - Die Allianz mit der autoritären Deutsch-
nationalen Volkspartei - Der erste große Anschlag auf die Weimarer Republik - Die
katholische Partei als wichtiges Instrument zur Zerstörung der Republik - Die unmittel-
bare Einmischung des Vatikans in das politische Leben Deutschlands — Die Folgen der
Niederlage der Zentrumspartei — Der Vatikan entschließt sich, die Partei zu opfern —
Die ersten Schritte auf dem Weg zur Diktatur - Dr. Kaas - Die Absichten des Vatikans
hinsichtlich des orthodoxen und des sowjetischen Rußlands - Die Zerstörung der deut-
schen Republik - Der erste Wegbereiter der Nazidiktatur - Dr. Brüning — Der Katholik
Brüning über Hitler: „Wir müssen ihn unter stützen^ - Die ersten Kontaktaufnahmen
zur Zusammenarbeit. Ihr Fehlschlagen - Brünings Projekt der Wiederherstellung der
Monarchie - Brünings Sturz - Der neue Reichskanzler von Papen, ein päpstlicher
Kammerherr - Die Bedeutung der Berufung von Popens. Sein Sturz - Hitler wird
Reichskanzler,
Die Geschichte des deutschen politischen Katholizismus unserer Zeit be-
ginnt mit der Konsolidierung des zweiten Kaiserreiches. Ein Blick auf das
Verhalten des Vatikans in dieser Periode zeigt auf der einen Seite eine kon-
stante Grundlinie der päpstlichen Politik und auf der anderen Seite eine
Reihe von politischen Purzelbäumen. Die Purzelbäume waren notwendig,
um das Ziel, die Bildung einer katholischen Partei, die im deutschen poli-
tischen Leben eine bestimmende Rolle spielen sollte, zu erreichen.
Daß ein protestantischer Staat wie Preußen über die Politik zahlreicher
katholischer Staaten Deutschlands bestimmen sollte, war für den Vatikan
Anlaß zu großer Besorgnis. Bismarck wußte das und sah daher bei der
Errichtung des zweiten deutschen Kaiserreiches in der vatikanischen Macht
einen äußerst gefährlichen Gegner seiner politischen Pläne.
Es wird erzählt, daß Bismarck, als ein römischer Prälat ihm die bekannte
Auffassung des heiligen Paulus über die drei Machtbereiche der Kirche
— Caelestium, Terrestrium et Infernorum — erklärte, laut gelacht und er-
widert habe: „Gegen den Himmel und die Hölle habe ich nichts einzuwen-
den, doch hinsichtlich der Erde habe ich gewisse Vorbehalte. 44
Diese Einstellung war nicht nur typisch für Bismarck, sie ist auch heute
die Grundlage aller großen Kontroversen zwischen Kirche und Staat.
131
Wie viele andere Deutsche seiner Zeit, sah Bismarck in der katholischen
Kirche ein Hindernis für die weitere Macht entfaltung des von Preußen
geführten Deutschen Reiches. Er sah in der Kirche vor allem einen Gegner
jeder unbeeinflußten und unbeschränkten Wahrheitssuche, die viele Deutsche
für eine der stolzesten Errungenschaften des deutschen Geistes hielten.
Sicherlich war das nicht der Hauptgrund für Bismarcks feindselige Haltung
gegen die Kirche, aber jahrelang redete und handelte er, als wäre es so.
Am wirkungsvollsten warnte vor dieser von der katholischen Kirche dro-
henden Gefahr der katholische süddeutsche Politiker Fürst Hohenlohe. Er
sah in dem von Papst Pius DL 1864 verkündeten Syllabus und in dem neu-
gegründeten vatikanischen Konzil - beide hatten die Aufgabe, das Dogma
von der päpstlichen Unfehlbarkeit durchzusetzen— hintergründige politische
Instrumente, darauf gerichtet, die weltlichen Autoritäten der Kirche dienst-
bar zu machen. Er warnte Europa davor, und zahlreiche Staatsmänner,
unter ihnen auch Bismarck, beherzigten seine Worte.
Staatsmänner vor und nach Bismarck haben dem gleichen Problem gegen-
übergestanden, aber keiner hat es so brutal ausgedrückt wie er: „Die
Souveränität kann nur eine einheitliche sein und muß es bleiben; die
Souveränität der Gesetzgebung! Und wer die Gesetze dieses Landes als für
ihn nicht verbindlich darstellt, stellt sich außerhalb der Gesetze und sagt
sich los von dem Gesetz." (Zitiert nach den Stenographischen Berichten über
die V erhandlungen des Deutschen Reichstags, 1. Legislaturperiode, III. Ses-
sion, 14. 5. 1872) Über die Antwort des Vatikans gab es keinen Zweifel. Sie
kam von Rom an die deutschen Bischöfe und nahm von diesen ihren Weg
zur niederen Geistlichkeit und zu den Gläubigen. Die gesamte Maschinerie
der katholischen Kirche wurde in Bewegung gesetzt. Von den Kanzeln don-
nerten Verurteilungen, die sonst nur auf politischen Kundgebungen zu ver-
nehmen waren. Im Reichstag empörte sich die katholische Partei. Sie wurde
von Ludwig Windthorst geführt, der vor der Einverleibung Hannovers durch
Preußen eine führende Rolle im hannoverschen Kabinett gespielt hatte.
Windthorst war bekannt wegen seines Ehrgeizes, geachtet wegen seiner
großen Fähigkeiten als Parlamentarier und gefürchtet wegen seines Hasses
auf die neue Ordnung in Deutschland. Diese beiden Männer, Windthorst
und Bismarck, wurden Symbole zweier einander entgegengesetzter poli-
tischer Strömungen.
Als der Vatikan seine Macht durch das Unfehlbarkeitsdogma gestärkt
hatte, lag die Vermutung nahe, daß die katholische Kirche Anspruch auf
einen stärkeren Anteil an der Gestaltung des staatlichen und gesellschaft-
lichen Lebens erheben werde. Die Auseinandersetzung über diese Frage
führte zu einem langwierigen Kampf, in den fast alle Angehörigen der
katholischen deutschen Hierarchie hineingezogen wurden. Am wildesten
132
traten die Bischöfe von Ermland und Paderborn und die Erzbischöfe von
Köln und Posen auf. Auch die Jesuiten schalteten sich ein, die während der
Kriege gegen Österreich und gegen Frankreich sehr aktiv gewesen waren.
Sie säten nicht nur religiöse Zwietracht, sondern auch politische Feind-
schaft und, vor allem in Polen und Elsaß -Lothringen, Chauvinismus. Mit
der Zeit verstärkten sie ihre Aktivität. Der Kampf wurde infolge der jesui-
tischen Einmischungen und des Eifers der Geistlichkeit von Tag zu Tag er-
bitterter. Die Hierarchie scheute keine Mittel, die Kanzeln und Lehrstühle
von denen zu säubern, die sich geweigert hatten, das päpstliche Unfehlbar-
keitsdogma anzuerkennen. Da aber ein Teil der verfolgten Männer vom
Staat bezahlt wurde, leistete die weltliche Macht Widerstand. Dies wieder
führte zu so aufrührerischen Predigten der Hierarchie, daß die weltliche
Macht das sogenannte „Kanzelgesetz" erließ.
Bismarck beauftragte einen starken Mann, den preußischen Kultus-
minister Falk, mit der Führung des Kampfes. 1872 wurden die Jesuiten
durch das vom Reichstag beschlossene „Jesuitengesetz" aus Deutschland
ausgewiesen. Dies war deshalb besonders bemerkenswert, weil die Jesuiten
selbst in den Zeiten, in denen sie aus fast allen europäischen Staaten - und
sogar aus Rom vom Papst selbst — verbannt worden waren, im preußischen
Herrschaftsbereich stets ungestört hatten wirken dürfen. Trotzdem befahl
der Vatikan jetzt den deutschen Katholiken, Bismarck und den Staat wegen
dieser Tat heftig anzugreifen, was sich die Erzbischöfe nicht zweimal sagen
ließen. Der Papst drohte Bismarck sogar, daß der Zorn Gottes über ihn
kommen werde. Bismarck zögerte nicht mit Gegenmaßnahmen. Er berief
den diplomatischen Vertreter Deutschlands beim Vatikan ab und brachte
im Preußischen Landtag die sogenannten „Falk- Gesetze" oder „Mai-
Gesetze" durch.
Als Antwort befahl der Vatikan der deutschen Geistlichkeit, Bannflüche
gegen die weltlichen Behörden und gegen alle zu schleudern, die sich wei-
gerten, den Papst als einzigen und unfehlbaren Träger der Wahrheit anzu-
erkennen. Die religiöse Autorität, so wurde erklärt, stände über jeder welt-
lichen Macht, die Ausbildung der Priester sei Sache des Vatikans und nicht
des Staates, und kein katholischer Gläubiger habe das Recht, sich von der
katholischen Kirche loszusagen. Nach dem kanonischen Recht sei die Ehe
ein Sakrament, daher dürfe eine Trauung nur durch die Kirche vorge-
nommen werden.
Die Hierarchie stiftete Unfrieden auf allen Gebieten, sie schürte nicht
nur Haß und Chauvinismus in Polen und in Elsaß -Lothringen, sondern
stachelte auch die partikularistischen Eifersüchteleien in Bayern und im
Rheinland an, um sie für ihre Zwecke auszunutzen. Kurz, die Katholiken
rebellierten unter der Führung ihrer Geistlichkeit gegen den Staat. Dabei
133
dienten die religiösen Fragen der Hierarchie lediglich dazu, die politischen
Forderungen, die unmittelbar von Rom gelenkt wurden, zu verschleiern.
Die Regierung versuchte ihre Autorität zu wahren, indem sie die auf-
sässigen Priester von ihren Kanzeln vertrieb und Bischöfe und Professoren
zu Geld- und Gefängnisstrafen verurteilte. In Preußen wurden zahlreiche
religiöse Orden des Landes verwiesen. Als der Konflikt immer schärfere
Formen annahm, wurden sogar Erzbischöfe hinter Schloß und Riegel ge-
setzt. Der Erzbischof von Posen verbrachte mehr als zwei Jahre im
Gefängnis.
Der Kampf dauerte, nachdem er voll entbrannt war, länger als fünf
Jahre und beschränkte sich nicht auf Deutschland. Auch andere europäische
Länder wurden von ihm erfaßt. Fanatisierte Katholiken versuchten durch
Attentate den preußischen Staat und seine Repräsentanten zu treffen. Ein
katholischer Jugendlicher, Absolvent einer geistlichen Schule, feuerte auf
der Kurpromenade von Bad Kissingen mehrere Pistolenschüsse auf Bis-
marck ab. Das Attentat hätte beinahe Erfolg gehabt, ein Geschoß durch-
schlug Bismarcks Hand, die er im Augenblick des Schusses an den Hut
führte, um für einen Gruß zu danken.
Die Regierung antwortete mit schärferen Maßnahmen. Zahlreiche katho-
lische Parlamentsmitglieder wurden verhaftet. Im ganzen Reich wurde die
Zivilehe eingeführt.
Wieder trat der Papst selbst auf den Plan. Pius IX. erklärte durch eine
Enzyklika die preußischen Kirchen gesetze für ungültig und ihre Schöpfer
für gottlos. Dadurch weckte er von neuem die Tendenzen zum weltlichen
Ungehorsam und zum Bürgerkrieg. Der Kampf trat in seine schärfste
Phase. Die katholische Hierarchie, die katholischen Laien und die katho-
lischen Politiker waren verpflichtet, die Politik des Vatikans zu unterstützen,
und sie unterließen nichts, was sie ihrem Ziel näherbringen konnte. Das
politische Instrument des Vatikans in Deutschland, die Zentrumspartei, die
über ein Viertel aller Parlamentssitze verfügte, wurde vom Vatikan ange-
wiesen, der Regierung gegenüber hart zu bleiben. Sie kämpfte in der ganzen
Periode unter der Führung von Windthorst unerbittlich gegen sämtliche
Gesetze und Vorlagen Bismarcks, ohne Rücksicht, ob sie religiöse Fragen
betrafen oder nicht.
Als nach dem Tod Pius' IX. im Februar 1878 der versöhnlichere Leo XIII.
zum Papst gewählt wurde, versuchte Bismarck zu einem Kompromiß mit
der Kurie zu gelangen. Er führte Verhandlungen mit Windthorst und dem
päpstlichen Vertreter Jacobini. Die Grundlage für ein Übereinkommen
wurde geschaffen. Die deutsche Regierung erklärte, daß sie nach wie vor auf
der Rechtmäßigkeit der von ihr verkündeten Grundsätze bestehe, aber bereit
sei, in ihrer Anwendung weitherzig zu verfahren. Im Jahre 1880 äußerte
134
der Papst in einem Brief an den Erzbischof von Köln, er sei dem Gedanken
nicht abgeneigt, daß vor der Besetzung frei gewordener kirchlicher Ämter
mit den weltlichen Behörden Verbindung aufgenommen würde. So kam
man schrittweise zu einer Übereinkunft. Die diplomatischen Beziehungen
zum Vatikan wurden wiederaufgenommen, und die Regierung hielt sich bei
der Anwendung der Falk -Gesetze sehr zurück. Dieses Rapprochement erwies
sich als so erfolgreich, daß der Papst um ein Porträt Bismarcks nachkam.
Bismarck bat darauf den Papst, zwischen Deutschland und Spanien wegen
der Ansprüche beider Mächte auf die Karolineninseln zu vermitteln. Weitere
Lockerungen folgten, als Bismarck sich eines Tages auf die Unterstützung
der Zentrumspartei zur Durchführung einer neuen Finanz - und Wirtschafts-
politik angewiesen sah.
Die schlimmsten Kämpfe waren vorüber, man hatte einen Modus vivendi
gefunden. Es war auch gar nicht erstaunlich, daß der Staat von einigen
seiner Forderungen an die Kirche Abstand nahm und der Vatikan die
Freundschaft des autoritären Kanzlers suchte, waren sie doch beide er-
bitterte Gegner aller liberalen und demokratischen Ideen. Nachdem die
religiösen Fragen bereinigt waren, wurden Papst und Kanzler sehr bald
enge Freunde und kämpften gemeinsam gegen alle Prinzipien und Ideen,
die sie für den religiösen Absolutismus der Kirche und für den politischen
Absolutismus des Staates als gefährlich ansahen.
Es war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal in Deutschland und
in Europa, daß der Vatikan mit Hilfe der katholischen Partei anfangs einer
bestimmten Regierungsform, einem bestimmten Staatsmann feindlich
gegenüberstand und später dessen Bundesgenosse wurde. Diese Wechsel
könnten den Eindruck einer fehlenden Folgerichtigkeit der vatikanischen
Politik erwecken. Aber das trifft nicht zu; der Vatikan wird in seinen
Methoden stets inkonsequent sein, wird aber nie sein letztes Ziel, die Macht-
erweiterung der katholischen Kirche, aus den Augen verlieren.
Die anfängliche Feindschaft des Vatikans gegen Bismarck und das
zweite deutsche Kaiserreich ergab sich daraus, daß die katholische Kirche
statt des protestantischen Preußens lieber eine katholische Macht an der
Spitze des Reiches gesehen hätte. Neue Feindschaft erwuchs daraus, daß
Bismarck, so widersinnig es auch klingt, liberale Reformen durchzuführen
gezwungen war. Obwohl diese Reformen nach unseren heutigen Auffas-
sungen alles andere als sensationell waren, bedeuteten sie damals für die
katholische Kirche eine Herausforderung.
Bismarck war kein Verehrer der Demokratie, auch dann nicht, wenn er
für liberale Reformen eintrat; auch sein Kampf gegen den Vatikan machte
aus ihm keineswegs einen Demokraten; und schließlich lagen seiner
späteren Freundschaft mit dem Papst alles andere als demokratische
135
Erwägungen zugrunde. Das wußte auch der Vatikan, sonst wäre er nie auf
diese Freundschaft eingegangen. Nachdem die Kirche sichergestellt hatte,
daß ihre Interessen respektiert wurden, sah sie ihre Hauptaufgabe darin,
die Ideen des Säkularismus und Liberalismus, vor allem aber die gefähr-
lichen Ideen des Sozialismus zu bekämpfen. Sie war überzeugt, in Bismarck
bei der Lösung dieser entscheidenden Fragen einen zuverlässigen Verbün-
deten zu besitzen.
Die katholische Kirche hatte immer eine Vorliebe für „starke Männer".
Als sie zuerst bei Bismarck, dann bei Wilhelm II. und schließlich bei Hitler
zu der Meinung gelangt war, sie könne sich in bestimmten Fragen auf sie ver-
lassen, gewährte sie ihnen Unterstützung. Und sie verfügte in der Zentrums-
partei und in der deutschen Hierarchie über zwei mächtige Instrumente, mit
denen sie ihre politischen Ziele durchsetzte. Es ist daher aufschlußreich, die
deutsche Zentrumspartei auf ihrem Wechsel vollen Weg zu verfolgen.
Die katholische Partei in Deutschland wurde 1870 während des Deutsch-
Französischen Krieges ins Leben gerufen. In den ersten zwanzig Jahren
stand sie unter der Leitung ihres Gründers Ludwig Windthorst. Von Be-
ginn an hatte sie Anhänger in den verschiedenen sozialen Schichten : Unter-
nehmer, Arbeiter, Großgrundbesitzer, kleine Bauern, Aristokraten, Lehrer,
Beamte und Künstler. Im Gegensatz zu der Österreichischen katholischen
Partei befanden sich in der deutschen sowohl reaktionäre als auch fort-
schrittliche Elemente. Ihr Hauptmerkmal war, daß ihr Programm nicht auf
politischer, sondern auf religiöser Grundlage beruhte. Mehrere Versuche,
sie in eine nichtkonfessionelle Partei umzuwandeln, schlugen fehl, da die
religiösen Forderungen vor den politischen standen. Ihre politischen Ziele
verfolgte sie lediglich zu dem Zweck, ihre religiöse Basis zu verbreitern. Da
die Grundsätze ihres Handelns religiöser Natur waren, blieb sie der Kontrolle
des Vatikans unterworfen, der für die Katholiken die höchste Glaubens -
autorität auf Erden darstellt. Ihr Kampf gegen Bismarck war ein typisches
Beispiel, daß religiöse Fragen in politische umschlagen können und um-
gekehrt.
Die Zentrumspartei beschränkte sich in ihrem Wirken nicht auf innen-
politische Probleme. Das bewies sie schon bald nach ihrer Gründung. Im
Herbst des Jahres 1870 besetzten die Truppen des geeinten Italiens Rom
und enteigneten die päpstlichen Besitztümer. Sogleich forderte die Zen-
trumspartei Bismarck auf, zugunsten des Papstes einzugreifen. Die Reichs -
tagsmehrheit antwortete, von Bismarck inspiriert und an die Thronrede des
Kaisers anknüpfend: „Die Tage der Einmischung in das innere Leben der
Völker werden, so hoffen wir, unter keinem Vorwande und in keiner Form
wiederkehren." (Zitiert nach den Stenographischen Berichten über die Ver-
handlungen des Deutschen Reichstags y 1. Legislaturperiode, 21. März 1871)
136
Aber die Zentrumspartei ging noch weiter und verlangte eine militärische
Intervention; sie sprach von einem „Kreuzzug über die Alpen". Bismarck
wußte, wo die Urheber dieser Kampagne zu suchen waren, und richtete
einen Protest an den Vatikan. Die Kurie antwortete, sie sehe sich außer-
stande, der Zentrumspartei wegen ihrer Haltung in dieser Frage einen Vor-
wurf zu machen.
Trotz dieses Konfliktes mit der Kirche versuchte Bismarck gute Bezie-
hungen zum deutschen Episkopat herzustellen. Viele seiner Mitglieder
waren adlig und kaisertreu. Bismarck setzte die Wahl des Bischofs von
Ketteier zum Primas der katholischen Kirche in Deutschland durch. Gleich
nach der Säkularisierung der päpstlichen Besitztümer in Italien hatte eine
Delegation der deutschen Bischöfe Bismarck besucht, um seine Ansichten
über eine mögliche Übersiedlung des Heiligen Stuhls nach Deutschland zu
hören. Bismarck war von der Idee begeistert, er erblickte darin Chancen für
seine eigenen politischen Absichten. „Wir hätten die Polen für uns. Die
Opposition der Ultramontanen hörte auf, so wie in Belgien, in Bayern."
(Bismarck zu Graf Hatzfeld; zitiert nach Gesammelte Werke, VII, Nr. 512)
Als Anfang der neunziger Jahre das Übereinkommen zwischen Vatikan
und Regierung zustande gekommen war, unterwarf sich die Zentrumspartei
dem Hohenzollernreich. Dadurch hatte sie sich der letzten Möglichkeit be-
geben, den Lauf der deutschen Geschichte grundlegend zu verändern.
Angesichts der geschichtlichen Situation und der in Deutschland herrschen-
den Bedingungen lag die Macht des Zentrums „weit weniger in der katho-
lischen Religion, als darin, daß es die Antipathien der Volksmassen gegen das
jetzt die Herrschaft über Deutschland beanspruchende spezifische Preußen -
tum vertrat", wie Friedrich Engels es ausdrückte. (Gewalt und Ökonomie
bei der Herstellung des neuen Deutschen Reiches, Dietz Verlag, Berlin,
1946, S.81)
Wie war es zu dieser Kapitulation gekommen? War sie einfach ein Fehler,
oder war sie ein wohlüberlegter politischer Schritt?
Bis gegen Ende des ersten Weltkrieges bestand die Anhängerschaft der
Zentrumspartei vor allem aus katholischen Bauern und Arbeitern, im
Gegensatz hierzu befand sich die autoritäre Führung der Partei völlig unter
der Kontrolle konservativer Aristokraten und hoher katholischer Würden-
träger. Diese Kreise waren durch gleiche Interessen und gemeinsame Feinde
mit den nichtkatholischen Aristokraten und nichtkatholischen Konser-
vativen in ganz Deutschland verbunden und standen daher in enger Allianz
mit dem kaiserlichen Reich. Die gemeinsame Feindschaft gegen jede soziale,
politische und wirtschaftliche Umwälzung machte den preußischen Milita-
rismus und den Katholizismus zu Verbündeten. Sie bekämpften gemeinsam
den Liberalismus in der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Sphäre.
137
Die Zentrumspartei führte eine zügellose Kampagne gegen den „antichrist-
lichen, jüdischen, liberalistischen Kapitalismus" und bediente sich dabei
vieler Schlagworte, die später während des Naziregimes allgemeine Ver-
breitung und traurige Berühmtheit erlangten: „gottloses Manchestertum",
„jüdisches Wucherkapital", „liberaler Moloch Kapital" usw.
Wenn man sich noch einmal all die Bannflüche vor Augen führt, die die
Päpste gegen die liberalen Grundsätze und gegen den liberalen Staat ge-
schleudert haben, dann versteht man leicht, daß der Katholizismus aus Haß
gegen alle liberalen Reformen ein enges Bündnis mit dem reaktionären
preußischen Militarismus einging. Es war die natürliche Folge der vatika-
nischen Bannflüche gegen den Liberalismus, die aus der religiösen und
moralischen in die soziale und politische Sphäre übertragen wurden. Weniger
leicht ist zu erklären, warum der deutsche - ebenso wie der österreichische -
politische Katholizismus so offensichtlich antisemitische Züge aufwies.
Wahrscheinlich wollten beide damit ihren schlimmsten Feind, die soziali-
stische Bewegung, treffen.
Das Preußentum und der Katholizismus sahen im Sozialismus ihren
Hauptfeind. Die sozialistische Bewegung wuchs von Tag zu Tag an Kraft
und Einfluß. Die katholische Partei wurde in ihrer Feindschaft gegen den
Sozialismus von den Flüchen inspiriert, die der Vatikan gegen ihn schleu-
derte. „Der Sozialismus steht im Widerspruch zu den Lehren der Kirche",
hatte der Papst dekretiert. Das bedeutete für die katholische Partei, den
Sozialismus zu bekämpfen. Außerdem hatte der Papst den Sozialismus wegen
seiner engen Verflechtung mit den Grundsätzen der Demokratie verurteilt.
Das allein war Anlaß genug, ihn zu bekämpfen.
Die sozialistische Bewegung predigte die wirtschaftliche, soziale und
politische Demokratie und nahm in ihre Reihen Menschen aller Religionen,
Rassen oder Hautfarben auf. Dagegen standen die katholische Kirche und
ihr Oberhaupt, der Papst, grundsätzlich allen demokratischen Ideen feind-
lich gegenüber und widersetzten sich dem Gedanken der Gleichheit, mochte
es auf erzieherischem, wirtschaftlichem oder sozialem Gebiet sein; sie waren
gegen jede Reform, die von neuen politischen Ideen ausging. Daher weckten
und nährten sie in den Hirnen ihrer Gläubigen Haß gegen den demokra-
tischen Geist und einen Hang zu autoritärem Denken. Dementsprechend
war auch die Haltung der Zentrumsmitglieder. Das autoritäre Denken
schlug bei ihnen immer tiefere Wurzeln und bereitete die katholischen Mas-
sen darauf vor, eine Diktatur zu unterstützen.
Die Politik der Zentrumspartei wurde ferner dadurch bestimmt, daß der
Vatikan in der orthodoxen Kirche, vor allem der russischen, einen Rivalen
sah. Diese religiöse Feindschaft gegen die Orthodoxie war allen Katholiken
in Deutschland jahrzehntelang eingeflößt worden, sie nahm politischen
138
Charakter an, als sich die Expansionsbestrebungen des Wilhelminischen
Reiches gegen das Zentrum der Orthodoxie, gegen das zaristische Ruß-
land, zu richten begannen. Ein weiteres Band zwischen dem Katholizis-
mus und dem deutschen Imperialismus war damit geknüpft. Diese künst-
lich gezüchtete antirussische Einstellung ging so weit, daß sich zum Beispiel
der Zentrumsführer Windthorst während des Russisch -Türkischen Krieges
unter anderem zu der Behauptung hinreißen ließ, dieser Krieg entscheide
letztlich, „ob das slawische oder das germanische Element in der Welt den
Ton angeben wird". Bischof Ketteier mußte eingreifen und der Zentrums -
partei einen Rüffel wegen ihrer „außergewöhnlichen deutschen Selbstüber-
hebung" erteilen. Aus dieser überheblichen slawenfeindlichen Einstellung
heraus gab im übrigen die Partei ihrem offiziellen Organ, das später von
dem päpstlichen Kammerherrn von Papen aufgekauft wurde, den Namen
Germania.
Als dann in Rußland ein noch gefährlicherer und entschiedenerer Feind
des politischen Katholizismus und des von ihm unterstützten wirtschaft-
lichen und sozialen Systems an die Macht kam, verstärkte sich die anti-
russische Einstellung der Kirche auf ideologischem wie auf politischem
Gebiet. Die Zentrumspartei unternahm kaum einen wichtigen politischen
Schritt, ohne vorher den päpstlichen Nuntius zu konsultieren. Von 1920
bis 1929 war dies der Kardinal Pacelli. Er unterstützte jede Politik und
jeden Mann, der bereit war, gegen Sowjetrußland zu kämpfen. Daher ist es
nicht erstaunlich, daß die katholische Partei bereitwillig den „Kreuzzug
gegen den Bolschewismus" predigte, zu dem der Papst in Rom und Hitler
in Berlin aufriefen.
Vor dem ersten Weltkrieg war die Zentrumspartei fünfundzwanzig Jahre
lang fast ununterbrochen die stärkste Fraktion im deutschen Reichstag. Sie
war der wichtigste und einzige Verbündete aller deutschen Reichskanzler
Von Hohenlohe bis Bethmann- Hollweg und eine der Hauptstützen des
deutschen Imperialismus. Windthorst brachte das klar zum Ausdruck, als
er sich vor dem Reichstag mit einer der Hauptfragen der deutschen Politik,
mit der Haltung seiner Partei zur deutschen Armee, befaßte: „Ich gebe zu,
daß die Armee die wichtigste Institution des Landes ist. Ohne sie würden
die Säulen der Gesellschaft zum Einsturz kommen."
Und in der Reichstagssitzung am 10. 12. 1890 sagte er sogar: „Wem wäre
es nicht eine Befriedigung und ein Stolz, die Armee in dem allerschönsten,
schmuckesten und kräftigsten Zustand zu sehen?" (Zitiert nach Der politische
Katholizismus, Drei Masken Verlag, München, 1923)
Windthorst wurde durch Ernst Lieber abgelöst, der in die Fußtapfen
seines großen Vorgängers trat. Er war ein begeisterter Befürworter der
deutschen Kolonialpolitik und der Marinepolitik des Kaisers; Großadmiral
139
von Tirpitz dankte ihm dafür ausdrücklich in seinen Memoiren. Auch auf
anderen Gebieten war Lieber ein zuverlässiger und einflußreicher Verfechter
der verhängnisvollen Politik Wilhelms II. Er setzte sich für eine Verstärkung
der Armee und der Marine ein, für expansionistische Ziele in der Außen-
politik und für Preiserhöhungen in der Innenpolitik. Bei allem genoß Lieber
die volle Unterstützung der Zentrumspartei, deren Vorsitzender er war.
Im ersten Weltkrieg stand das Zentrum fest in der vereinten Front aller
Parteien, die den Krieg unterstützten. Es vertrat die ziemlich unchristliche
Forderung nach einer „rücksichtslosen Kriegführung", war einer der laute-
sten Schreier nach einem „Großdeutschland" und verlangte Annexionen
sowohl im Westen als auch im Osten. Sein Vorsitzender war zu dieser Zeit
Peter Spahn. Er definierte die Ansichten der Partei über die „Neue Ord-
nung", die nach dem kaiserlichen Sieg errichtet werden sollte, und erklärte
im Frühjahr 1916 vor dem Reichstag: „Kriegsziele sind Machtziele. Wir
müssen Deutschlands Grenzen nach unserem Gutdünken verändern . . .
Belgien muß politisch, militärisch und wirtschaftlich in deutschen Händen
bleiben." Die Partei stand in der ersten Linie der fanatischsten deutschen
Imperialisten. Die katholische Zeitung Hochland verlangte die Annexion
von Beifort „. . . mit den alten Grenzen von Lothringen und Burgund" und
die ständige Besetzung der Kanalküste.
Das war bei weitem nicht alles. Als Tirpitz 1915 den uneingeschränkten
U-Boot-Krieg forderte, unterstützte ihn die Zentrumspartei. Der bayrische
Ministerpräsident Graf Hertling, ein führender Zentrumspolitiker, war ja
ein enger Freund des Großadmirals von Tirpitz. Und die katholische
Hierarchie stand nicht zurück, sie führte unter ihren Gläubigen einen Propa-
gandafeldzug für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. So mobilisierte
zum Beispiel Kardinal Bettinger in München die ländliche Geistlichkeit
Bayerns für diese sehr christliche Aufgabe und fuhr selbst aufs Land, um
unter den Bauern zu agitieren. Auf zahlreiche Proteste erwiderte der Kardi-
nal, daß „es ein unverzeihliches Verbrechen von deutscher Seite wäre, wenn
Deutschland es verabsäumte, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu füh-
ren". Das deutsche Episkopat vertrat die gleiche Meinung, erklärte sich im
Namen der führenden katholischen Würdenträger für den uneingeschränk-
ten U-Boot-Krieg und verteidigte außerdem die Verletzung der belgischen
Neutralität. Es mag genügen, als Beweis Michael Faulhaber, den späteren
Kardinalerzbischof von München, zu zitieren, der damals ein prominenter
Armeegeistlicher war: „Meiner Meinung nach wird diese Kampagne in die
Geschichte der Militärethik als ein hervorragendes Beispiel für einen ge-
rechten Krieg eingehen.'*
Zur Krönung ihrer Kriegspolitik unternahm die Reichstagsfraktion der
Zentrumspartei am 16. Oktober 1916 einen wahrhaft sensationellen Schritt.
140
Sie erklärte dem Reichskanzler in einer sorgfältig abgewogenen Denk-
schrift, er solle sich, wenn ihm auch formell die Verantwortung für die
deutsche Kriegführung übertragen sei, den Befehlen der Obersten Heeres-
leitung unterstellen, und der Reichstag solle jedem von der Obersten Heeres-
leitung verkündeten Gesetz seine Zustimmung erteilen. Diese Denkschrift
„war die erste förmliche Anerkennung der Diktatur der deutschen Armee-
führung nicht nur in militärischen, sondern auch in politischen Fragen und
bedeutete faktisch die Unterordnung des Reichstags und der Reichsregie-
rung unter diese Diktatur". (B. Menne, The Case of Dr. Bruening) Man
muß dabei bedenken, daß zu der Zeit, als diese Denkschrift zusammen-
gestellt wurde, nicht mehr der willensschwache jüngere Moltke Chef der
Obersten Heeresleitung war, sondern Hindenburg mit Ludendorff als
Generalstabschef. Und Ludendorff war ein Diktator. Sein Streben war,
Deutschland im Namen des Großen Generalstabs zu regieren. Und es
dauerte nicht lange, da war es soweit.
Die Feststellung, daß die Partei des politischen Katholizismus als erste
feierlich und öffentlich vor der Diktatur des Generals Ludendorff kapitu-
lierte, mag unwahrscheinlich oder selbst böswillig scheinen, aber sie ist eine
historische Tatsache.
Die Zentrumspartei stand wie die meisten katholischen Parteien unter
der Führung einer Gruppe von Aristokraten, hohen Staatsbeamten und
führenden kirchlichen Würdenträgern. Die reaktionäre und nationalistische
Politik dieser Kräfte rief unter den katholischen Bauern und Arbeitern
Unzufriedenheit hervor. Sie erregten sich vor allem über die Art und Weise,
wie der sogenannte Burgfriede gehandhabt wurde, und über die Verweige-
rung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Preußen.
Unter der Führung der christlichen Gewerkschaften bildete sich im
Rheinland schrittweise, vor allem im dritten Kriegsjahr, eine Opposition
heraus, deren Sprecher Erzberger war. Erzberger war Mitglied der Reichs -
tagsfraktion der Zentrumspartei und hatte in den ersten Kriegs jähren die
Annexionsbestrebungen der deutschen Imperialisten unterstützt. Er hatte
gute Beziehungen zu Tirpitz und half Ludendorff in den Sattel heben.
Aber 1917 trennte sich Erzberger von all dem. Er war in den Besitz von
Informationen gelangt, die ihn überzeugt hatten, daß Deutschland keine
Chance hatte, den Krieg zu gewinnen. General Hoff mann, der Chef des
Generalstabs der deutschen Ostarmee, und Graf Czernin, der österreichische
Außenminister, hatten ihm dargelegt, daß Deutschlands Lage hoffnungslos
sei. Aber der Hauptimpuls für Erzbergers politische Schwenkung kam vom
Papst selbst. Benedikt XV. sah mit wachsender Sorge, daß sich die Position
der Mittelmächte rasch verschlechterte. Wir können nicht behaupten, daß er
ihren Sieg gewünscht hätte; aber wir wissen, daß ihm daran gelegen war,
141
ihre Niederlage zu verhindern. Osterreich war eine der letzten katholischen
Großmächte in der Welt, und auch die politische Position der deutschen
Katholiken berechtigte zu großen Hoffnungen. Der Papst suchte daher nach
einer Lösung, die für diese beiden Mächte annehmbar war, und knüpfte die
ersten Fäden zwischen London und Berlin. Voraussetzung für einen Erfolg
dieser Bemühungen war, die deutschen Bestrebungen im Westen klarzu-
stellen. Hier setzte Erzbergers Aufgabe ein.
Der Papst entsandte einen seiner jungen und fähigsten geistlichen Diplo-
maten, Eugenio Pacelli (später Nuntius in Deutschland und dann als
Pius XII. Oberhaupt der katholischen Kirche), nach München, um mit dem
kommenden Mann in den deutschen katholischen Kreisen, Matthias Erz-
berger, Verbindung aufzunehmen. Erzberger stand noch unter dem Schock
der Enthüllungen über Deutschlands ungünstige Lage und unterstützte
daher freudig die päpstliche Initiative. Eine Rede, die er am 6. Juli 1917
vor dem Reichstag hielt, hinterließ nachhaltigen Eindruck und wirkte im
allgemeinen sehr ernüchternd. Aber das war nur der Anfang. Erzberger
arbeitete unermüdlich daran, dem Papst die Erklärung zu verschaffen, die er
als Voraussetzung für Verhandlungen mit den Westmächten so dringend
benötigte. Es war daher im wesentlichen Erzberger zu danken, daß am
19. Juli 1917 der Reichstag mit einer aus Katholiken, Sozialdemokraten und
Liberalen bestehenden Mehrheit eine Entschließung zugunsten eines „Frie-
dens ohne Annexionen und Kontributionen" faßte. Selbst der Kaiser war
über die Annahme solch einer nützlichen Formel befriedigt, machte aber
einen einschränkenden Vorbehalt: Deutschland werde sich nicht bereit fin-
den, eine durch die Waffen herbeigeführte Entscheidung rückgängig zu
machen.
Die Situation änderte sich schlagartig, als Rußland im Herbst 1917 die
Kampfhandlungen einstellte. Deutschland vergaß die Friedensresolution, die
sozialdemokratisch-katholische Garantieformel gegen eine völlige Nieder-
lage; die deutschen Generale diktierten die Friedensbedingungen von Brest -
Litowsk und Bukarest,
Als aber Deutschland im November 1918 selbst am Ende war, wurde Erz-
berger, der Initiator der berühmten Friedensresolution, ausersehen, die Ver-
handlungen über den Waffenstillstand zu führen. „Hindenburg standen
Tränen in den Augen, als er Erzbergers Hände zwischen den seinen hielt
und ihn beschwor, die schreckliche Pflicht für die heilige Sache des Vater-
landes auf sich zu nehmen", hieß es in einem Bericht. Diese Szene wieder-
holte sich zehn Jahre später, als der Generalfeldmarschall, wieder, „mit
Tränen in den Augen", die Hände eines anderen Zentrumsführers drückte.
Am 1 1. November 1918 unterzeichnete Erzberger als Leiter der deutschen
Delegation den Waffenstillstand von Compiegne.
142
Erzberger war weit davon entfernt, ein Demokrat geworden zu sein, aber
er war überzeugt, daß die Militaristen die Hauptfeinde einer friedlichen
und progressiven Entwicklung in Deutschland waren. Das bedeutete keine
Änderung der Parteilinie des Zentrums. Die Partei stand nach wie vor mit
Ausnahme Erzbergers und seiner Anhänger auf der Position des vergan-
genen Kaiserreiches. Zwei Tage nach dem Zusammenbruch hatte sie in
einer Resolution das Fortbestehen der Monarchie gefordert. Später protestier-
ten die Parteiführer, lebhaft sekundiert von der jüngeren Generation der
Armeeoffiziere, gegen die Abschaffung des Kaiserthrones.
Die katholische Kirche war nicht nur militanter Streiter für den Nationa-
lismus, sondern auch Haupttriebkraft aller monarchistischen Bestrebungen.
Sie forderte die Rückkehr des Kaisers. Kardinal Faulhaber, eine der wich-
tigsten Säulen der katholischen Kirche in Deutschland, erklärte auf dem
Münchener Katholikentag: „Die Revolution war Treubruch und Hoch-
verrat. Sie wird für immer mit dem Kainszeichen gebrandmarkt in die Ge-
schichte eingehen."
„Kainszeichen" war nur der biblische Ausdruck für das, was die Nationa-
listen „Dolchstoß in den Rücken" nannten. Hitler verkündete zu derselben
Zeit und an demselben Ort das gleiche.
Die Zentrumspartei verdammte die Revolution und haßte die „Roten",
trotzdem beteiligte sie sich an der Regierungsarbeit der Republik. Sie stellte
sich, wie ein führender Katholik es ausdrückte, „auf den Boden der Tat-
sachen". Das bedeutete nicht etwa einen Gesinnungswechsel, sondern ledig-
lich, daß sie sich einer neuen Situation angepaßt hatte, um ihre alten Ziele
weiter zu verfolgen. Bei den katholischen Parteien darf man nie außer acht
lassen, daß sie in erster Linie Instrumente der katholischen Kirche sind, mit
denen die Kirche bestimmte religiöse und moralische Ziele verfolgt.
Der politische Katholizismus kann sich daher, ohne auch nur einen Buch-
staben seines Programms verleugnen zu müssen, jeder politischen Situation
rasch und mühelos anpassen und taktische Züge machen, die andere
Parteien ihr politisches Gesicht und damit vielleicht ihre Existenz kosten
würden.
Unter dem Kaiser war die Zentrumspartei monarchistisch und imperia-
listisch. In der Weimarer Republik tat sie, als wäre sie republikanisch und
demokratisch. In Wirklichkeit aber war sie geblieben, was sie von jeher
war — eine katholische Partei. Sie änderte wohl ihre Taktik und ging selbst
mit den ihr so verhaßten „Roten" und den Linksparteien Koalitionen ein,
aber sie verließ niemals ihren festgelegten Kurs. Untersucht man ihre ver-
schiedenen politischen Schachzüge in den ersten zehn Jahren der Republik,
so kann man feststellen, daß auf jeden Schritt nach rechts ein Schritt nach
links kam, dem wieder ein Schritt nach rechts folgte.
143
Oft wird die Frage gestellt, ob die Zentrumspartei mit ihrem demokra-
tischen linken Flügel unter anderen Bedingungen eine wahrhaft demo-
kratische Partei geworden wäre. Ihre Schwesterpartei, die Bayrische Volks -
partei, war zu allem anderen bereit, nur nicht zu einer Bewegung in Rich-
tung der Demokratie. Zu einer bestimmten Zeit, vor allem nach der
militärischen Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg, bestand die
Möglichkeit hierzu. Aber die Propagierung demokratischer Ideen unter den
katholischen Arbeitern, unter den Mittelklassen einschließlich der Journa-
listen, Lehrer, Professoren usw. war nur eine vorübergehende und zeitbe-
dingte Erscheinung.
Das wurde völlig klar, als der Führer des demokratischen Flügels, Erz-
berger, im Herbst 1921 von zwei fanatischen Parteigängern einer milita-
ristischen Geheimorganisation, die ihren Sitz im katholischen Bayern
hatte, ermordet wurde. Erzbergers Tod zog auch den Tod des linken Flü-
gels der Zentrumspartei nach sich. Man bemühte sich zwar, in den linken
Kreisen des Zentrums Nachfolger für Erzberger zu finden, aber sie wurden,
wie zum Beispiel Dr. Wirth, ein Freund Erzbergers und Rathenaus, sehr
bald von den „realpolitischen" Strömungen innerhalb der Partei beiseite
geschoben.
Einer der Gegner Erzbergers in der Partei war der Führer der christlichen
Gewerkschaften, Stegerwald.
Stegerwald war erfolgreicher als Erzberger, weil er als einer der ent-
schiedensten Antidemokraten von seiner Partei gestützt wurde. Er bewun-
derte alle autoritären Maßnahmen und hielt enge Freundschaft mit
reaktionären Staatsbeamten und nationalistischen Militaristen. Die fort-
währende Rivalität zwischen den sozialdemokratischen und den christlichen
Gewerkschaften schien die Richtigkeit seiner Haltung zu bestätigen. Er
stand an der Spitze der katholischen Arbeiter im Ruhrgebiet und trug immer
wieder Verwirrung in ihre Reihen; viele unter ihnen wollten mit seinen
totalitären Anschauungen nichts zu tun haben und wären lieber Erzberger
gefolgt. Aber Erzberger wurde von den vatikanischen Autoritäten ständig
mit Mißtrauen bedacht, während Stegerwald die Unterstützung des Vatikans
und der Zentrumsführung genoß. Nach Erzbergers Ermordung wurde
Dr. Marx, ein konservativer preußischer Richter, Vorsitzender der Partei.
Seine Politik zielte darauf ab, im Reichstag das Gleichgewicht zwischen
Links und Rechts zu halten.
Im Jahre 1924 kündigte die Zentrumspartei plötzlich die sogenannte
Weimarer Koalition, ein parlamentarisches Zusammengehen von Katho-
liken, Linksliberalen und Sozialdemokraten. Die Bedingungen hatten sich
wieder geändert, die Revolution war niedergerungen, dem Zentrum schien
eine Koalition mit der Deutschnationalen Volkspartei geboten. Eine
144
Regierung unter der Führung von Dr. Marx kam zustande. Das bedeutete,
daß die Zentrumspartei trotz ihrer großen Anhängerschaft in den arbeitenden
Schichten auf die Seite der Schwerindustrie übergegangen war, auf die Seite
der Junker, der extremen Nationalisten und Militaristen, die Deutschland in
den zweiten Weltkrieg führten.
Auch dieser plötzliche Umschwung in der Koalitionspolitik der Zentrums-
partei ist den geistlichen und moralischen Lehren der katholischen Kirche
als religiöser Institution zuzuschreiben.
Äußerer Anlaß für den politischen Kurswechsel des Zentrums waren die
sogenannten Schulgesetze. Die Weimarer Verfassung sprach sich nicht klar
über den künftigen Schultyp in Deutschland aus. Der Streit ging vor allem
um die Frage, ob die Kirche in Schulangelegenheiten den Vorrang haben
sollte oder ob der Staat die Kirche beiseite schieben und den Schulpflichtigen
eine weltliche Erziehung angedeihen lassen dürfe.
Die deutschen Katholiken, allen voran die Hierarchie, plädierten, getreu
ihren Zielen, für die geistliche Überwachung der Schulen und für die Bil-
dung sogenannter Konfessionsschulen. Vor allem das deutsche Episkopat
trat, in seinem Standpunkt durch gewisse Ratschläge des päpstlichen Nuntius
Pacelli bestärkt, sehr streitbar auf.
Das Streben der katholischen Kirche, über katholische Schulen zur Er-
ziehung der deutschen Katholiken zu verfügen, war, vom kirchlichen Stand-
punkt gesehen, durchaus verständlich. Wenn sich die Kirche auf die rein
religiöse Seite der Angelegenheit beschränkt hätte, wäre es darüber nie zu
einem solchen Streit gekommen. Aber diese Beschränkung legte sich die
Kirche nicht auf, im Gegenteil, sie verquickte die Religion mit der Politik,
machte aus den religiösen Fragen politische Fragen und aus den politischen
religiöse. Bald mußte sie jedoch einsehen, daß sie ihr Ziel durch die Mobili-
sierung der Geistlichkeit allein nicht erreichen konnte. Daher setzte sie ihr
politisches Instrument, die Zentrumspartei, unter Druck. Die Partei machte
die Sache der Kirche zu ihrer eigenen, näherte sich der Deutschnationalen
Volkspartei, die in Schulfragen zugänglicher war, und begann unter dem
Druck des Vatikans die sozial gesinnte Linksopposition innerhalb der Partei
schrittweise abzuwürgen.
So kam es zu der Koalition zwischen dem Zentrum und der potentiell
faschistischen Deutschnationalen Volkspartei. Die Grundlage dieses Bünd-
nisses bildeten gegenseitige Garantien. Die Nationalisten versprachen,
einem Schulgesetz, das Konfessionsschulen unter der Aufsicht der Kirche
berücksichtigte, zuzustimmen, die Katholiken versprachen, sich für Subven-
tionen an die Industrie und für Einfuhrbeschränkungen einzusetzen, und
erklärten sich, was besonders aufschlußreich ist, mit einer Kürzung des
Sozialhaushalts einverstanden. Zweimal wurde eine Übereinkunft in dieser
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145
Richtung getroffen, aber beide Male führte sie nicht zum Ziel. Das erste
Schulgesetz von 1925 kam gar nicht vor den Reichstag, und über das zweite
von 1927 wurden sich die Koalitionspartner selbst nicht einig. Die Partei
Stresemanns erreichte schließlich, daß die Vorlage zurückgewiesen wurde.
Beide Seiten forderten für sich die alleinige Kontrolle über das Schulwesen
und über die Jugenderziehung. Der gleiche Streit brach später zwischen
Hitler und der katholischen Kirche aus.
Die Meinungsverschiedenheiten über das Schulgesetz führten im Früh-
jahr 1928 zum Zerfall der Koalition. Die Wahlen im Mai brachten einen
sensationellen Linksruck, den größten seit 1918. Die Sozialdemokratie zog
als stärkste Fraktion in den Reichstag ein.
Die katholische Kirche war vor allem darüber schockiert, daß das Zen-
trum zu den Parteien gehörte, die die meisten Stimmen verloren hatten,
und daß die Sozialdemokratie gerade unter den katholischen Wählermassen
viele Stimmen erobert hatte. Die katholische Kirche und das Zentrum hatten
das bisher für unmöglich gehalten. Diese Entdeckung alarmierte sowohl
den Vatikan als auch die Führung der deutschen katholischen Partei. Das
Zentrum verließ in der Hoffnung, die verlorenen Stimmen zurückzu-
gewinnen, die Nationalisten und kehrte reumütig zur Koalition mit den
Sozialdemokraten zurück. Der Sozialdemokrat Hermann Müller wurde
Reichskanzler. Im Vatikan aber reifte eine Entscheidung hinsichtlich
der deutschen katholischen Partei heran, die von schweren Folgen sein
sollte.
Damals regten sich viele Hoffnungen, daß Deutschland sozialistisch
regiert werden und auf dieser Grundlage eine Zusammenarbeit mit den
anderen europäischen Nationen anstreben würde. Aber diese Hoffnungen
wurden nicht erfüllt. 1929 saßen, entgegen dem klaren Willensausdruck
der Wähler, in den Schlüsselstellungen der deutschen Republik drei Männer,
deren Ziel es war, die Republik zu liquidieren. Die Kombination Hinden-
burg-Groener-Schleicher war am Werk. Alle drei hatten hohe und höchste
Positionen in der kaiserlichen Armee innegehabt. Sie intrigierten seit
Jahren auf militärischem und politischem Gebiet und wollten als erstes mit
dem „langweiligen Interregnum" Schluß machen, wie sie die deutsche Re-
publik nannten.
1929 unternahm Hindenburg, vorwärtsgestoßen von seinen Freunden, die
ersten Schritte in dieser Richtung. Er entließ den sozialdemokratischen
Reichskanzler Müller und dessen Außenminister Stresemann. Hindenburg
wollte das Prinzip abschaffen, daß der Reichskanzler das Vertrauen des
Parlaments benötigte. Er brauchte einen Mann, der „das Vertrauen der
Armee" genoß. Dieser Mann sollte, so war vorgesehen, auf Grund des
Artikels 48 der Weimarer Verfassung regieren, der dem Reichspräsidenten
146
in bestimmten Fällen diktatorische Vollmachten übertrug. Falls das Parla-
ment protestierte, sollte es aufgelöst werden.
Die Verschwörer suchten eine Partei, die ihnen bei der Liquidierung der
Republik helfen konnte, und einen Mann, der selbst die ersten Schritte
zur Diktatur ging und den weiteren Weg zu ihr ebnete. Beides fanden sie
im Lager des politischen Katholizismus. Die Partei war die Zentrumspartei,
sie hatte sich bereits bei der Erziehung der Deutschen zu autoritärem Den-
ken Verdienste erworben ; und der Mann war Dr. Brüning, ein fanatisch
gläubiger Katholik. Er sollte ohne die Zustimmung des Parlaments, mit
Hilfe des Artikels 48 und auf Grund von Instruktionen der Reichswehr
regieren.*
Es gab in Deutschland einen Mann, der, obwohl er kein Deutscher war,
mehr von der politischen Situation im Lande verstand als mancher deutsche
Politiker: Kardinal Eugenio Pacelli, der päpstliche Nuntius. Pacelli ent-
stammte einer römischen Adelsfamilie. Er hatte die Adelsschule in Rom
besucht und war ein Anhänger des früheren Kardinalstaatssekretärs Merry
del Val, des Mannes, der die „Christliche Vereinigung Junger Männer" ver-
dammt und seine Stellung benutzt hatte, die Rolle eines modernen Inqui-
sitors zu spielen.
Pacelli hatte sich 1917 im Auftrag des Papstes in die bereits erwähnten
Verhandlungen über einen Kompromißfrieden zwischen Deutschland und
den Alliierten eingeschaltet. Seitdem lebte er in Deutschland, anfangs in
München, später in Berlin, und verfolgte mit Interesse die politische Ent-
wicklung, vor allem die Entwicklung der katholischen Parteien: der Bayri-
schen Volkspartei und der Zentrumspartei. Die Führer dieser beiden
Parteien unternahmen nicht einen einzigen politisch wichtigen Schritt, ohne
zuvor über den Kardinal Pacelli den Vatikan konsultiert zu haben. Kardinal
Pacelli war engster Berater des Papstes, daher waren viele der vom Papst
getroffenen Entscheidungen ihm zuzuschreiben.
Als Pacelli 1920 sein Amt als päpstlicher Nuntius in Deutschland antrat,
gab er Anlaß zu einer Sensation. Er begann, entgegen allen Erwartungen,
mit Erzberger zusammenzuarbeiten. Einige glaubten daraufhin, daß er mit
dem linken Flügel des Zentrums sympathisiere; andere vermuteten, daß
er auf diese Weise versuchen wolle, die linken Tendenzen dieses Flügels
unter Kontrolle zu bekommen. Diese Vermutung schien sich zu bestätigen.
Pacelli behandelte nach Erzbergers Ermordung dessen Nachfolger Dr. Wirth
* „Dieser katholische Abgeordnete stand in enger Verbindung mit deutschen nach dem
Krieg gegründeten Geheimorganisationen. Auf dem Weg über diese Verbindungen kam
die Verschwörung gegen die deutsche Republik zustande. Der prominente Führer der
katholischen Gewerkschaftsbewegung, Beamte und Abgeordnete war bereits seit Herbst
1918 aktives Mitglied einer solchen Geheimgesellschaft." (Wheeler - Bennet)
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sehr kühl und schlug sich, als Dr. Marx die Führung der Partei übernahm,
offen auf die Seite des rechten Flügels.
Der Kardinal und der neue Zentrumsführer wurden enge Freunde.
Dr. Marx tat keinen Schritt, ohne vorher Pacelli zu konsultieren. So dirigierte
der Kardinal faktisch jahrelang die Politik der Zentrumspartei und gewann
dadurch wesentlichen Einfluß auf die deutsche Politik überhaupt. Er ent-
wickelte den Plan, die Zentrumspartei mit der Deutschnationalen Volks -
partei eine Koalition eingehen zu lassen, ein Schritt, der verhängnisvolle
Folgen für ganz Deutschland hatte. (Kardinal Pacelli beendete seine Mission
als Nuntius in Deutschland am 12. Dezember 1929. 1950 ernannte Papst
Pius XI. ihn zum Kardinalstaatssekretär.)
Was veranlaßte den Kardinal, diese mächtige politische Partei nach
rechts statt nach links zu führen? Was bewog ihn, eine Allianz mit den
nationalistischen, totalitären, antidemokratischen Deutschnationalen ein-
zugehen?
Die Antwort ist, wie immer, wenn es sich um katholische Politik han-
delt, dort zu finden, wo die Interessen der katholischen Kirche liegen. Die
Kirche hatte, wenn wir vorerst von ihrer allgemeinen Ablehnung des Sozia-
lismus und Kommunismus absehen, in Deutschland ein Sofortziel vor
Augen: die Einführung der Konfessionsschule. Dieses Ziel wäre erreichbar
gewesen, wenn sich Deutschland und der Vatikan auf der Grundlage eines
Konkordats geeinigt hätten. Aber das Konkordat wurde nie unterschrieben.
Auch das Schulgesetz trat nicht in Kraft. Trotzdem waren Pacellis Be-
mühungen nicht erfolglos. Der deutsche Staat gewährte der katholischen
Kirche Subsidien, die von 148 Millionen Mark im Jahre 1925 auf 163 Mil-
lionen Mark im Jahre 1 928 stiegen.
Kardinal Pacelli hatte bestimmte Ansichten, wie man dem Rückschlag
bei den Wahlen von 1928 entgegenwirken müsse. Sie wurden im Vatikan,
wo man ihn als klugen Kopf kannte, der neue Formen der Massenbeein-
flussung auf Kosten des veralteten politischen Katholizismus einführen
wollte, sehr ernst genommen. Der Vatikan hatte den von Pacelli vorge-
schlagenen Weg bereits beschritten, obwohl er nach dem Krieg lange Zeit
nicht gewußt hatte, wie er sich gegen die deutschen katholischen Parteien
verhalten sollte. Sie hatten sich unmittelbar nach dem Krieg als überaus
wertvolle politische Instrumente erwiesen. Die Hoffnung, sie könnten der
Kirche auch weiterhin große Dienste leisten, erfüllte sich nicht. Die Zen-
trumspartei war nicht länger fähig, den Einfluß auszuüben, den sie in der
Vergangenheit gehabt hatte. Sie mußte sich Verbündete suchen - zuweilen
sogar unter ihren Gegnern. Dies liege vor allem an der politischen Struktur
der Weimarer Republik, meinte der Vatikan. Sie gewähre den politischen
Gruppierungen zuviel Freiheit, und das führe zur Radikalisierung der
148
Massen und dadurch zur wirtschaftlichen Zerrüttung Deutschlands. Der
Vatikan nahm daher die Nachricht, daß Tausende von Mitgliedern die
katholische Partei verlassen, sich vom politischen Katholizismus abgewandt
und in ihrer Mehrzahl der Sozialdemokratischen Partei angeschlossen hatten,
mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis.
Zwar hatte man das alles seit Jahren in Rechnung gestellt, aber die Mel-
dung über die großen Stimmenverluste bei den Wahlen von 1928 wirkte
doch wie ein Schock. Fast eine halbe Million Wähler hatten dem Zentrum
den Rücken gekehrt. Das war die schwerste Wahlniederlage, die die Partei
jemals erlitten hatte. Der Ernst der Lage wurde dem besonders klar, der
wußte, daß diese Verluste nur der vorläufige Höhepunkt einer seit Jahren
anhaltenden Entwicklung waren. Die Schwächung des politischen Katholi-
zismus in Deutschland löste im Vatikan Alarmstimmung aus.
Nach der Niederlage von 1928 forderte der Vatikan die Zentrumspartei
auf, eine Tabelle anzufertigen, aus der die Verluste der Partei seit ihrer
Gründung zu ersehen waren. Pacelli sandte den Bericht nach Rom. Die
Veröffentlichung wurde verboten, nur die höchsten Parteistellen und der
Vatikan kannten den Inhalt. Die folgenden Zahlen zeigen, welchen Anteil
die männlichen Zentrumswähler in den betreffenden Jahren an der Gesamt-
zahl der katholischen männlichen Wähler hatten:
Für die Zukunft bestand durchaus die Gefahr, daß die Verlustkurve noch
steiler anstieg, da sich die katholischen Arbeiter, vor allem nach der Allianz
der Zentrumspartei mit der reaktionären Deutschnationalen Volkspartei,
immer mehr den sozialistischen Lehren zuwandten. Nur die katholische
Jugend und die katholische Intelligenz gingen in ihrer Mehrzahl zu den
Nationalisten über.
Die Partei, die zwei Generationen hindurch dem deutschen Katholizismus
wertvolle Dienste geleistet hatte, hörte auf, ein wirksames politisches Instru-
ment zu sein. Man mußte etwas Wirkungsvolleres finden. Man mußte einen
neuen Weg beschreiten, eine neue Politik konzipieren und vor allem neue
Leute an die Macht bringen.
Nach der Niederlage von 1928 gewannen innerhalb des Zentrums end-
gültig die reaktionärsten Elemente die Oberhand. Der linke Flügel hatte
faktisch aufgehört zu bestehen, er spielte bei der Festlegung der politischen
Richtung der Gesamtpartei keine Rolle mehr. Die Partei war ein Instru-
ment des Nuntius Pacelli geworden, die klerikalen Elemente hatten die
1875
1907
1912
1919
1928
85 Prozent
65 Prozent
55 Prozent
48 Prozent
39 Prozent
149
Vorherrschaft erlangt. Der Sprecher des rechten Flügels war der päpstliche
Prälat Dr. Ludwig Kaas, Professor für Kirchengeschichte an der Universität
Bonn. Er hatte sich vor allem auf außenpolitische Fragen spezialisiert» war
außenpolitischer Sprecher der Zentrumsfraktion im Reichstag geworden
und begleitete die deutsche Delegation zum Völkerbund nach Genf. Seine
Hauptforderung war eine „aktivere Außenpolitik". Er stand Stresemann
sehr kritisch gegenüber und wandte sich gegen den Versuch, Deutschlands
Ansprüche auf dem Weg geduldiger Verhandlungen durchzusetzen. Mit
dieser Forderung stand er in einer Front mit den Führern zweier anderer
Parteien: mit Hugenberg, dem Führer der Deutschnationalen Volkspartei,
und mit Hitler, dem Führer der Nazipartei.
Kaas war nach dem ersten Weltkrieg ein eifriger Anhänger der Separa-
tistenbewegung gewesen, die von rheinischen Katholiken finanziert worden
war. Am 10. März 1919 hatte er an die unter dem Vorsitz von Dr. Konrad
Adenauer in Köln tagenden Separatisten ein Telegramm zur Begrüßung
der „Rheinischen Republik" gesandt. Es darf auch nicht vergessen werden,
daß Kaas eng mit Dr. Seipel befreundet war, der die Schaffung eines katho-
lischen Reiches in Mitteleuropa anstrebte.
Entscheidend für den Einfluß von Dr. Kaas in der Partei war die Tat-
sache, daß er ein enger Vertrauter des päpstlichen Nuntius in Berlin war.
Pacelli und Dr. Kaas verbrachten mehrere Male gemeinsam ihren Urlaub
in der Schweiz. Die Meinungen von Dr. Kaas galten allgemein als die Mei-
nungen des päpstlichen Nuntius. Die Freundschaft zwischen Pacelli und
Kaas war eine der Ursachen für das Abgleiten der Zentrumspartei nach
rechts. Pacelli unterstützte das Bestreben bestimmter katholischer Kreise,
sich eine nationalistische Plattform zu geben. Noch wenige Jahre zuvor
hatte sich der Vatikan mehrmals strikt geweigert, ähnlichen Forderungen der
Zentrumspartei nachzugeben. Erst 1924 hatte er begonnen, der nationali-
stischen Strömung in der Partei sein Wohlwollen zu schenken, von 1928 an
gewährte er ihr seine volle Unterstützung. In der Periode von 1924 bis 1928
änderte der Vatikan in der ganzen Welt seine politische Taktik. Alle seine
Aktionen in dieser Zeit zielten darauf ab, die Demokratie und den Sozia-
lismus in den einzelnen Ländern zurückzudrängen. Die Methoden, die der
politische Katholizismus dabei in Europa auf Anregung des Vatikans an-
wandte, unterschieden sich wohl in ihrem Charakter, dienten aber alle dem
gleichen Ziel. In Bayern und Ungarn war der politische Katholizismus
legitimistisch, in Belgien und Österreich reaktionär, in Portugal, Spanien
und Polen militaristisch und faschistisch und überall — antikommuniätisch.
Der deutsche politische Katholizismus spielte in den Zukunftsplänen des
Vatikans keine geringe Rolle. Aber vorerst hieß es abwarten, bis günstigere
Umstände eintraten, die zu einer entschiedenen Veränderung der politischen
150
Situation in Deutschland führten. Der Vatikan steuerte daher die Zentrums-
partei in den Jahren von 1924 bis 1928 nur sehr allmählich weiter nach
rechts und erst von 1 928 an geradenwegs in die Diktatur.
Die katholische Intelligenz, die bereits stark antisowjetisch vergiftet war,
wurde in dieser Haltung vom Vatikan bestärkt. Der Vatikan machte auch
unter den deutschen Katholiken kein Hehl daraus, daß er mit der Feind-
schaft gegen den russischen Kommunismus eine weitere große Aufgabe
verband: die Heimführung der russischen orthodoxen Kirche in den Schoß
der katholischen Kirche.
Dieser Haß, diese aggressive Haltung gegenüber der Sowjetunion trieben
die katholische Kirche an die Seite der reaktionärsten politischen Kräfte
in Deutschland, an die Seite der preußischen Junker, der Alldeutschen, der
Nazis. Das heißt jedoch nicht, daß alle katholischen Elemente für einen
antisowjetischen Kreuzzug eintraten. Es gab unter ihnen einige, die, wenn
auch aus rein politischen Gründen, entschieden gegen solche Abenteuer
waren.
Nach der Niederlage vom Mai 1928 begann in der Partei eine heftige
Auseinandersetzung über die künftige Linie der Partei in sozialen und
außenpolitischen Fragen, Der klerikale Flügel mit Dr. Kaas an der Spitze,
das heißt also die Richtung des Kardinals Pacelli, gewann die Schlacht.
Dr. Kaas wurde im Dezember 1928 Vorsitzender der Zentrumspartei, Das
war ein Wendepunkt. Von nun an befand sich die Zentrumspartei völlig in
der Hand des Vatikans. Die unteren Parteistellen wußten das nicht, sie
spürten nur, daß die Partei nun einen noch reaktionäreren und noch
nationalistischeren Kurs steuerte. Sie wußten nicht, daß ihre Partei ledig-
lich einem Zweck zu dienen hatte: der Zerstörung der Demokratie und der
Vernichtung der Arbeiterbewegung durch die Errichtung einer Diktatur,
die den Kommunismus bekämpfen und die Interessen der Kirche respek-
tieren sollte.
Der Plan des Vatikans wurde Zug um Zug verwirklicht. Ein Jahr nach
der Wahl des Prälaten Dr. Kaas zum Parteivorsitzenden wurde Dr. Brüning,
der ehrgeizige katholische Abgeordnete, zum Fraktionsvorsitzenden der
Partei im Reichstag gewählt. Die von der Deutschnationalen Volkspartei
und dem Zentrum ausgeheckte Verschwörung nahm Gestalt an.
Beim Neujahrsempfang 1930 lernte Hindenburg den Mann kennen, der
von den Verschwörern als Kanzler aus ersehen war. Man hatte ihm gesagt,
Brüning sei der Mann, der Deutschland von der Demokratie befreien, das
Parlament ausschalten und als Diktator mit Hilfe des Artikels 48 regieren
könnte.
Hindenburg und Brüning besprachen die Einzelheiten des Plans. Brüning
machte noch einige Einwände. Er wollte die Demokratie nur schrittweise
151
beseitigen. Schließlich nahm er an, Hindenburg wiederholte das Schauspiel,
das wir schon einmal, elf Jahre zuvor, zwischen ihm und Erzberger beob-
achtet hatten. „Hindenburg traten plötzlich Tränen in die Augen, leichte
Greisentränen; er ergriff mit jener berühmten Geste, mit der er so viele
seiner Verbindungen begonnen und auch beendet hatte, Brünings Hände. ,So
viele haben mich verraten. Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie mich bis an mein
Lebensende nicht im Stich lassen werden/ " (nach Wheeler-Bennet)
Am 27. März 1930 legte der Sozialdemokrat Müller sein Reichskanzler-
amt nieder. Am Tage darauf wurde Brüning mit der Bildung eines neuen
Kabinetts beauftragt. Am 31. März ernannte Hindenburg Brüning zum
Reichskanzler. Brüning trat ein Amt an, das lediglich von einem alten
General und der Reichswehr gestützt wurde.
Der 1. April 1930 war für Deutschland ein bedeutsamer Tag. Als an
diesem Tag der neue Reichskanzler vor dem Reichstag erschien, hörte die
parlamentarische Regierungsform auf zu bestehen, ein autoritäres Regime
begann. „Meine Regierung ist gebildet worden, um in kürzest möglicher
Frist jene Aufgaben zu lösen, deren Lösung im Interesse des Reiches not-
wendig ist. Dies ist der letzte Versuch, die Erfüllung dieser Aufgabe mit
Hilfe des Reichstages in die Wege zu leiten."
Das hieß, daß der neue Kanzler das Parlament nicht um Unter-
stützung ersuchte, sondern ihm mit Auflösung drohte, falls die geforderte
Unterstützung versagt würde. Der Reichstag hatte solche Worte seit den
Tagen Bismarcks nicht vernommen. Das neue Kabinett präsentierte sich
als ein „Kabinett der Frontsoldaten". Von nun an wurde es in Deutschland
bedeutsam, ob ein Klann, der politisch tätig war, im Schützengraben gelegen
hatte oder nicht.
Der Hindenburg- Groener- Schleicher-Plan begann Gestalt anzunehmen.
Brüning machte sich an die Arbeit. Er legte dem Reichstag ein Finanz-
programm vor, das ihm den gewünschten Anlaß gab, mit dem Reichstag zu
brechen. Die Einzelheiten des Programms sind unwesentlich. Es forderte
erhöhte Militärausgaben, ungeachtet der Tatsache, daß sich der Staat in
einer außergewöhnlich schlechten Finanzlage befand, und sah eine neue
Steuer, die „Bürgersteuer", vor.
Der Reichstag bemühte sich vergebens, mit Brüning zu einer Überein-
kunft zu gelangen, und lehnte darauf einige Punkte des Programms ab.
Damit hatten Brüning und seine Hintermänner gerechnet. Noch an dem-
selben Abend entschied sich der Kanzler, die zurückgewiesenen Punkte des
Programms auf dem Weg der „Notverordnungen" in Kraft zu setzen. Die
Notverordnungen waren auf Grund des Artikels 48 der Verfassung möglich,
in dem es hieß: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die
öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird,
152
die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen
Maßnahmen treffen" und sich selbst mit diktatorischen Vollmachten aus-
statten einschließlich des Rechts, auf dem dafür vorgesehenen Weg soge-
nannte Notverordnungen zu erlassen. Der Artikel 48 sagte also klar, daß
Notverordnungen nur angewandt werden durften, wenn schwere Störungen
der inneren Ordnung oder Unruhen von gefährlichem Ausmaß zu über-
winden waren. Von all dem konnte aber in jener Zeit nicht die Rede sein.
Zwei Tage später forderte das Parlament Brünings Rücktritt. Brüning
antwortete mit der Auflösung des Reichstags. Im September fanden Neu-
wahlen statt. Nach diesen Wahlen tauchte zum erstenmal der Schatten
Hitlers bedrohlich im Parlament auf. 107 Naziabgeordnete zogen in den
Reichstag ein. Personen und Geschehnisse spielten dem parlamentarischen
Diktator in die Hände. Die Sozialdemokraten, die über 142 Sitze verfügten
und damit die stärkste Gruppe im Reichstag waren, begannen gegenüber
Brüning mit einer Politik der „Duldung", damit „nichts Schlimmeres" ge-
schehe. Es war eine selbstmörderische Politik. Die Wirtschaftskrise und
Brünings Wirtschaftspolitik taten das Ihre. Die Löhne wurden um 25 bis
30 Prozent gesenkt, aber die Lebenshaltungskosten, deren Absinken ver-
sprochen worden war, fielen nur um 10 Prozent. Die Beamtengehälter
wurden ebenfalls gekürzt, nur die Gehälter der Reichswehroffiziere wurden
nicht angetastet.
Als Brüning sein Kanzleramt antrat, gab es in Deutschland 2 Millionen
Arbeitslose; als er es abgab, war diese Zahl auf 6 Millionen gestiegen. Der
finanzielle Zusammenbruch wurde durch eine freiwillig auferlegte Wirt-
schaftsblockade vertieft. Ohne dieses politische und wirtschaftliche Chaos
hätten viele Deutsche nie daran gedacht, für Hitler zu stimmen. Das Chaos
konnte Hitler nur recht sein: je größer das Debakel, desto stärker seine
Anhängerschaft. Vor diesem dunklen Hintergrund vervielfachten zweifellos
Hitlers Versprechungen von einer helleren Zukunft die Zahl seiner An-
hänger.
Brüning plante eine Reihe wirtschaftlicher und politischer Maßnahmen,
mit deren Hilfe er die Reparationszahlungen herabzusetzen und gleich-
zeitig die Armee zu bewaffnen hoffte. Im Frühjahr 1932 erklärte er, daß
Deutschland, weil es völlig entwaffnet sei, das „gesetzliche und moralische
Recht habe", von allen anderen Ländern ebenfalls die allgemeine Abrüstung
zu verlangen. Er spielte sich vor der Welt als Anhänger der Abrüstung auf
und begann gleichzeitig insgeheim aufzurüsten — ein politischer Trick, der
unter <leui*ehe» Politikern sehr beliebt ist. Ein beredter Beweis dafür war
unter anderem, daß während Brünings Kanzlerschaft dem Nobelpreisträger
Carl von Ossietzky der Prozeß gemacht wurde, weil er aufgedeckt hatte,
welche geheimen militärischen Absichten die Regierung mit dem Aufbau
153
der zivilen Luftfahrt verband. Ossietzky wurde wegen „Verrats militärischer
Geheimnisse" zu einigen Jahren Gefängnis verurteilt.
Brüning und sein Reichswehrminister arbeiteten Hand in Hand bei der
geheimen deutschen Wiederbewaffnung. Er und seine militärischen Freunde
legten besonderes Gewicht auf die Luftstreitkräfte. Flugzeugfirmen wie
Junkers und Heinkel erhielten beträchtliche staatliche Subventionen. Es
gab bereits 44 illegale Ausbildungslager für Militärflieger, und in den Tre-
soren lagen bis in alle Einzelheiten ausgearbeitete Pläne für die Bombardie-
rung der Maginotlinie und für Luftangriffe auf London und Paris. Leiter
der „Luftfahrtabteilung" im Verkehrsministerium war unter Brüning
der Hauptmann Brandenburg - derselbe Brandenburg, der 1 1 Jahre später
maßgebend an der Leitung der Luftwaffenangriffe auf London beteiligt
war.
Auf politischem Gebiet legte Brüning, der „Hungerkanzler", wie die
Massen ihn nannten, eine ungewöhnliche Geschäftigkeit, vor allem hinsicht-
lich der emporkommenden Naziführer, an den Tag. Er sah in Hitler keines-
wegs seinen Feind, im Gegenteil, er hielt ihn für seinen Verbündeten im
Kampf gegen Demokratie und Kommunismus .und für die Wiederbewaff-
nung Deutschlands.
Unmittelbar nach den Wahlen im September 1930 führte Göring lange
Geheimbesprechungen mit Minister Treviranus. Zur gleichen Zeit wurde
Röhm, der Führer der SA, von General von Schleicher empfangen; sie ver-
handelten über Fragen der regulären und irregulären Armee und kamen,
wie später bekannt wurde, überein, die Struktur der nazistischen Privat-
armee zu verändern.
Nach diesem Vorspiel traf sich Brüning im Oktober 1930 mit Hitler. Der
Inhalt dieses Gesprächs blieb unbekannt. Man vermutete, daß Brüning mit
Hitler vereinbarte, eine Reihe Naziminister in sein Kabinett aufzunehmen.
Da man sich aber später nicht über die Anzahl dieser Ministerposten einigen
konnte, wurde das Abkommen nicht verwirklicht.
Hitler bestritt später ebenso wie Brüning, jemals ein solches Abkommen
geschlossen zu haben. Als aber Brüning eines Tages auf einer katholischen
Versammlung von Nazitrupps belästigt wurde, drohte er, einiges von dem
zu enthüllen, was Hitler ihm anvertraut hatte. Die Nazis antworteten, sie
würden dann einiges von dem ausplaudern, was Brüning damals zu Hitler
gesagt habe. Aus Angst, sich gegenseitig zu kompromittieren, schwiegen
beide weiterhin über den Inhalt ihrer berühmten ersten Unterredung. An-
fang September 1931 nahmen die beiden Parteiführer ihre Verhandlungen
wieder auf. Brüning bedankte sich zu dieser Zeit öffentlich bei Hitler und
seinen Leuten für die „Höflichkeit", mit der sie ihn trotz aller Kritik be-
handelt hätten.
154
Hindenburgs Amtszeit näherte sich ihrem Ende. Brüning brauchte Hilfe,
um die Wiederwahl Hindenburgs zu sichern. Er wollte Hindenburg ent-
gegen der Verfassung durch den Reichstag wiederwählen lassen. Dadurch
gelangte Hitler in eine Schlüsselstellung, denn ohne die Zustimmung der
Nazis, die 105 Sitze im Reichstag hatten, war Brünings Vorhaben zum
Scheitern verurteilt. Brüning kannte sowohl Hitlers Programm als auch
seine verborgenen Absichten. Auch die Öffentlichkeit hatte damals durch die
sogenannten Boxheimer Dokumente Einzelheiten über die von den Nazis
ins Auge gefaßte Terrorpolitik erfahren.
Jedem aufmerksamen Beobachter wurde es täglich klarer, daß das Kabi-
nett Brüning trotz aller äußerlichen Gegensätze in engem Einvernehmen
mit Hitler stand. Ende 1931 erschien ein hoher preußischer Beamter, ein
Demokrat, bei Innenminister Groener und bat ihn um Unterstützung bei
der Organisierung einer Revolte innerhalb der SA. Groener antwortete,
Hitler sei ein Mann im Sinne der Gesetzlichkeit, der versprochen habe, die
Verfassung zu respektieren. Man müsse ihn gegen all die anderen Hitz-
köpfe unterstützen. Zur Verwunderung des Fragestellers fügte er hinzu:
„Hitler wird sicherlich sein Wort halten." Um seiner Feststellung mehr
Gewicht zu verleihen, machte er den Beamten aufmerksam, daß das nicht
nur seine persönliche Meinung, sondern auch die des Reichskanzlers und
des ganzen Kabinetts sei.
Bevor Brüning versuchte, mit Hitler in der Frage der Wiederwahl Hin-
denburgs unmittelbaren Kontakt aufzunehmen, traf er eine Reihe vorberei-
tender Maßnahmen. Er sprach sich häufig lobend über ihn aus und bemühte
sich, ihm in jeder Weise den Weg zu ebnen. Schließlich arrangierte er ein
Treffen Hindenburgs mit Hitler, ähnlich wie andere Leute seinerzeit das
erste Zusammentreffen des Generalfeldmarschalls mit ihm zustande ge-
bracht hatten. Vorher bat er den katholischen Großindustriellen Thyssen,
einen der großzügigsten Finanziers der Hitlerpartei, Hitler nahezulegen, auf
den Generalfeldmarschall einen guten Eindruck zu machen und sich im Ge-
spräch mit ihm bezüglich seiner politischen Pläne Mäßigung aufzuerlegen.
Die Zusammenkunft mit dem Generalfeldmarschall hatte Erfolg. Brü-
ning erklärte sich bereit, nach zwölf Monaten zurückzutreten, um einem
Kabinett mit Nazis in den Schlüsselstellungen Platz zu machen. Als Gegen-
leistung sollte Hitler die Wiederwahl Hindenburgs unterstützen und Kon-
kordatsverhandlungen mit dem Vatikan beginnen.
Hitler nahm das Angebot an. Brüning begründete seine Bitte um zwölf-
monatigen Aufschub damit, daß der Völkerbund Deutschland keine Zu-
geständnisse in der Reparationsfrage machen würde, wenn die Nazis sofort
in die Regierung einträten. Brüning hoffte die völlige Aufhebung der
Reparationszahlungen zu erreichen. Damit überzeugte er Hitler.
155
Nach der Zusammenkunft erklärte Hitler, Brüning habe ihn „tief beein-
druckt". Wir wissen heute, was ihn so „beeindruckt" hatte. Das waren ein-
mal Brünings Pläne zur Täuschung der Alliierten, zum anderen die mili-
tärischen Vorhaben, die Brüning im Auge hatte, und schließlich das enorme
Aufrüstungsprogramm, das der Katholik Brüning unterstützte. Der Nazi-
statthalter und frühere Freikorpsgeneral Ritter von Epp bezeugte dies, als
er später einmal erklärte, daß für Hitlers Entscheidung die „Wiederbewaff -
nungspläne des Reichskanzlers" bestimmend gewesen seien.
Brüning hielt Prälat Kaas ständig über seine Verhandlungen mit Hitler
auf dem laufenden, und Dr. Kaas berichtete dem Papst. Der Vatikan be-
auftragte Brüning, sicherzustellen, daß die Nazis keine Ränke gegen die
„wahre Religion" schmiedeten.
Trotz der Anfangserfolge führten diese Verhandlungen nicht zu dem
von Dr. Brüning gewünschten Ziel. Zu der entscheidenden Besprechung mit
Hitler im Januar 1932 erschien Brüning mit Groener und von Schleicher,
Hitler brachte den SA- Stabschef Röhm mit, den Führer der radikalsten
Gruppe unter den Nazis. Die Nazis lehnten, ebenso wie die Deutschnatio-
nale Volkspartei, Brünings Angebot ab. Brüning wandte sich darauf an die
Linksparteien. Er hatte Erfolg und überzeugte die Sozialdemokraten von
der Notwendigkeit, Hindenburg wiederzuwählen und einen republika-
nischen Block gegen die Rechtsparteien zu bilden. Er köderte die Sozial-
demokraten mit der Losung: „Wählt Hindenburg und ihr schlagt Hitler!"
Die Sozialdemokraten mit ihren Millionen Stimmen sicherten die Wieder-
wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten.
Brüning war unterdessen eifrig am Werk, die Republik zu zerstören und
die Monarchie wiedereinzuführen. Er handelte dabei stets in Übereinstim-
mung mit der Kirche. Seine Feindschaft gegen jede Art von Volksfront-
regime und seine Vorliebe für monarchistische oder autoritäre Staatsformen
waren tief in ihm verwurzelt.
Dr. Brüning hatte als Reichskanzler einen feierlichen Eid auf die Wei-
marer Verfassung geleistet, die mit den Worten begann: „Das Deutsche
Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." Trotzdem
arbeitete er in seiner ganzen Amtszeit als Reichskanzler am Sturz der Repu-
blik, er fühlte sich ihr nicht verbunden. Drei Dinge bestimmten sein Den-
ken und Handeln: sein Gewissen als Katholik, das von ihm die Wiederher-
stellung der Monarchie verlangte — denn „die Autorität kommt nicht vom
Volk", wie es die katholische Kirche wiederholt formulierte — , sein über-
steigerter Nationalismus und seine Furcht vor den Kommunisten, deren
Vormarsch er aufzuhalten wünschte.
Brüning führte lange Gespräche mit Hindenburg, mit den Führern der
Rechtsparteien und mit dem Kronprinzen. Nach seiner Vorstellung sollte
156
der Reichstag Hindenburg mit Zweidrittelmehrheit zum Reichsregenten
wählen - das wäre mit Hilfe einer Rechtskoalition möglich gewesen — , und
nach Hindenburgs Tod sollte der zweite Sohn des Kronprinzen Kaiser werden.
Der Vatikan war darüber informiert, bevor Brüning die ersten Schritte
tat. Kardinal Pacelli galt auch nach seiner Rückkehr aus Deutschland im
Vatikan als Autorität in deutschen Fragen. Er hatte dem Plan seinen Segen
gegeben. Der Vatikan stellte Brüning lediglich die Bedingung, in dem Kom-
plott nicht offen aufzutreten; er fürchtete internationale Komplikationen.
Sobald erst die Monarchie wiederhergestellt sei, wollte der Vatikan nicht
zögern, ihr durch die Geistlichkeit, die Gläubigen und die Zentrumspartei
jede Unterstützung zu gewähren. Brüning und die anderen Verschwörer
nahmen die Bedingung an. Bei der Verwirklichung des Planes sollte sorg-
fältig vermieden werden, eine Verbindung zu Brüning, zum Vatikan oder
zur Zentrumspartei sichtbar werden zu lassen.
Auch dieser Plan gelangte nicht zur Ausführung; Hindenburg war da-
gegen, weil er ihn als unloyal gegen den alten Kaiser empfand. Eines aber
hatte Brüning bei der Vorbereitung der Verschwörung erreicht: Immer
mehr Schlüsselstellungen im Staat waren durch Generale, Großindustrielle,
Junker und extreme Nationalisten besetzt worden. Die Militaristen hatten
wieder die Macht in Deutschland. Das Zentrum, vor allem aber Brüning,
hatte ihnen die Steigbügel gehalten.
Manche behaupteten, Brüning habe die Wiederherstellung der Monarchie
gewollt, um Hitlers Machtergreifung zu verhindern. Die Tatsachen bewei'
sen anderes. Brünings ursprünglicher Plan, dem Hitler und Hugenberg, der
Führer der Deutschnationalen, zugestimmt hatten, war die Zerstörung der
Republik, die Wiederherstellung der Monarchie und die Bildung einer Re-
gierung ausschließlich aus Vertretern faschistischer und halbfaschistischer
Parteien und Gruppierungen, aus Nazis, Deutschnationalen und rechten
Zentrumspolitikern. Um den letzten Punkt dieses Programms durchzusetzen,
versprach Brüning, daß er zurücktreten und Hugenberg und Hitler den
Weg freigeben werde, sobald die ersten beiden Punkte verwirklicht seien.
Er äußerte sich darüber zu Hindenburg:
„Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich zurücktreten werde, sobald der Punkt erreicht
ist, an dem die Umwandlung der Republik in eine Monarchie gesichert scheint. Dann
können Sie eine Regierung aus den Parteien der Rechten bilden."
Der Papst und Kardinal Pacelli waren über diese Vorgänge ständig auf
dem laufenden. Sie verlangten Sicherheiten, daß eine wirklich starke Re-
gierung das Heft in die Hand nahm, die für die Sozialdemokraten keinen
Platz ließ, und daß die kirchlichen Interessen respektiert würden. Die Ver-
handlungen wurden in diesem Stadium vor allem von Dr. Kaas und dem
päpstlichen Kammerherrn Franz von Papen geführt.
157
Um das gesteckte Ziel zu erreichen, mußte die sozialdemokratische Vor-
herrschaft in Preußen gebrochen werden. Dieses Projekt hatte bereits feste
Formen angenommen, bevor Brüning die Sozialdemokratische Partei für
die Wiederwahl Hindenburgs benötigte. Es schlummerte dann jedoch nach
der Präsidentenwahl einige Wochen lang in Hindenburgs Schreibtisch. Es
wurde versucht, ein starkes Kabinett aus Katholiken und Nazis zu bilden.
Prälat Kaas bemühte sich, über den katholischen Naziführer Gregor Strasser
Hitler zu einem Übereinkommen zu bewegen. Aber Hitler änderte auch dies-
mal im letzten Augenblick seine Haltung. Er dachte nicht daran, mit
Brüning weiter zusammenzuarbeiten, er wußte, daß der katholische Kanzler
politisch bereits ein toter Mann war. Am 30. Mai 1932 entließ Hindenburg
den Kanzler Brüning auf Anraten der Generale und anderer reaktionärer
Kräfte, die hinter den Kulissen eifrig am Werk waren. Sie hatten sich ver-
schworen, die Rechte des Parlaments abzubauen und die Diktatur zu er-
richten. Am 20. Juli wurde die sozialdemokratische Preußenregierung
Braun -Severing durch einen Staatsstreich abgesetzt. Das erste Ziel auf
diesem Wege war erreicht.
Die Reichstagswahl im Juli desselben Jahres versetzte dem Vatikan einen
solchen Schock, daß sich der Papst und Kardinal Pacelli endgültig entschlos-
sen, den Kräften ihre Unterstützung zu leihen, die nach ihrer Meinung
allein in der Lage waren, Deutschland von dem Weg nach links abzuhalten.
Die Zeit der alten katholischen Partei war unwiderruflich dahin. Nur dra-
stische Maßnahmen konnten noch helfen. Von mehr als 35 Millionen ab-
gegebenen Stimmen hatten die Nazipartei 1 3,7 Millionen, das Zentrum (ein-
schließlich der Bayrischen Volkspartei) 5,7 Millionen und die Sozialdemo-
kraten und Kommunisten zusammen 13,2 Millionen Stimmen erhalten.
Dieses Ergebnis veranlaß te Papst Pius XI. und seinen Kardinalstaatssekretär
Pacelli, sich auf Hitler festzulegen.
Die Erzfeinde der katholischen Kirche waren in Deutschland auf dem
Vormarsch. Falls nicht eine eiserne Hand die Macht ergriff und diesen Vor-
marsch stoppte, würde es zu spät sein. Wer war besser dazu geeignet als Hit-
ler? Der Vatikan warf von nun an sein ganzes Gewicht in die Waagschale,
um Hitler an die Macht zu bringen. Hindenburg wandte sich unmittelbar
nach seiner Wiederwahl schroff gegen die Sozialdemokratie, unbekümmert
darum, daß er ohne ihre Stimmen nie gewählt worden wäre, und verfolgte
einen scharfen Rechtskurs, der schließlich mit der Inthronisation Hitlers
endete.
Das neue Kabinett unter General von Schleicher stand im Hintergrund
schon bereit, als Brüning noch im Amt war. Aber die Verschwörer wurden
sich wieder einmal nicht einig. Die Generale wünschten einen Mann, der
ihnen die Voraussetzungen schuf, bei der ersten besten Gelegenheit
158
einzugreifen. Sie schlugen wieder einen Katholiken vor, Franz von Papen.
Aber der Vatikan wollte, daß Hitler und Hugenberg die Macht übernäh-
men. Prälat Kaas, der Führer der Zentrumspartei, erhielt daher Weisung,
Papen zu veranlassen, das Amt nicht anzunehmen. Papen versprach, dies
zu tun. Als aber Hindenburg ihn ein zweites Mal bestürmte, nahm er an.
Kaas und der Vatikan warfen ihm vor, sein Versprechen gebrochen zu haben.
Von Papen gab darauf eine typisch jesuitische Antwort: Das erstemal habe
der Reichspräsident ihm als einem Mitglied der Zentrumspartei die Kanzler-
schaft angeboten, das zweitemal jedoch ihm persönlich.
Franz von Papen entstammte einem westfälischen, katholischen Adels -
geschlecht. Er war reich und übte, obgleich er überall wegen seines
Charakters verrufen war, großen Einfluß auf den engsten Führungskreis
der Zentrumspartei und des Vatikans aus. Die „Germania", das wichtigste
Presseorgan des deutschen politischen Katholizismus, war einige Zeit zuvor
von ihm aufgekauft worden.
Die katholischen Großindustriellen, die Aristokratie und die hohen Staats-
beamten unterstützten den neuen Kanzler aus ganzem Herzen. Sie wußten,
daß seine Ernennung der letzte Schritt zu dem von ihnen so lange erstrebten
Ziel war. Trotz der Gegenmanöver des Prälaten Kaas und des Kardinals
Pacelli hatten sich die Dinge zur rechten Zeit ganz in ihrem Sinne ent-
wickelt. Die Mitgliedschaft der Zentrumspartei, die zu einem großen Teil
aus katholischen Arbeiterfamilien bestand, dachte anders darüber. Sie
wandte sich gegen die neue Parteiführung, gegen ihre Politik und gegen
den neuen Kanzler, ihre Proteste unterschieden sich wenig von denen der
Sozialdemokraten. Der oppositionellen Gruppe gelang es zeitweilig, die
Führung der Partei an sich zu reißen; aber die hohen Herren maßen dem
keine Bedeutung bei, da das Schicksal der Partei ohnedies besiegelt war.
Nur der kleine Kreis der Verschwörer in Berlin und ein noch kleinerer Kreis
im Vatikan wußten, welche Hintergründe die Kanzlerschaft Papens hatte.
Es ging um den alten Konflikt zwischen den beiden Tendenzen innerhalb
der Zentrumspartei, dem auch Brüning zum Opfer gefallen war. Die Ver-
treter des „harten" Kurses wurden von Papen angeführt. Sie hatten die
Generale von der Notwendigkeit überzeugt, bei Hindenburg Brünings Ent-
lassung durchzusetzen. Die beiden einander befehdenden Lager in der
Führung der deutschen Katholiken waren sich nicht einig, ob es zweckmäßig
sei, die Zentrumspartei aufzulösen, wie es vom Papst gefordert wurde. Sie
standen vor der Alternative, die Partei weiterbestehen zu lassen und ihr
einen Platz in einer Koalition mit den Nazis und den Deutschnationalen
unter Hitler zuzuweisen oder das Todesurteil der Partei zu unterschreiben
und mit Hitler ein Abkommen zur Wahrung der vatikanischen Interessen
in Deutschland zu schließen.
159
Brüning trat dafür ein, die Zentrumspartei in eine Koalition mit den
Nazis und den Deutschnationalen zu führen. Er hatte den Vatikan mehr als
einmal verständigt, daß es seiner Meinung nach falsch sei, die Zentrums-
partei, die älteste, mächtigste und beständigste katholische Partei in Europa,
einfach von der politischen Bühne verschwinden zu lassen. Er hatte ver-
sprochen, zurückzutreten und Hitler den Weg frei zu machen, wenn man
der Zentrumspartei gestattete, weiter ihre Rolle im politischen Leben Deutsch-
lands zu spielen. Auch nach seiner Entlassung informierte er Kaas und den
Vatikan, daß er bereit sei, einen Ministerposten in einem neuen Kabinett
unter Hitler zu übernehmen. Er lebte ebenso wie Hugenberg in der Illusion,
Hitler würde sie als Gleichberechtigte behandeln. Brünings Standpunkt
wurde von Prälat Kaas und den anderen Katholiken, die dem päpstlichen
Plan zugestimmt hatten, nicht geteilt. Sie erhielten Weisung von Kardinal
Pacelli, zu handeln, bevor „unvorhergesehene Ereignisse unsere Pläne
durchkreuzen". Kaas und seine Mitverschworenen setzten darauf ihre Ku-
lissenmaschinerie in Bewegung, und Brüning, der bei den Massen des Vol-
kes bereits in Mißkredit geraten war und sich mit der Clique, die ihn an die
Macht gebracht hatte, überworfen hatte, wurde entlassen.
Papens Kanzlerschaft war der Anlaß für eine Flut von Intrigen, in die
alle verwickelt waren: die Generalsgruppe, die Führer der Rechtsparteien,
die Zentrumspartei, Prälat Kaas, von Papen, der Vatikan und Hitler. Der
Vatikan, Dr. Kaas und von Papen arbeiteten vereint daran, Hitler ohne
ernsthafte Widerstände an die Macht zu bringen. Als Papens Nachfolger,
General von Schleicher, aus persönlichen Motiven drohte, bestimmte finan-
zielle Transaktionen, die den Vatikan und hohe Katholiken belasteten, und
einige Korruptionsfälle, in die Hindenburg und von Papen verwickelt waren,
zu enthüllen, überzeugte Papen den alten Reichspräsidenten, daß der Zeit-
punkt gekommen sei, Hitler die Kanzlerschaft anzutragen.
Anfang Januar 1933 hatte Papen im Haus eines Kölner Bankiers eine
Zusammenkunft mit Hitler. Er erklärte ihm, daß sie von nun an offen
zusammenarbeiten könnten; die Männer und die Maschinerie, die ihn an
die Macht bringen sollten, ständen bereit, und der Vatikan werde ihn unter-
stützen. Man erwarte als Gegenleistung von ihm, daß er die Kommunistische
und die Sozialdemokratische Partei vernichte und mit dem Vatikan den
Abschluß eines Konkordats vorbereite. Hitler sagte zu. Es wurde beschlossen,
daß Hitler Kanzler und von Papen Vizekanzler werden sollte.
Am 30. Januar 1933 berief Hindenburg auf Papens Vorschlag Hitler,
einen Katholiken von Geburt, zum Reichskanzler. Einige Monate später er-
klärte der päpstliche Kammerherr von Papen auf einer Katholikenversamm-
lung in Köln: „Die Vorsehung hatte mich dazu bestimmt, bei der Geburt der
Regierung der nationalen Erneuerung wesentliche Dienste zu leisten."
160
kapite L xi Nazismus, Vatikan und zweiter Weltkrieg
Hitler und die katholische Partei - Der Vorsitzende der katholischen Partei unterstützt
Hitler — Hitler bereitet sich auf die kommenden Ereignisse vor - Die Verantwortung des
Vatikans - Der Preis der Hilfeleistung - Das Konkordat - Die katholische Kirche und
Nazideutschland nach der Unterzeichnung des Konkordats - Das Rheinland und die
katholische Kirche — Die wahren Ursachen der Feindseligkeit zwischen der katholischen
Kirche und dem Nazismus. Die Proteste gegen die Nazis und die Interessen der Kirche.
Kein Protest der Kirche gegen den Nazismus als politisches System - Die Erklärungen des
Papstes und der deutschen Hierarchie zugunsten des Naziregimes - Warum Hitler der
katholischen Kirche feindselig gegenüberstand - Innen- und außenpolitische Ziele —
Die Mönchsprozesse — Der antikommunistische Kreuzzug — Der zweite Weltkrieg —
1939: das Schicksalsjahr für Deutschland, den Vatikan und Europa - Berlins geheime
Botschaft an den Vatikan — Der Papst wußte von Hitlers Plänen — Die Zusammenarbeit
zwischen dem Papst und Hitler — Der Papst stellt Hitler drei Bedingungen — Der Fehl-
schlag. Der zweite Weltkrieg bricht aus - Die Bemühungen des Papstes, den Krieg mit
dem Westen zu vermeiden — Die Verbindungen des Vatikans mit reaktionären katholi-
schen Elementen in Frankreich — Ribbentrops Besuch im Vatikan — Der Überfall auf
Norwegen — Hitler und Mussolini am Brenner, Vorbereitung des Angriffs auf den
Westen — Die Verbesserung der Beziehungen zwischen dem Vatikan und Hitler in inner-
deutschen Angelegenheiten — Der Vatikan glaubt an den Sieg Hitlerdeutschlands — Der
Vatikan beginnt Verhandlungen mit Hitler, um die Mitarbeit der katholischen Kirche bei
der Errichtung der „Neuen Ordnung** in Europa zu sichern - Ein neues Konkordat, das
auch die von Deutschland besetzten Länder einschließt, wird vorbereitet — Die deutsche
Hierarchie unterstützt den „Großen Führer" - Deutsche Kardinäle und Bischöfe prophe-
zeien Hitlers Endsieg und bieten Hitler ihre Mitarbeit beim Aufbau „Großdeut schlands u
an - Die große Neuigkeit - Der heilige Kreuzzug gegen den „Aufstand der Steppe iC - Die
Allianz zwischen Hitler und dem Vatikan für die künftige „Gleichschaltung Sowjetruß-
lands" - Die katholische Kirche hetzt gegen die Sowjetunion - Erklärungen deutscher
Kardinäle und Bischöfe - Die katholische Kirche sendet Hilfe für die Naziarmeen der
Ostfront. Katholische antikommunistische Legionen - Die Pläne des Vatikans für die
Reorganisierung der Welt innerhalb der nazistischen „Neuordnung" - Der Rückzug der
Naziarmeen, die ersten Friedensfühler des Vatikans - Die Weigerung der Alliierten -
Roosevelt sendet als seinen persönlichen Vertreter Myron Taylor zum Vatikan, um dem
Papst zu versichern, daß die Sowjetunion in Schach gehalten wird - Der Alptraum des
Vatikans - Roosevelt entsendet einen zweiten persönlichen Botschafter zum Vatihan,
Kardinal Spellmans Mission in Rom - Der Vatikan, Großbritannien und die USA gegen
die Sowjetunion - Der Papst schlägt den USA und Großbritannien die Erhaltung des
italienischen Faschismus und des deutschen Nazismus als „Bollwerk gegen den Bolsche-
wismus" vor - Der erste Erfolg der neuen vatikanisch-anglo-amerikanischen „Schatten-
politik u - Mussolinis Sturz - Die Niederlage Nazideutschlands - Die Nachwirkungen*
Hitler machte dem politischen Katholizismus in Deutschland vorerst ein
Ende. Wenige Tage nach der Machtübernahme forderte er bereits ein
„Ermächtigungsgesetz", das ihm auf legalem Weg diktatorische Vollmachten
geben sollte. Hierzu benötigte er im Reichstag eine Zweidrittelmehrheit.
Die Mandate der Kommunistischen Partei hatte er nach den Wahlen
11 MS59
161
am 5. März verfassungswidrig aufgehoben. Die Zentrumspartei war jetzt
das Zünglein an der Waage. Hitler begann daher um die Stimmen, des Zen-
trums zu werben und führte dazu im März 1933 Gespräche mit seinen
maßgebenden Führern, Brüning und Prälat Kaas. Beide informierten den
Vatikan laufend über den Gang der Verhandlungen.
Brüning stellte Hitler unter anderem die Bedingung, eine schriftliche
Erklärung abzugeben, daß er trotz des „Ermächtigungsgesetzes*' das Veto-
recht des Reichspräsidenten beachten werde, und erläuterte ihm, welche
seiner außenpolitischen Bestrebungen er zu unterstützen bereit sei. Prälat
Kaas erhielt von Hitler das feste Versprechen, in nächster Zukunft mit dem
Vatikan ein Konkordat abzuschließen, und führte so die jahrelangen Be-
mühungen des Vatikans zum Erfolg. Hitler war bereit, der katholischen
Kirche im neuen Reich eine privilegierte Stellung einzuräumen, falls der
Vatikan ihm die Stimmen des Zentrums sicherte. Der Vatikan willigte ein.
Am 24. März 1933 tagte der Reichstag in der Krolloper in Berlin. Ab-
gesehen von einer kleinen Opposition stimmte das Zentrum unter Führung
von Brüning und Kaas für Hitler. Sie hatten damit das Todesurteil des
deutschen Parlaments unterzeichnet und den Selbstmord der katholischen
Partei eingeleitet.
Zwei Monate später erhielt Hitler vom Reichstag ein Vertrauensvotum,
dem nicht nur die Nazis, die Deutschnationalen und das Zentrum, sondern
sogar die Sozialdemokraten zustimmten.
Herr von Papen hatte unterdessen mit dem Heiligen Stuhl in Rom die
vorbereitenden Verhandlungen über das Konkordat aufgenommen. Gleich-
zeitig besprach Dr. Kaas in Rom die Mittel und Wege, wie das Urteil des
Vatikans über die katholische Partei vollstreckt werden könnte, ohne einen
Aufruhr unter den deutschen Katholiken hervorzurufen. Kaas bezeichnete in
einer öffentlichen Erklärung Hitler als den „Träger hoher Ideale", der
alles Erforderliche tun werde, um die Nation vor einer Katastrophe zu
bewahren.
Hitler hielt sein Versprechen, als er sah, daß der Vatikan auf seiner Seite
stand. Am 23. März 1933 erklärte er: „Die nationale Regierung sieht in
den beiden christlichen Konfessionen wichtigste Faktoren der Erhaltung
unseres Volkstums. Sie wird die zwischen ihnen und den Ländern abge-
schlossenen Verträge respektieren; ihre Rechte sollen nicht angetastet wer-
den." (Zitiert nach Kreuz und Hakenkreuz von J. Neuhäusler, München,
Verlag Katholische Kirche Bayerns, 1946, S. 11)
Der Vatikan unterstützte zu dieser Zeit die Nazis aus vollem Herzen. Der
Papst sandte an die Fuldaer Bischofskonferenz die Weisung, alle Geist-
lichen zu instruieren, daß sie Hitler unterstützten. Im Annual Register
(1933, S. 169) heißt es: „Der massenhafte Übergang der katholischen
162
Mittelschichten in West- und Süddeutschland auf die Seite der Nazipartei
hatte die Macht der alten katholischen Mittelstandsparteien gebrochen. Die
Wahlstatistiken zeigten zwar, daß die Zahl der katholischen (und jüdischen)
Stimmen nicht zurückgegangen war, aber vier Millionen mehr Wähler als
sonst hatten sich an der Wahl beteiligt. Viele Katholiken hatten lange ge-
zögert, ob sie überhaupt wählen sollten. Sie haßten zwar Juden und Sozia-
listen, wagten aber nicht, den Nazis ihre Stimme zu geben. Doch aus Rom
kam der Befehl, allem Streit mit den Nazis ein Ende zu bereiten." (Nach der
katholischen Revue de Deuz Mondes: Le Catholicisme et la politique mon-
diale, vom 15. Januar 1935.)
Einer der ersten Schritte Hitlers nach seiner Machtübernahme war die
Auflösung des Reichstags. Wenige Tage vor den Neuwahlen ließ er das
Reichstagsgebäude in Brand stecken, um Millionen abseits stehender Deut-
scher zum Kampf gegen die Kommunisten zu entflammen und sich einen
Vorwand für das rücksichtslose Vorgehen gegen die Kommunisten zu
schaffen.
Den nichtnazistischen Parteien wurden die Möglichkeiten, sich im Wahl-
kampf öffentlich an breite Schichten der Bevölkerung zu wenden, stark be-
schränkt. Ihre Versammlungen wurden überfallen, viele ihrer Zeitungen
verboten. Unter diesen Bedingungen ging Deutschland am 5. März 1933 zur
Wahl. Hitlers Partei erhielt, nicht zuletzt mit Hilfe vieler Katholiken, die
meisten Stimmen und Sitze.
Bevor Hitler das Konkordat unterzeichnete, forderte er vom Vatikan, sich
nicht einzumischen, wenn er gegen Kommunisten, Sozialisten, Juden und
selbst gegen gewisse katholische - vorwiegend linke — Organisationen hart
durchgriffe. Der Vatikan stimmte zu. Er schwieg, als Hitler seinen Feinden,
die „zufällig" auch die Feinde der katholischen Kirche waren, noch brutaler
an die Gurgel ging und die erschütternden Verfolgungen von Juden, Kom-
munisten und Sozialisten verschärfte.
Im März 1933 hatte Hitler bereits die gesamte oppositionelle Presse aus-
geschaltet; sämtliche kommunistischen Zeitungen waren verboten worden,
und von den 200 sozialdemokratischen Zeitungen durften 175 nicht
mehr erscheinen. Der Vatikan sah diesem Schauspiel mit unverhohlener
Freude zu.
Die Pogrome, die überall in Deutschland stattfanden, schockierten die
ganze zivilisierte Welt und riefen Proteste in allen Ländern hervor. Nur
die Institution, die behauptete und behauptet, die moralische Autorität der
ganzen Welt zu sein, fand kein Wort zur Verteidigung der Verfolgten und
zur Verdammung der nazistischen Untaten. Es war die gleiche „moralische
Autorität", die wenige Jahre später das spanische Volk zum Ungehorsam
gegen seine Regierung aufrief und unter dem Motto eines „heiligen
163
Kreuzzugs gegen den Kommunismus" in Mexiko einen bewaffneten Putsch
inszenierte.
Während Hitler mit seinem Terrorregime die katholischen Organisationen
gleichschaltete, stieg infolge des Drucks der Geistlichkeit die Zahl der
Katholiken, die in die Nazipartei und in nazistische Organisationen ein-
traten, sprunghaft an. Obwohl die örtlichen Stellen der Nazipartei ziemlich
unsanft mit den Katholiken umgingen, rührte sich die katholische Partei
nicht. Sie hatte die katholische Hierarchie gegen sich und wußte, was
zwischen Hitler und dem Vatikan vereinbart worden war. In ihrer Ver-
zweiflung verließen sich die Zentrumsleute völlig auf Brüning, dessen
Opposition gegen die Selbstauflösungsorder des Papstes an das Zentrum
ihnen bekannt war. Brüning hoffte, den Vatikan von der Existenzberech-
tigung der Partei überzeugen zu können, wenn er ihm bewies, daß der
politische Katholizismus mit Hilfe der Zentrumspartei einen Druck auf
Hitler ausüben könne und daher imstande sei, Deutschland zusammen mit
den Nazis zu regieren. Brüning bat Hitler um eine Aussprache. Ende
Juni 1933 verabredeten beide eine neue Zusammenkunft. Aber Hitler sagte
kurz vorher ab. Aus Rom war die Nachricht eingetroffen, daß der Vatikan
und Papen die Konkordatsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen hatten.
Das Schicksal der Zentrumspartei war damit endgültig besiegelt.
Die Zentrumspartei, die Partei, die im Kampf gegen Bismarck gesiegt
hatte, in der Hitler einen seiner größten Feinde sah, erhielt vom Vatikan die
Weisung, sich selbst aufzulösen und so den Nazis den Weg zur absoluten
Diktatur freizugeben. Am 5. Juli 1 933 veröffentlichte die Partei den Beschluß
über ihre Selbstauflösung. Er lautete:
„Die politische Umwälzung hat das deutsche Staatsleben auf eine völlig neue Grund-
lage gestellt, die für eine bis vor kurzem mögliche parteipolitische Betätigung keinen
Raum mehr läßt. Die deutsche Zentrumspartei lost sich daher im Einvernehmen mit
dem Herrn Reichskanzler Hitler mit sofortiger Wirkung auf." (Zitiert nach Germania
vom 6. Juli 1935)
Viele Katholiken protestierten gegen diesen Beschluß und kritisierten das
Verhalten des Vatikans. In einer halboffiziellen Erklärung versuchte der
Vatikan die erregten Gemüter zu beschwichtigen:
„Der Entschluß der Regierung des Reichskanzlers Hitler, die katholische Partei aus-
zuschalten, traf sich mit dem Wunsch des Vatikans, sich künftig nicht mehr mit Hilfe
politischer Parteien am politischen Leben zu beteiligen, sondern die Tätigkeit der Gläu-
bigen auf die Organisationen der Katholischen Aktion, außerhalb jeden parteipolitischen
Rahmens, zu beschränken." Und Staatssekretär Pacelli erklärte : „Angesichts dessen, daß
die Katholiken als politische Partei aus dem öffentlichen Leben Deutschlands ausge-
schlossen und dadurch ihrer politischen Vertretung beraubt sind, ist es mehr denn je
notwendig, daß sie in dem Pakt zwischen dem Heiligen Stuhl und der nationalsozialisti-
schen Regierung die Garantien finden, die ihnen zumindest die Sicherheit geben, sich ihre
Stellung im Leben der Nation zu erhalten. Der Heilige Stuhl sieht dies nicht nur als eine
164
Verpflichtung für sich selbst an, sondern auch als eine schwerwiegende Verantwortung
der deutschen Katholiken, damit diese nicht den Vatikan rügen können, sie in einem
Augenblick der Krise im Stich gelassen zu haben."
Als Prälat Kaas, der Führer der Zentrumspartei, nach Rom kam, erhielt
er vom Papst die Weisung, vor aller Öffentlichkeit Hitler seiner Unter-
stützung zu versichern, um auf diese Weise den Anhängern des Zentrums
klarzumachen, was sie zu tun hätten. Ob Kaas selbst von der Richtigkeit
einer solchen Haltung überzeugt war, läßt sich nicht feststellen; Tatsache
bleibt es jedoch, daß er nach den Unterredungen mit dem Papst und dessen
Staatssekretär überraschend folgende Erklärung abgab:
„Hitler weiß das Staatsschiff gut zu lenken. Noch bevor er Kanzler wurde, habe ich
ihn einigemal getroffen und war sehr beeindruckt von seinen klaren Gedanken, von seiner
Art, den Realitäten ins Auge zu sehen und dabei trotzdem seinen edlen Idealen treu zu
bleiben.
Es wäre ein Fehler, sich heute darauf festzulegen, was Hitler als Volksredner gesagt
hat, wichtig ist allein das, was er heute und morgen als Kanzler tun wird ... Es spielt
keine Rolle, wer regiert, wenn nur die Ordnung aufrechterhalten bleibt. Die Geschichte
der letzten Jahre hat gezeigt, daß sich der demokratische Parlamentarismus in Deutsch-
land als unfähig erwiesen hat."
Auch die deutsche Hierarchie erhielt Weisung, der vatikanischen Politik
und dem Naziregime zu folgen. Sie gehorchte mit wenigen Ausnahmen. So
erklärte zum Beispiel Kardinal Faulhaber, daß es nötig sei, sich den von
Hitler verkündeten allgemeinen Interessen unterzuordnen.
Der Erzbischof von Bamberg schlug der katholischen Presse in Deutsch-
land vor, die Bemühungen der „nationalen Regierung" um den Wieder-
aufbau Deutschlands und die Erneuerung seines wirtschaftlichen und
geistigen Lebens ehrlich zu unterstützen.
Das Konkordat zwischen Hitler und dem Vatikan umfaßte 35 Artikel. Es
enthielt alle Klauseln und Bedingungen der bisherigen Konkordate Preu-
ßens, Bayerns und Badens. Der Vatikan hatte also mit dem neuen Konkordat
einen Vertrag, der für ganz Deutschland galt und es ihm erlaubte, seinen
Willen auch in den deutschen Ländern durchzusetzen, die bislang abgelehnt
hatten, eine Übereinkunft mit dem Vatikan zu treffen.
Die Kirche stimmte entsprechend ihrer neuen Politik in dem Konkordat
der Forderung zu, die Geistlichen und die Religion aus der „Politik heraus-;
zuhalten". Der Staat gab die Zusicherung, katholische religiöse Vereini-i
gungen zu erlauben, solange sie sich auf religiöse Tätigkeit beschränkten.
Das Konkordat regelte ferner Erziehungsfragen, die Eheschließung, die
Ernennung von Bischöfen usw. Der Staat erklärte sich bereit, die Ernen-
nung der Bischöfe allein der Kirche zu überlassen. Mit diesem Konkordat
hatte der Vatikan alle wichtigen Ziele erreicht, die die katholische Kirche in
einem modernen Staatswesen anstrebt.
165
Das Konkordat begann mit den Sätzen:
„Seine Heiligkeit Papst Pius XI. und der deutsche Reichspräsident, von dem gemein-
samen Wunsche geleitet, die zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich
bestehenden freundschaftlichen Beziehungen zu festigen und zu fördern, gewillt, das
Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem Staat für den Gesamtbereich des
Deutschen Reiches in einer beide Teile befriedigenden Weise dauernd zu regeln, haben
beschlossen, eine feierliche Ubereinkunft zu treffen, welche die mit eimeinen deutschen
Ländern abgeschlossenen Konkordate ergänzen und auch für die übrigen Länder eine
in den Grundsätzen einheitliche Behandlung der einschlägigen Fragen sichern soll."
(RGBl, IL S. 679 ff.)
Sehen wir uns einige Artikel des Konkordats näher an:
Freiheit der Kirche in innerkirchlichen Angelegenheiten: „Der Heilige Stuhl genießt
in seinem Verkehr und seiner Korrespondenz mit den Bischöfen, dem Klerus und den
übrigen Angehörigen der katholischen Kirche in Deutschland volle Freiheit." (Art. 4)
Der Schutz der katholischen Hierarchie durch den Staat: „In Ausübung ihrer geist-
lichen Tätigkeit genießen die Geistlichen in jeglicher Weise wie die Staatsbeamten den
Schutz des Staates. Letzterer wird ... im Bedarfsfall behördlichen Schutz gewähren."
(Art. 5)
Wirtschaftliche Sicherheit: „Das Amtseinkommen der Geistlichen ist in gleichem
Maße von der Zwangsvollstreckung befreit wie die Amtsbezüge der Reichs- und Staats-
beamten." (Art. 8)
Vorrechte: „Der Gebrauch geistlicher Kleidung oder des Ordensgewandes durch
Laien . . . unterliegt staatlicherseits den gleichen Strafen wie der Mißbrauch der militä-
rischen Uniform." (Art. 10)
Freiheit für religiöse Orden: „Orden und religiöse Genossenschaften unterliegen in
bezug auf ihre Gründung, Niederlassung, . . . ihre Tätigkeit in der Seelsorge, im Unter-
richt . . . staatlicherseits keiner besonderen Beschränkung." (Art. 15)
Eine Konzession an den Nationalismus: „Geistliche Ordensobere, die innerhalb des
Deutschen Reiches ihren Amtssitz haben, müssen die deutsche Staatsangehörigkeit be-
sitzen." (Art. 15)
Alte Forderungen der Kirche verwandeln sich in Rechte: „Falls die . . . Staats-
leistungen an die katholische Kirche abgelöst werden sollten, wird... rechtzeitig zwischen
dem Heiligen Stuhl und dem Reich ein freundschaftliches Einvernehmen herbeigeführt
werden. Zu den besonderen Rechtstiteln zählt auch das rechtsbegründete Herkommen."
(Art. 18)
Hochschulerziehung : „Die katholisch-theologischen Fakultäten an den staatlichen
Hochschulen bleiben erhalten." (Art. 19)
Das Recht der katholischen Kirche in der deutschen Jugenderziehung : „Der katholische
Religionsunterricht in den Volksschulen, Berufsschulen, Mittelschulen und höheren
Lehranstalten ist ordentliches Lehrfach und wird in Ubereinstimmung mit den Grund-
sätzen der katholischen Kirche erteilt. Im Religionsunterricht wird die Erziehung zu
vaterländischem, staatsbürgerlichem und sozialem Pflichtbewußtsein aus dem Geiste des
christlichen Glaubens- und Sittengesetzes mit besonderem Nachdruck gepflegt werden,
166
ebenso wie es im gesamten übrigen Unterricht geschieht. Lehrstoff und Auswahl der
Lehrbücher für den Religionsunterricht werden im Einvernehmen mit der kirchlichen
Oberbehörde festgesetzt. Den kirchlichen Oberbehörden wird Gelegenheit gegeben
werden, ... zu prüfen, ob die Schüler Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den
Lehren und Anforderungen der Kirche erhalten." (Art. 21)
Das Recht der Kirche zur Überwachung der Lehrer: „Lehrer, die wegen ihrer Lehre
oder sittlichen Führung vom Bischof zur weiteren Erteilung des Religionsunterrichts
für ungeeignet erklärt worden sind, dürfen nicht als Religionslehrer verwendet
werden.* 4 (Art. 22)
Wenige Jahre zuvor hatte der Vatikan die Zentrumspartei angewiesen, mit den Rechts-
parteien eine Koalition einzugehen und die Sozialdemokratie zu boykottieren, um die
Wiedereinführung der Konfessionsschule zu erreichen. Was dem Vatikan damals nicht
gelungen war, setzte er jetzt bei Hitler durch: „Die Beibehaltung und Neueinrichtung
katholischer Bekenntnisschulen bleibt gewahrleistet. In allen Gemeinden, in denen Eltern
oder sonstige Erziehungsberechtigte es beantragen, werden katholische Volksschulen
errichtet . . ." (Art. 23)
„In allen katholischen Volksschulen werden nur solche Lehrer angestellt, die . . .
Gewähr bieten, den besonderen Erfordernissen der katholischen Bekenntnisschule zu
entsprechen." (Art. 24.)
„Orden und religiöse Kongregationen sind. . . zur Gründung und Führung von Privat-
schulen berechtigt . . . Für Angehörige von Orden oder religiösen Genossenschaften
gelten hinsichtlich der Zulassung zum Lehramte und für die Anstellung an Volksschulen,
mittleren oder höheren Lehranstalten die allgemeinen Bedingungen." (Art. 25)
Kirchliche Trauung nach den Erfordernissen der Kirche: „. . . die kirchliche Einseg-
nung der Ehe vor der Ziviltrauung vorgenommen werden darf." (Art. 26)
Seelsorge in der Armee: „Der deutschen Reichswehr wird für die zu ihr gehörenden
katholischen Offiziere, Beamten und Mannschaften sowie deren Familien eine exemte
Seelsorge zugestanden. Die Leitung der Militärseelsorge obliegt dem Armeebischof."
(Art. 27)
„In Krankenhäusern, Strafanstalten und sonstigen Häusern der öffentlichen Hand
wird die Kirche . . . zur Vornahme seelsorgerischer Besuche und gottesdienstlicher Hand-
lungen zugelassen." (Art. 28)
Die katholische Kirche erbittet Gottes Segen für das Nazireich, weil es die Kirche zum
gleichberechtigten Partner des Staates gemacht hat: „An den Sonntagen und den ge-
botenen Feiertagen wird in den Bischofskirchen sowie in den Pfarr-, Filial- und Kloster-
kirchen des Deutschen Reiches im Anschluß an den Hauptgottesdienst, entsprechend
den Vorschriften der kirchlichen Liturgie, ein Gebet für das Wohlergehen des Deutschen
Reiches und Volkes eingelegt." (Art. 50)
Schließlich folgt eine Anweisung an alle Oberen der katholischen
Kirche - vor allem an die Bischöfe — , sich zum Naziregime nicht nur loyal
zu verhalten, sondern darüber hinaus ihre Bemühungen darauf zu richten,
daß alle den Bischöfen unterstellten Geistlichen die Autorität des Reiches
in gleicher Weise achten wie die ihres Bischofs :
„Bevor die Bischöfe von ihrer Diözese Besitz ergreifen, leisten sie in die Hand des
Reichsstatthalters in dem zuständigen Lande bzw. des Reichspräsidenten einen Treueid
167
nach folgender Formel: ,Vor Gott und auf die Heiligen Evangelien schwöre und ver-
spreche ich, so wie es einem Bischof geziemt, dem Deutschen Reich und dem Lande . . .
die Treue. Ich schwöre und verspreche, die verfassungsmäßig gebildete Regierung zu
achten und von meinem Klerus achten zu lassen. In der pflichtmäßigen Sorge um das
Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens werde ich in Ausübung des mir über-
tragenen geistlichen Amtes jeden Schaden zu verhüten trachten, der es bedrohen könnte."
(Art. 16)
Als Ganzes genommen, war das Konkordat, zumindest für den Vatikan,
sehr günstig. Deutschland ist kein katholisches Land. Die Katholiken
machen ungefähr ein Drittel der Bevölkerung aus. Einschließlich der etwa
7 Millionen Österreicher hatte Deutschland 1958 77 Millionen Einwohner.
Von ihnen waren 52 Prozent protestantisch und 36 Prozent römisch-,
katholisch.
Der Vatikan hatte in Deutschland die Hauptziele der katholischen Kirche
erreicht: Die Republik war beseitigt, die Demokratie zerstört, der Absolu-
tismus hatte Einzug gehalten; in einem Land, dessen Bevölkerung über-
wiegend protestantisch war, bestand eine enge Partnerschaft zwischen katho-
lischer Kirche und Staat. Die Lehren, die der Papst in seinen verschiedenen
Enzykliken verkündet hatte, trugen ihre politischen Früchte.
Nach der Unterzeichnung des Konkordats dankten die katholische
Hierarchie und hochgestellte Katholiken Hitler und versicherten ihm ihre
Bereitschaft, aus ganzem Herzen mitzuarbeiten. Das Oberhaupt der deut-
schen Kirche, Kardinal Bertram, richtete im Namen aller Erzbischöfe und
Bischöfe Deutschlands ein Schreiben an Hitler, in dem er ihm „Anerken-
nung und Dank aus Anlaß des Abschlusses des Reichskonkordats" aussprach.
In dem Schreiben hieß es:
„Das Episkopat aller Diözesen Deutschlands hat, wie die öffentlichen Kundgebungen
erweisen, sobald es nach der Neugestaltung der politischen Verhältnisse durch Eurer
Exzellenz Erklärungen ermöglicht wurde, sogleich die aufrichtige und freudige Bereit-
willigkeit ausgesprochen, nach bestem Können zusammenzuarbeiten mit der jetzt wal-
tenden Regierung, die die Förderung von christlicher Volkserziehung, die Abwehr von
Gottlosigkeit und Unsittlichkeit, den Opfersinn für das Gemeinwohl und den Schutz der
Rechte der Kirche als Leitstern ihres Wirkens aufgestellt hat." (Zitiert nach Germania
vom 24. Juli 1935)*
* Nach dem zweiten Weltkrieg erklärten die Alliierten, sie betrachteten das Konkordat
zwischen dem Heiligen Stuhl und Deutschland als nicht mehr gültig (August 1946). Die
deutsche Hierarchie protestierte heftig. Sie wandte sich nicht nur an den Vatikan, sondern
auch an Großbritannien und die USA und wies darauf hin, daß die Rechte der Kirche
durch die örtlichen deutschen Behörden beschnitten werden könnten, vor allem in den
Ländern, in denen Linksparteien die Mehrheit hätten. Im August 1946 fand die Fuldaer
Bischofskonferenz erstmals in ihrer neunundsiebzigj ährigen Geschichte in Anwesenheit
eines amerikanischen Bischofs statt, des Bischofs Muench von Fargo, apostolischer
Visitator in Deutschland.
168
Aber der Geist des Totalitarismus kennt keine gleichberechtigten Partner.
Früher oder später mußte es zwischen dem Totalitarismus des Vatikans und
dem der Nazis zum Konflikt kommen. Er entzündete sich, wie auch in den
anderen totalitären Staaten, an dem Problem der Jugenderziehung. Beide,
die Kirche und der faschistische Staat, verlangten die absolute Herrschaft
auf diesem Gebiet. Die Nazis begannen mit Repressalien gegen katholische
Vereinigungen und Schulen. Zwei Jahre lang bestimmten „Verdrießlichkeit
und Streitsucht der Kirche und unverschämte Herausforderungen der Nazis"
die Beziehungen zwischen den beiden nach der absoluten Macht strebenden
Organisationen ( The Vatican and Nazism).
Unterdessen hatte im Sommer 1934 die berüchtigte „blutige Säuberung"
stattgefunden. Tausende wurden ermordet — Nazis, nationalistische Katho-
liken und Nichtnazis, darunter die katholischen Politiker von Schleicher
und Gregor Strasser. „Das Gesetz bin ich", erklärte Hitler und ließ die
Betroffenen ohne Gerichtsverfahren exekutieren. Der Vatikan und die
deutsche Hierarchie schwiegen.
1935 errang Hitler seinen ersten außenpolitischen Erfolg. Das Saar-
gebiet, das lange Jahre hindurch unter der Verwaltung des Völkerbundes
gestanden hatte, sollte im Januar 1935 in einer Volksabstimmung über
seinen endgültigen Status entscheiden. Unter normalen Bedingungen hätte
niemand etwas dagegen gehabt, daß deutsches Gebiet zu Deutschland zurück-
kam. Aber die Bedingungen waren nicht normal. Die Rückkehr des Saar-
gebiets mußte einen Machtzuwachs für Hitler bedeuten, von dem alle Welt
wußte, daß er auf einen Krieg zusteuerte. Trotzdem machte der Vatikan,
der im Saargebiet großen religiösen und politischen Einfluß ausübte, nicht
einmal den Versuch, die Wähler abzuhalten, für den Anschluß an das
Hitlerreich zu stimmen. Wenn der Vatikan wirklich ein Gegner Hitlers
gewesen wäre, wie er heute behauptet, wäre es ihm nicht schwergefallen,
die katholischen Gläubigen in diesem Sinne erfolgreich zu beeinflussen. Er
tat es nicht, im Gegenteil, er wies die katholische Hierarchie an, alle Mittel
einzusetzen, damit die katholischen Gläubigen des Saarlands für Hitler
stimmten. Das Ergebnis: Das überwiegend katholische Saargebiet entschied
sich mit 477119 gegen 48637 Stimmen für Hitler. Nationalismus und
Katholizismus hatten einander wieder einmal in die Hand gearbeitet.
Am 7. März 1936 besetzte Hitler mit bewaffneten Kräften die laut
Versailler Vertrag entmilitarisierte Zone des Rheinlands. Er brüskierte
Frankreich ebenso, wie Mussolini kurz zuvor den Völkerbund brüskiert
hatte. Großbritannien drängte Frankreich, nichts gegen Hitler zu unter-
nehmen. Hitler konnte wieder einen großen Erfolg für sich buchen. Die
rheinischen Katholiken begrüßten unter Führung ihrer Hierarchie be-
geistert ihre militärische Einbeziehung in das Hitlerreich. Die katholische
169
Kirche hielt Dankgottesdienste ab. Von den Kanzeln flössen Ströme
nationalistischer Phrasen, im ganzen Rheinland läuteten die Glocken.
Damals richtete Kardinal Schulte von Köln folgendes Telegramm an den
Obersten Befehlshaber der Wehrmacht : „An den Generalobersten Freiherrn
von Blomberg, Berlin. In den denkwürdigen Stunden, da die Wehrmacht
des Reiches wiederum als Hüterin des Friedens und der Ordnung in das
deutsche Rheinland den Einzug hält, begrüße ich die berufenen Waffen-
träger unsres Volkes mit ergriffener Seele und eingedenk des erhabenen
Beispiels opferbereiter Vaterlandsliebe, ernster Manneszucht und aufrechter
Gottesfurcht, das unser Heer von jeher der Welt gegeben hat. Kardinal
Schulte." (Zitiert nach Kölner Aktenstücke, S. 118)
Zwei Monate später ließ Hitler die Bevölkerung abstimmen, ob sie seine
Politik billige oder nicht. Woraus bestand seine bisherige Politik? Sein
Versprechen, die demokratische Verfassung zu respektieren, hatte er ge-
brochen; alle anderen Parteien hatte er blutig unterdrückt; die Gefängnisse
und Konzentrationslager hatte er mit seinen politischen Gegnern gefüllt und
Tausende ohne Gerichtsverfahren umgebracht; er hatte Judenpogrome ver-
anstaltet, die gesamte deutsche Jugend einschließlich der katholischen
Jugend an die Kandare genommen und alle katholischen Laienorganisationen
zerstört; er hatte das Konkordat gebrochen und stand, als er die Abstimmung
forderte, in offenem Konflikt mit der katholischen Kirche.
Aber der Vatikan befahl auch jetzt wieder der deutschen Hierarchie,
Hitler zu unterstützen. Wenn der Papst damals wirklich gegen Hitler und
den Nazismus gewesen wäre, dann hätte er Millionen Katholiken in ganz
Deutschland beeinflussen können, sich zumindest der Stimme zu enthalten.
Das Gegenteil geschah. Die deutschen Bischöfe empfahlen den Gläubigen,
für Hitler zu stimmen. Der zu diesem Zweck an die Gläubigen gerichtete
Hirtenbrief war im Vatikan entworfen worden. Er war ein Meisterwerk
jesuitischer Rabulistik. Da die Bischöfe nicht die Tatsache verschweigen
konnten, daß Hitler die Kirche verfolgte, erklärten sie, sie befänden sich in
einem „schmerzlichen Gewissenskonflikt". Das war das mindeste, was sie
sagen mußten, denn die ganze Nation wußte von dem offenen Konflikt
zwischen Hitler und dem Klerus.
In der Erklärung des Bischofs von Münster heißt es:
„Da nicht wenige Katholiken die Besorgnis hegen und vor uns ausgesprochen hahen,
daß ihr ,Ja* bei der Volksabstimmung am 29. Märe 1936 eine Zustimmung bedeute oder
als eine Zustimmung ausgelegt werden könnte zu kirchen- und christusfeindlichen Maß-
nahmen und Äußerungen, die uns in den letzten Jahren mit Schmerz und Trauer erfüll-
ten, erklären wir im Namen aller deutschen Katholiken, denen der katholische Glaube
Richtschnur ist: Wenn wir bei der bevorstehenden Abstimmung mit einem entschiedenen
,Ja« antworten, so geben wir dem Vaterlande unsere Stimme. Das bedeutet aber nicht
eine Zustimmung zu Dingen, welche zu billigen das christliche Gewissen uns verbietet.
170
Diese Erklärung soll und will die gesetzlich bestehende Freiheit der Stellungnahme
zu den Gegenständen der Abstimmung nicht beschränken oder die Stellungnahme in
rein politischen Angelegenheiten beeinflussen. Sie ist, wie der Wortlaut zeigt, einzig dazu
bestimmt, die uns vorgetragenen Bedenken religiöser Art zu beseitigen und dadurch
den deutschen Katholiken den Weg frei zu machen, ruhigen Gewissens mit ,Ja* zu stim-
men, um so vor aller Welt für die Ehre, Freiheit und Sicherheit unseres deutschen
Vaterlandes einzutreten." (Zitiert aus dem Kirchlichen Amtsblatt für die Diözese Mün-
ster, Jahrgang LXX, Nr. 8)
Wir müssen hier mit Nachdruck feststellen, daß der Vatikan den deut-
schen Gläubigen nicht geraten hat, gegen Hitler zu stimmen, trotz der
Morde, Pogrome und Willkürmaßnahmen, die Hitler Tag für Tag beging.
Er machte lediglich die Gläubigen, die im Zweifel waren, auf die Möglich-
keit aufmerksam, wegen der gegen die Kirche gerichteten Maßnahmen der
Wahl fernzubleiben. Die Worte „wegen der gegen die Kirche gerichteten
Maßnahmen" sagten alles, in ihnen erschöpfte sich der ganze Konflikt
zwischen Vatikan und Faschismus. Die Kirche fand in der ganzen Nazizeit
nicht ein einziges Wort gegen das politische System des Nazismus. Wenn
sie gezwungen war, gegen bestimmte Maßnahmen der Nazis zu protestieren,
so sprach sie immer zurückhaltend und verklausuliert und gebrauchte niemals
jene donnernden Flüche, die sie unablässig gegen die Sowjetunion und gegen
den Kommunismus schleuderte.
Das Jahr 1936 brachte neue Spannungen zwischen dem Vatikan und dem
Nazismus, weil sich die katholische Kirche in ihrer Tätigkeit behindert
fühlte. Anläßlich der Eröffnung der Internationalen Katholischen Presse-
ausstellung protestierte der Papst, nachdem er die üblichen Beschuldigungen
gegen die Sowjetunion vorgebracht hatte, in milder Form gegen Nazi-
deutschland:
„Als zweites ist Deutschland nicht vertreten, da in diesem Land, entgegen aller Ge-
rechtigkeit und Wahrheit, vermittels einer künstlichen und absichtlichen Vermengung
von Religion und Politik, die wirkliche Existenz einer katholischen Presse bestritten
wird/* (Zitiert nach Kreuz und Hakenkreuz, S. 12)
Als der Papst in demselben Jahr eine Rede über den Bürgerkrieg in
Spanien hielt, zog er mit den schärfsten Worten gegen die „rote Gefahr"
und gegen Sowjetrußland vom Leder und beklagte sich dann über Nazi-
deutschland, weil es der katholischen Presse nicht gestattete, ein gleich-
berechtigter Partner der Nazipresse zu sein. Er sagte :
„Was kann die katholische Kirche anderes tun, als mit Bedauern Klage zu führen, wenn
sie mit jedem Schritt, den sie unternimmt, um der katholischen Faraüie, der katholischen
Jugend, also gerade jenen Teilen, die ihrer am meisten bedürfen, zu helfen, ständig auf
neue Schwierigkeiten stößt? Was kann die katholische Kirche anderes tun, wenn die
katholische Presse gefesselt ist und mehr und mehr eingeschränkt wird, die Presse,
deren Amt es ist, ... die Überzeugungen zu verteidigen, die die katholische Kirche als
einzige Hüterin des wahren und ursprünglichen Christentums allein besitzt und lehrt ?"
171
Das war das Wesen des Konflikts zwischen Nazismus und Katholizismus.
Zwei Jahre zuvor, Ostern 1934, hatte der Papst schon einmal diesen Ge-
danken zum Ausdruck gebracht, als er vor ausgewählten Vertretern der
katholischen Jungmännervereinigung offen darlegte, welche Ziele der
Katholizismus in Deutschland verfolgt:
„Die Stunde ist gekommen, auf die wir seit langem gewartet haben. Es genügt nicht
mehr, vor allem in Deutschland, nur vom »christlichen Leben', von ,christlicher Lehre 1
zu sprechen. Wir müssen ,christlich-katholisches Leben, christlich-katholische Lehre'
sagen. Denn was bleibt schon vom Christentum übrig, vom wirklichen Christentum,
ohne den Katholizismus, ohne die katholische Kirche, ohne die katholische Lehre, ohne
das katholische Leben? Nichts oder so gut wie nichts, richtiger — man kann und muß es
sagen - nicht nur falsches Christentum, sondern echtes Heidentum."
Was verbarg sich also hinter den vatikanischen Protesten gegen den
Nazismus? Lediglich der Unwille des Vatikans, daß Hitler das katholische
Leben nicht als einen untrennbaren Bestandteil des Reiches behandelte.
Als der Papst 1936 seine Stimme gegen die „Ausbreitung des Kommu-
nismus in Spanien" erhob, behauptete er, die „kommunistischen Grausam-
keiten" in diesem Land müßten Europa und der ganzen Welt die Augen
Öffnen und zeigen, welchem unabwendbaren Schicksal sie entgegengingen,
wenn nicht unverzüglich wirksame Gegenmaßnahmen getroffen würden.
Dann fuhr er, die Nazis rügend, fort:
„Unter jenen aber, die sich als Verteidiger der Ordnung gegen den Umsturz, der Kultur
gegen das Umsichgreifen des gottlosen Kommunismus ausgeben, ja sich hierin den
Primat anmaßen (Nazideutschland), sehen wir mit Schmerz eine nicht geringe Zahl von
Leuten, die sich in der Wahl ihrer Mittel und der Einschätzung ihrer Gegner von fal-
schen und verhängnisvollen Grundsätzen beherrschen und leiten lassen. Falschen und
verhängnisvollen: denn wer sucht, den Glauben an Christus und die göttliche Offen-
barung in den Herzen der Menschen und vor allem der Jugend zu schmälern und aus-
zulöschen ; wer sich erdreistet, die Kirche Christi, die Hüterin der gottlichen Verheißungen,
die durch göttliche Sendung berufene Erzieherin der Völker, als erklärte Feindin des
Gedeihens und Fortschritts der Nation hinzustellen . . der zerstört die wirksamsten
und ausschlaggehenden Verteidigungsmittel gegen das gefürchtete Übel und arbeitet
so, sei es auch unbewußt, Hand in Hand mit denen, die er zu bekämpfen glaubt oder
sich rühmt." (Zitiert nach Kölner Aktenstücke, S. 165).
Auf diese Worte des Papstes Bezug nehmend, erklärte Kardinalstaats-
sekretär Pacelli:
„Klarer kann man es kaum ausdrücken, daß der Nationalsozialismus unfähig ist, ein
wirksames Bollwerk gegen den Bolschewismus zu sein."
Im Herbst 1936 beschwerte sich Kardinal Pacelli in einer Rede zur
Eröffnung des Internationalen Kongresses der katholischen Presse über die
Unterdrückung der katholischen Zeitungen in Deutschland und sagte:
„Unsere Blicke richten sich besorgt nach Deutschland. Wir bedauern es tief, daß kein
offizieller Vertreter der deutschen katholischen Presse auf diesem Kongreß anwesend
172
sein kann. Nach dem letzten Hirtenbrief der deutschen Bischöfe ist es unbegreiflich,
daß die katholische Presse in Deutschland noch immer in ihrem apostolischen Kampf
gegen den Bolschewismus behindert wird."
Kardinal Pacellis Beschwerden richteten sich also lediglich dagegen, daß
die katholische Presse in ihrer Arbeit eingeengt werde und daher nicht in
der Lage sei, in dem Maße in den Haßgesang gegen die Sowjetunion ein-
zustimmen und den Kampf gegen den Kommunismus und den Sozialismus
zu führen, wie sie es wünschte.
Da der Papst und sein Staatssekretär den Nazismus als politisches, wirt-
schaftliches und soziales System nicht verdammten, sondern nur gegen offen-
sichtlich kirchenfeindliche Akte protestierten, nahmen sowohl einige Kardi-
näle im Ausland als auch die Kardinäle und Bischöfe in Deutschland eine
ähnliche Stellung ein.
So kritisierte zum Beispiel Kardinal Faulhaber 1935 in einer Predigt in
milder Form gewisse Verletzungen des Konkordats, äußerte aber nie ein
Wort des Protestes gegen die Festsetzung Hunderttausender politischer
Gefangener in den Konzentrationslagern. Seine Kritik erschöpfte sich in
einer Analyse der Irrtümer, die er für die Wurzeln der nazistischen Feind-
schaft gegen die Kirche hielt; er trat dafür ein, daß die Stellung und die
Rolle, die die Kirche und der Papst seiner Ansicht nach bei der Erziehung
der Jugend, der Geistlichkeit und der Gläubigen zu spielen hatten, an-
erkannt würden. Er sagte: „Die Regierung muß uns schützen und mit der
katholischen Kirche zusammenarbeiten, da die katholische Kirche allein die
Botschaft der Erlösung und der göttlichen Wahrheit verkündet." Im
Mai 1933 riefen die bayrischen Bischöfe ihre Gläubigen auf, die Nazi-
regierung zu unterstützen, und richteten dabei mahnende Worte an den
Nazismus, um ihn davor zu behüten, „dem Ühel zu verfallen" :
„So notwendig und segensvoll die harmonische Zusammenarbeit zwischen Staat und
Kirche ist, so verhängnisvoll wirkt es sich nach dem Zeugnis der Geschichte aus, wenn
mit Machtmitteln des Staates in das Leben der Kirche eingegriffen, wenn Kirche und
Staat verschmolzen werden, wenn die Kirche zur Dienerin des Staates herabgewürdigt
werden soll." (Zitiert nach Germania vom 7. Mai 1953)
Die Bischöfe erklärten dann, daß sie keinerlei Form der Kritik unter-
stützen würden, die geeignet sei, die staatliche Autorität herabzusetzen, und
bemerkten abschließend, daß sich niemand „der großen Aufbauarbeit ent-
ziehen" solle, aber „auch niemand zurückgestoßen werden" dürfe (ebenda).
Im Juli 1933 forderte der Bischof von Würzburg, Matthias Ehrenfried, die
Geistlichkeit seiner Diözese auf, sich loyal zum Naziregime zu verhalten:
„Bei den noch neuen Verhältnissen der Gegenwart mögen von seiten untergeordneter
Stellen Fehl- und Uber griffe vorkommen, welche das Einordnen und Einfühlen in die
nationale Bewegung erschweren und trüben. Es ist aber nicht die Aufgabe des einzelnen
173
Priesters, solche Vorkommnisse zu beurteilen und abzustellen. Soweit Veranlassung dazu
gegeben ist, wird die kirchliche Oberbehörde selbst solche Angelegenheiten behandeln."
(Zitiert nach Germania vom 6. Juli 1933)
Im Oktober 1933 zeigte sich Kardinal Bertram besorgt, daß Hitler der
Kirche nicht jene Freiheit gewährte, die er ihr zugesichert hatte, und mit
katholischen Politikern ebenso umsprang wie mit ihren sozialdemokratischen
und kommunistischen Kollegen. Bertram sagte unter anderem:
„Ich denke an die Sorge, die uns angesichts des Schicksals mancher führender Politiker
befällt deren Ziel es war, in Ausübung ihrer religiösen Pflicht den Marxismus und Bol-
schewismus in einer Form zu bekämpfen, die der damals herrschenden Staatsform ent-
sprach."
Der Kardinal bat Hitler, die katholischen Politiker nicht als seine Feinde
anzusehen — weil sie in Wahrheit ganz das Gegenteil davon seien — , sie
wieder freizulassen und nicht so zu behandeln wie die Sozialdemokraten und
Kommunisten :
„Wir wenden uns eindringlich an die zuständigen Stellen im Reich, in den Ländern
bald eine ernste und großmütige Revision der schroffen Maßnahmen einzuleiten, die in
Anwendung gebracht wurden."
Bischof Wilhelm Berning von Osnabrück sagte in einer Predigt am
Silvesterabend des Jahres 1934, die Kirche wolle mit dem Nazismus zusam-
menarbeiten, könne dies jedoch nicht, solange der Nazismus versuche, „den
Katholizismus aus den Herzen der Jugend zu reißen". Im Jahre 1935
schrieb Bischof Matthias Ehrenfried von Würzburg in einem Hirtenbrief,
daß die Kirche gern mit dem Nazismus zusammenarbeiten würde, die Nazis
ihr das aber sehr schwermachten, indem sie katholische Vereinigungen und
Schulen gleichschalteten, ja sie sogar unterdrückten, als handelte es sich um
kommunistische.
Der Erzbischof von Köln, Kardinal Schulte, rügte 1935 die faschistische
Regierung, daß sie der katholischen Kirche nicht erlaube, an der Neuord-
nung mitzuarbeiten. Er protestierte dagegen, daß die katholischen Freiheiten
beschnitten und die Katholiken wie Staatsfeinde behandelt würden.
Der Erzbischof von Freiburg bemängelte, daß die Nazis der katholischen
Kirche nicht die volle Freiheit im Schulwesen zugestanden.
Der Hirtenbrief der Fuldaer Bischofskonferenz im August 1935 kritisierte
die Regierung, weil sie es dulde, daß „die Heiligen Schriften des alten
Bundes und sogar die Evangelien und Paulusbriefe nicht mehr gelten" sollen
und „an Stelle der katholischen Kirche eine sogenannte romfreie National -
kirche errichtet werden" solle. Die Bischöfe protestierten ferner dagegen, daß
die Nazis die Kirche des „politischen Katholizismus" beschuldigten. Sie stell-
ten am Ende ihres Briefes die Frage: „Müssen denn wir Katholiken uns im
eigenen Vaterland alles gefallen lassen?" Und sie antworteten: „Katholiken
174
machen keine Revolte und leisten keinen gewalttätigen Widerstand. Das
ist so bekannt, daß sich von jeher solche, die einen leichten Sieg gewinnen
wollen, gerade auf die Katholiken stürzten." (Zitiert nach dem Amtsblatt
des Bischöflichen Ordinariats Berlin, 7, Jahrgang, Stück 11)
Bischof Galen von Münster fragte im März 1936 in einer Predigt in Buer
den Führer der Nazis, wie Katholiken mitarbeiten sollten, wenn ihre
Religion nicht respektiert werde. „Wie können christliche Eltern mit
ruhigem Gewissen ihre Kinder in das Landjahr, in das Arbeitslager, in
Heimabende und Schulungskurse gehen lassen, wenn sie wissen, daß ihnen
dort die der Jugend so notwendige religiöse Führung und Anleitung fehlt?"
(Zitiert nach Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster, 27. 3. 1936,
Beilage)
Bischof Rackl von Eichstätt predigte: „Im Konkordat ist festgelegt, daß
die katholische Kirche volle Freiheit genießen soll. Aber ihr wißt so gut wie
ich, daß dies nicht der Fall ist."
Die Fuldaer Bischofskonferenz erklärte 1936:
„Wir können es nicht begreifen, daß die katholische Presse, sogar die kirchlichen und
religiösen Zeitschriften und Kirchenblätter, durch Verordnungen eingeschnürt werden,
die den Eindruck erwecken, daß sie den Untergang der katholischen Presse überhaupt
bezwecken. Wir können es nicht begreifen, daß man heranwachsende deutsche Jugend
den christlichen Einflüssen entzieht und ihr christusfein dliche Ideen nahebringt oder sie
durch interkonfessionelle Vermischung in der Lebenskraft ihrer katholischen Uber-
zeugung schädigt." (Zitiert aus dem Kirchlichen Amtsblatt für die Diözese Münster,
Jahrgang LXX. Nr. 21)
Im Jahre 1936 meldeten sich die bayrischen Bischöfe von neuem und
protestierten dagegen, daß der Nazismus im Katholizismus seinen größten
Feind nach dem Bolschewismus sehe.
Am Silvesterabend des Jahres 1935 zog Kardinal Faulhaber in einer
Predigt gegen den Bolschewismus und gegen die Sowjetunion zu Felde und
rief „alle Menschen guten Willens 4 * auf, für die Überwindung des Bolsche-
wismus zu kämpfen. Anschließend riet er den Nazis, ihr Propagandafeuer
auf die Feinde Deutschlands zu konzentrieren und nicht darauf, soviel Men-
schen wie möglich zum Kirchenaustritt zu zwingen. Bei anderer Gelegen-
heit protestierte er dagegen, daß die „Korrespondenzen der Bischöfe be-
schlagnahmt, Kirchengüter konfisziert und Prozessionen verboten werden".
Im Jahre 1938 beklagte sich Faulhaber, daß im „nächsten Jahr die
staatlichen Subsidien für die Geistlichkeit gekürzt oder sogar völlig ge-
strichen werden sollen".
In demselben Jahr beschwerte sich Bischof Galen von Münster, daß
Sprecher der Nazipartei in den letzten Monaten verschiedentlich die Kirche
aufgerufen hätten, „sich allein mit den Dingen des jenseitigen Lebens zu
befassen".
175
Der Bischof von Berlin, Graf von Preysing, protestierte in einem Fasten -
brief dagegen, daß man der Kirche vorwerfe, sich politisch zu betätigen,
und erklärte: „Auch Pontius Pilatus berief sich bei der Verurteilung Christi
auf politische Gründe."
Erzbischof Gröber von Freiburg schrieb, Hitler habe sein der Kirche ge-
gebenes Versprechen nicht gehalten. „Als vor einigen Jahren erklärt wurde,
daß der Marxismus tot sei, gab uns dies Anlaß zu der Hoffnung, daß auch
der Entchristianisierung des deutschen Volkes Einhalt geboten würde. Wir
sind enttäuscht worden."
Die Proteste der katholischen Hierarchie häuften sich, als die Nazis in
die katholischen Schulen und in die katholische Jugend eindrangen, als sie
der Geistlichkeit die Achtung verweigerten und ihre Freiheit, bei Bestat-
tungen Kollekten durchzuführen, beschnitten; als sie Witze gegen den
Papst in Umlauf brachten und kirchliches Eigentum beschlagnahmten; als
sie Priester und Mönche wegen homosexueller Vergehen vor Gericht stell-
ten; als sie kirchliche Sammlungen auf die Kollekten während des Gottes-
dienstes beschränkten usw.
Es gab Tausende von Protesten der katholischen Geistlichkeit, der Hierar-
chie, des Vatikans und des Papstes, aber keiner dieser Proteste richtete sich
gegen den Nazismus als geschlossenes politisch -soziales System, gegen seine
monströse Konzeption, gegen seine Konzentrationslager, gegen die Ver-
folgung von Liberalen, Demokraten, Sozialdemokraten, Kommunisten und
Juden. Die Kirche schwieg, als die Nazis Österreich und die Tschechoslowakei
ihrer nationalen Unabhängigkeit beraubten, sie schwieg, als die Nazis Polen,
Dänemark, Norwegen, Belgien, die Niederlande, Frankreich und schließlich
die Sowjetunion überfielen, sie schwieg zu allen Greueln, die die Nazis der
Welt antaten. Die Stimme der Kirche ertönte lediglich, wenn ihre eigenen
geistigen oder materiellen Interesssen auf dem Spiel standen, und auch dann
nur in milden Worten und begleitet von Wünschen und Forderungen nach
Zusammenarbeit mit den Nazis. Die Kirche flehte bis in die letzten Tage
des Regimes um eine Möglichkeit, sich an Hitlers Seite am Kampfe gegen
die Sowjetunion und gegen den Bolschewismus zu beteiligen.
Man darf also bei der Beurteilung der vatikanischen Politik in Vergangen-
heit und Gegenwart nicht vergessen, daß die katholische Kirche niemals
ihre Stimme gegen die Eroberungspolitik der Nazis erhob, sondern nur
protestierte, wenn ihre eigenen Interessen berührt wurden.
Hitler nahm wenig Rücksicht auf die Proteste der Kirche, er schenkte
ihnen nur insoweit Beachtung, als er den Einfluß der Kirche zur Erreichung
bestimmter Ziele in der Innen- oder Außenpolitik brauchte. Seine innen-
politischen Maßnahmen zielten darauf ab, alle geistigen und kulturellen
Kräfte der Nation unter nazistischer Führung zusammenzufassen. Diesem
176
Ziel hatte sich die katholische Kirche wie jede andere Institution zu unter-
werfen. Aber diese Forderung der Nazis stieß auf den Widerstand der
Kirche. Sie kam mit ihrem religiösen Totalitarismus dem politischen Tota-
litarismus der Nazis ins Gehege Obwohl die Kirche und der Nazismus die-
selben Gegner hatten - den Kommunismus, die Sowjetunion, die Demo-
kratie usw. — , dauerten gewisse Widersprüche zwischen ihnen an und
führten immer wieder zu Konflikten.
Eine der Hauptursachen für diese Streitigkeiten war die für beide Seiten
lebenswichtige Frage, wer die deutsche Jugend erziehen sollte. Die Nazis
beanspruchten dieses Recht für sich und waren auch in der Lage, sich durch-
zusetzen. So befahlen sie zum Beispiel allen katholischen Eltern in München,
ihre Kinder in die staatlichen Schulen zu schicken. Die katholische Hier-
archie protestierte wie gewöhnlich, das änderte aber nichts an der Tatsache,
daß die Anzahl der Schüler in den katholischen Schulen von 36 464 auf
19 266 sank, während sie in den Nazischulen von 53 auf 65 Prozent stieg.
Ahnliche Methoden wurden in ganz Deutschland angewandt.
Hitlers Handlungen gegen die Kirche waren nicht Selbstzweck, sondern
sie waren von dem Bestreben diktiert, alle Kräfte des deutschen Volkes unter
Kontrolle zu bekommen und einen Zwang auf die Kirche auszuüben, um sie
sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands für seine politischen
Ziele einzusetzen. Ein weiteres Beispiel dafür waren die Mönchsprozesse.
Im Frühsommer 1936 wurden 276 Mönche des Franziskanerordens in West-
falen unter der Anklage homosexueller Vergehen verhaftet. Nachdem eine
Reihe von Prozessen stattgefunden hatte, verfügte der Papst die Auflösung
einer Provinz des Franziskanerordens wegen „Ausschweifungen". Die Ge-
richtsverfahren wurden trotzdem fortgesetzt. Der American World Alma-
nach von 1939 berichtet auf Seite 236, daß „bis zum Oktober 1938 mehr
als 8000 katholische Mönche und Laienbrüder verhaftet wurden".
Im März ,1937 gab der Vatikan die Enzyklika Mit brennender Sorge
heraus. In ihr legte der Papst seine Meinung dar, welche Rolle die Kirche
und das Papsttum in einem geordneten Staatswesen zu spielen hätten, und
beschwerte sich, daß Hitler die Bestimmungen des Konkordats nicht ein-
hielte.
Hitler antwortete mit der Frage, weshalb der Papst nicht den Kardinal
Mundelein vonChikago zur Rechenschaft ziehe, der behauptete, die Mönchs -
prozesse beruhten auf Fälschungen.
Alle Streitigkeiten und alle Proteste hinderten den Vatikan nicht, das
Hitlerregime zu unterstützen. Die wirklichen Gründe dieser Partnerschaft
kann man nur erkennen, wenn man berücksichtigt, daß die Politik der
katholischen Kirche auch damals ausschließlich von ihrer Furcht vor dem
Kommunismus bestimmt war. Die Kirche hatte 1936 zu einem „heiligen
12 M359
177
Kreuzzug'* aufgerufen und brauchte hierzu die Hilfe des Nazismus, der in
seinem Haß gegen den Kommunismus der Kirche nicht nachstand.
Die Weltlage war 1936 für die katholische Kirche alles andere als gün-
stig. Der Kommunismus machte innerhalb und außerhalb Europas Fort-
schritte. In Frankreich hatte sich eine Volksfront gebildet. Spanien, das
„katholischste Land", hatte die katholische Monarchie hinweggefegt und
eine „rote Republik" errichtet. In Lateinamerika gewannen die soziali-
stischen und kommunistischen Ideen täglich mehr an Boden. Die Kirche
mußte etwas unternehmen, wenn sie sich nicht widerstandslos ergeben
wollte. Hirtenbriefe, Pressekampagnen und päpstliche Bannflüche reichten
als Kampfmittel nicht länger aus. Die Kirche mußte Zuflucht zu den welt-
lichen Mächten nehmen; und welche Mächte wären dafür besser geeignet
gewesen als die faschistischen? Das war der Grund, daß sich der Vatikan
bemühen mußte, mit dem faschistischen Italien und dem nazistischen
Deutschland trotz ihrer kirchenfeindlichen Einstellung auf gutem Fuß zu
bleiben! Das war der Grund, daß die Kirche die zahlreichen Schikanen
durch den Nazismus und den italienischen Faschismus in Kauf nahm;
Hauptsache, beide bildeten eine Gewähr dafür, daß der Kommunismus in
Italien und in Deutschland und möglichst auch in anderen Ländern unter
Kontrolle gehalten wurde.
Man muß die sehr aufschlußreiche Tatsache im Auge behalten, daß der
Vatikan, während die Nazis in Deutschland die Kirche in breitestem Um-
fang verfolgten, nach wie vor wegen angeblicher Religionsverfolgungen
zum Krieg gegen die Sowjetunion aufrief. Der Vatikan hatte anfangs alles
mögliche versucht, die Nazis von ihren Kirchenverfolgungen abzubringen.
Als aber alle Bemühungen fruchtlos geblieben waren, änderte er seine
Taktik und schlug Hitler einen gemeinsamen Kreuzzug gegen den Bolsche-
wismus vor, der sich anfangs nur auf Mittel- und Westeuropa und später
vielleicht auch auf die Sowjetunion erstrecken sollte. Der Kreuzzug sollte in
Spanien beginnen. Der Vatikan spannte auch Mussolini vor seinen Karren.
Man bat ihn, Hitler nahezulegen, seine feindselige Haltung gegen die
katholische Kirche aufzugeben. Man werde Hitler, wenn er an dem vom
Vatikan geplanten Kreuzzug gegen den Bolschewismus teilnähme, in der
Frage des „Klerikalstaates" entgegenkommen. Gemeint war Österreich. Die
erste Hilfe müßten Hitler und Mussolini dem Vatikan jedoch in Spanien
leisten, um dort „die Roten zu zerschmettern". Dann würde sich der Vatikan
auch zu Hitlers Ansprüchen auf Österreich „nicht unfreundlich" verhalten.
Hitler war auch nach der von ihm angezettelten Ermordung des Österreichi-
schen Kanzlers Dollfuß entschlossen, Österreich zu annektieren. Er erblickte
in dem Vorschlag des Vatikans eine Möglichkeit, seine Autorität in Europa
zu stärken und mit Mussolini ein enges Bündnis zu schließen. Außerdem bot
178
sich ihm hier die Gelegenheit, seine im Aufbau begriffene Wehrmacht zu
erproben. Er nahm das Angebot an.
Kurze Zeit darauf wies der Vatikan die deutsche Hierarchie an, Hitler zu
bitten, seine Zusicherungen einzuhalten und alle Feindseligkeiten gegen
die katholische Kirche einzustellen*. Die Bischöfe gaben Hitler zu verstehen,
daß die deutschen Katholiken und die katholische Kirche bereit seien, Seite
an Seite mit ihm an jeder Kampagne gegen den Bolschewismus teilzuneh-
men. Der Brief war von allen deutschen Bischöfen unterzeichnet und wurde
am 12. September 1936 in der National-Zeitung veröffentlicht. Sie fragten
darin Hitler offen und direkt, ob er es den Katholiken erlaube, mit ihm
„gegen die ständig wachsende Weltgefahr des Bolschewismus, der seine
verruchte Hand in Spanien, Rußland und Mexiko erhebt, zu kämpfen".
Aber sie gingen noch weiter. Sie zitierten nicht nur diese Worte, die der
Papst einige Wochen zuvor zu spanischen Priestern und Nonnen gesprochen
hatte, sondern machten ihm auch unmißverständlich klar, daß sie sowohl
seinen Krieg gegen das republikanische Spanien als auch den gegen die
Sowjetunion unterstützen wollten und daß „Kanonen allein" nicht aus-
reichten, das „bolschewistische Ungeheuer" zu bekämpfen. Diese gegen den
Erzfeind der Kirche, den Bolschewismus, gerichteten Worte ließen keinen
Zweifel über den Wunsch des Vatikans, einen ideologisch -religiösen Krieg
zu entfachen.
Die Mönchsprozesse und die Gleichschaltung der katholischen Jugend-
organisationen wurden jedoch fortgesetzt. Mussolini bat Hitler noch einmal,
seine feindseligen Handlungen gegen die katholische Kirche einzustellen
(The Times, 4. Nov. 1936). Kardinal Faulhaber wiederholte in einer Unter-
redung mit Hitler in noch präziserer Form, daß alle deutschen Bischöfe und
Geistlichen bereit seien, jedes seiner Unternehmen gegen den Bolschewismus
zu unterstützen; der Vatikan werde seinen Einfluß im Ausland geltend
machen, um Hitlerdeutschland zu helfen; Voraussetzung sei jedoch, daß
Hitler die Kirche innerhalb der Grenzen des Reiches respektiere. Der Kardi-
nal bat, der katholischen Kirche die Aufsicht über ihre Schulen zurückzu-
geben.
Hitler ließ sich überreden. Einige Tage später aber wurde er von seinem
Kultusminister wieder umgestimmt, der die Ansicht vertrat, das Regime
benötige die Unterstützung der Kirche nicht mehr (The Times, 17. Novem-
ber 1936). Anfang des Jahres 1937 nahmen die Nazis alle katholischen
Schulen in Bayern und anderen Ländern unter ihre Aufsicht.
Wieder mußte sich die Kirche unterwerfen. Sie mußte sich entscheiden,
was für sie wichtiger war: die Stärkung ihrer Stellung in Deutschland oder
der Kampf gegen den Kommunismus. Die Kirche entschied sich: Sie pro-
testierte und arbeitete mit Hitler und Mussolini zusammen, wie immer,
179
wenn es galt, die roten Feinde zu vernichten und andere Völker abzuhalten,
sich demokratische oder sozialistische Regierungsformen zu schaffen.
Während die Wehrmacht in Spanien ihre neuen Waffen ausprobierte und
Mussolini Hunderttausende italienischer Soldaten^mit dem Segen der katho-
lischen Kirche für Franco kämpfen ließ, annektierte Hitler, unterstützt vom
Vatikan, Österreich. Das Unternehmen wurde von Hitler mit romhörigen
österreichischen Katholiken vorbereitet und ausgeführt; auch ein Kardi-
nal leistete Hilfestellung und ließ beim Einzug Hitlers in Wien die Glocken
läuten. Zur gleichen Zeit war der Vatikan bereits dabei, mit Hilfe der slo-
wakischen Katholiken die Tschechoslowakische Republik zu zersetzen. So
okkupierte Hitler innerhalb eines Jahres zwei Staaten: im März 1938
Österreich und im März 1939 die Tschechoslowakei.
Das Jahr 1939 war ein Schicksals] ahr für viele Länder, auch für den
Vatikan. Albanien wurde von den italienischen Faschisten überfallen und
okkupiert, die spanische Republik verlor ihre letzten Schlachten gegen den
europäischen Faschismus und mußte sich der katholischen Diktatur Francos
beugen; die Tschechoslowakei wurde erwürgt, Polen zu Boden geworfen;
der zweite Weltkrieg hatte begonnen.
Anfang 1939 war Pius XI. gestorben. Über seinen Nachfolger bestanden
keine Zweifel. In den letzten zehn Jahren hatte Kardinal Pacelli die Politik
des Vatikans geleitet. Diese Politik mußte fortgesetzt werden. Es war kein
Zufall, daß die Kardinäle Faulhaber (München), Innitzer (Wien), Hlond
(Polen) - der davon träumte, gegen die Sowjetunion zu marschieren und
dieses Land dem „Heiligen Herzen Jesu" zu weihen - und Schuster (Mai-
land) am stärksten für die Wahl Pacellis eintraten.
Pacelli wurde unter dem Namen Pius XII. zum Papst gewählt. Er be-
gann seine Tätigkeit mit einer großen Friedenskampagne. Die katholische
Presse war voll von schönen Worten, die zum Frieden mahnten und auf-
forderten, die Freiheit aller Nationen zu achten und alle Konflikte ohne
Krieg zu lösen. Die Taten des neuen Papstes standen jedoch in krassem
Widerspruch zu diesen Worten. Nach wie vor hielt er enge Verbindung mit
Mussolini und Hitler, die beide den Vatikan und seine Kirche brauchten,
um ihre Eroberungspläne zu verwirklichen. Die Naziregierung führte
monatelang Geheimbesprechungen mit dem Vatikan, deren Inhalt bis heute
nicht völlig bekannt geworden ist. Man weiß lediglich, daß sie im wesent-
lichen denen glichen, die vor dem Ausverkauf Österreichs und vor der Okku-
pation der Tschechoslowakei stattgefunden hatten. Wer würde das nächste
Opfer sein?
Nach zahlreichen Verhandlungen sandte der päpstliche Beauftragte
in Berlin am 24. April 1939 durch Sonderkurier einen Brief an Pius XII.
Das Schreiben war so geheim, daß keiner außer dem Papst und dem
180
Kardinalstaatssekretär etwas von seinem Inhalt erfuhr. Der Papst schloß
sich zwei Tage lang in sein Studienkabinett ein, um die Antwort zu ent-
werfen. Er schrieb sie schließlich mit der Hand, damit sie auch im Vatikan
geheim blieb.
Hitler wurde sofort nach Eintreffen der Antwort in Berlin über ihren
Inhalt verständigt. Im Vatikan setzte eine fieberhafte Tätigkeit ein. Zwi-
schen den Nuntiaturen in Berlin, Warschau und Paris entspann sich im
Mai und Juni eine lebhafte Geheimkorrespondenz. Viele Botschafter, vor
allem der deutsche, der französische und der polnische Vertreter beim Vati-
kan, suchten den Staatssekretär oder den Papst häufiger als sonst in offiziel-
ler oder inoffizieller Mission auf. Was war im Gange? Welchen Entschluß
hatte der Papst gefaßt?
Wir haben heute genügend zeitlichen Abstand von diesen Ereignissen,
um richtig einschätzen zu können, was sich damals hinter den Kulissen ab-
spielte.*
Der Papst war damals über Hitlers Kriegspläne gegen Polen unterrichtet.
Hitler hatte ihm seine politische Strategie und seine letzten Ziele dargelegt.
Der Papst wußte also auch, daß Hitler, um seine Ziele zu erreichen, einen
europäischen Krieg riskieren würde. Hitlers Hauptziel war die Vernichtung
der Sowjetunion. Deshalb mußte er Polen besetzen. Die Tschechoslowakei
genügte nicht als Aufmarschbasis gegen die Sowjetunion. Der Papst sollte
daher seinen Einfluß geltend machen, um Polen, das sich schon bereit-
willig an der Zerreißung der Tschechoslowakei beteiligt hatte, von der
Notwendigkeit zu überzeugen, auf Hitlers Forderungen, vor allem in der
Danziger Frage, einzugehen und dann einen Geheimvertrag über einen
Einfall in die Sowjetunion zu schließen. Hitler war entschlossen, die Frage
militärisch zu lösen, falls Polen auf seine Vorschläge nicht eingehen sollte.
Für diesen Fall bat er den Papst, die Invasion nicht zu verurteilen und die
polnischen Katholiken nicht zum Widerstand gegen die Deutschen auf-
zufordern, sondern sie für einen Kreuzzug gegen die Sowjetunion zu gewin-
nen. Hitler versprach, alle Privilegien der Kirche in Polen zu respektieren
und Polen nur „zeitweilig" zu besetzen.
* Nach dem zweiten Weltkrieg kamen zahlreiche Dokumente zum Vorschein, die
licht in die damalige dunkle Tätigkeit des Vatikans brachten. Die meisten dieser Doku-
mente waren in den Händen der Richter und Anklagevertreter des Nürnberger Inter-
nationalen Militärtribunals. Obendrein äußerten sich darüber einige gut informierte
Persönlichkeiten. So enthüllte zum Beispiel Frangois Charles-Roux, der frühere fran-
zösische Botschafter beim Heiligen Stuhl, daß der Papst im Mai 1959 die britische, fran-
zösische, deutsche, italienische und polnische Regierung gedrängt habe (man beachte,
daß die Sowjetunion hier nicht genannt ist!), die zwischen Deutschland und Polen sowie
zwischen Frankreich und Italien bestehenden Streitfragen auf einer Konferenz zu
klären. (Revue de Paris, September 1946)
181
Der Papst stand vor einem schicksalsschweren Dilemma. Seit zwanzig
Jahren war das Hauptziel der vatikanischen Politik die Vernichtung des
Kommunismus und seines Zentrums, der Sowjetunion. Seit zwanzig Jahren
half der Vatikan, um dieses Hauptziel zu erreichen, überall, wo es ihm
möglich war, totalitären Regimen in den Sattel. Nun rückte dieses lang-
ersehnte Ziel in greifbare Nähe. Die Zerschlagung der Sowjetunion würde
nicht nur die Beseitigung einer großen atheistischen Macht bedeuten, son-
dern gleichzeitig die Quelle zuschütten, aus der die Kommunisten in aller
Welt ihre Kraft schöpften. Schließlich würde ein weiterer großer Traum des
Vatikans in Erfüllung gehen: die Rückkehr der orthodoxen Kirche in den
Schoß des Katholizismus.
Das war die eine Seite des Dilemmas, die andere Seite bot folgende
Aspekte: Polen war ein katholisches Land, es wurde von einem katholischen
Diktator regiert, der enge Beziehungen zum Vatikan unterhielt. Durfte
man Polen opfern, um das letzte Ziel, die Zerschmetterung der Sowjetunion,
zu erreichen? Würde ein deutscher Einfall in Polen nicht einen Weltkrieg
auslösen? Würde sich Frankreich an einem solchen Krieg beteiligen? Würde
der päpstliche Einfluß ausreichen, die prohitleri sehen und antisowjetischen
Kräfte entscheidend zu stärken?
Pius XII. stand vor der wichtigsten Entscheidung seiner politischen und
diplomatischen Laufbahn: Durfte er ein katholisches Land, Polen, aber
vielleicht auch Frankreich und andere Länder, opfern und damit die Ver-
antwortung für den Ausbruch eines Weltkrieges auf sich laden, um das
wichtigste politische Ziel der katholischen Kirche zu erreichen?
Pius XII. entschied sich: Ja, ich darf. Er stellte drei Bedingungen:
1 . Er müsse die Möglichkeit haben, Friedensvorschläge zu unterbreiten
und eine diplomatische Friedenskampagne einzuleiten; außerdem müsse
alles versucht werden, mit Polen und den Westmächten zu einem Kompro-
miß zu gelangen.
2. Falls der Einfluß des Vatikans in Polen nicht ausreiche und die In-
vasion des Landes nicht zu vermeiden sei, dürfe Deutschland den Polen nur
ein Minimum an physischen und moralischen Lasten aufbürden und vor
allem die polnischen Gläubigen wegen ihres Widerstandes nicht verfolgen;
die Interessen der Kirche müßten respektiert werden.
3. Niemals dürfe bekannt werden, daß der Vatikan mit Deutschland über
einen Einfall in die Sowjetunion verhandelt habe. Der Vatikan werde offi-
ziell in dieser Frage keine Verantwortung übernehmen, er werde aber seinen
Einfluß ausnutzen, um Frankreich von der Erfüllung seiner Verpflichtun-
gen hinsichtlich des französisch -sowjetischen Paktes abzuhalten, und zur
Bildung katholischer Legionen für den Kreuzzug gegen die Sowjetunion
aufrufen. Schließlich dürfe Deutschland die Kirche weder als „Mutter der
182
Christenheit" noch als offizielle Institution auffordern, einen „heiligen
Krieg" gegen Rußland zu führen.
Hitler war mit allem einverstanden. Daraufhin begann der Vatikan mit
Hilfe des Kardinals Hlond einen Druck auf die polnische Regierung aus-
zuüben. In Frankreich ließ er katholische Kreise erklären, daß Frankreich,
falls das Schlimmste geschehe, nicht in den Krieg gegen Deutschland ein-
treten dürfe. Aber alle diese Bemühungen schlugen fehl. Daran war weniger
der Papst schuld als vielmehr die unnachgiebige Haltung Hitlers, der bereits
beschlossen hatte, Polen zu zerschmettern.
So begann am 1. September 1939 Hitlers Überfall auf Polen. Am 3. Sep-
tember traten Frankreich und Großbritannien, allen Bemühungen der
katholischen Kirche und anderer interessierter Kräfte zum Trotz, in den
Krieg ein. Der zweite Weltkrieg hatte begonnen. .
Die Nachricht vom Kriegseintritt Frankreichs und Großbritanniens traf
den Papst schwer, tagelang befürchtete man, seine Gesundheit habe ernst-
lich Schaden gelitten. Aber er hielt sein Versprechen. Statt die Welt zum
Protest gegen den deutschen Überfall aufzurufen, stellte er sich taub und
stumm. Kein Wort der Verurteilung, kein Hinweis, daß der höchste Richter
der katholischen Moral Nazideutschland zumindest morälisch verdamme.
Während Warschau den Schrecken der Bombenangriffe erlebte und
katholische Gläubige massenweise von der deutschen Luftwaffe hingemordet
wurden, beteten deutsche Erzbischöfe und Bischöfe zu Gott, er möge das
Dritte Reich beschützen und seinen Führer erleuchten. Sehen wir uns einige
Auszüge aus einem Gebet an, das Tausende von Geistlichen auf Anweisung
des Bischofs von Münster, des Grafen von Galen, nach der Messe sprachen.
Das Gebet begann:
„Laßt uns beten nach der Meinung des Heiligen Vaters um Abwehr der Gefahr der
Gottlosigkeit, um Frieden und Freiheit für unsere Heilige Kirche, um Gottes Schutz
und Segen für unser Volk und Vaterland." (Zitiert nach dem Kirchlichen Amtsblatt für
die Diözese Münster, Jahrgang LXXIII, Nr. 25)
An anderen Stellen heißt es:
„. . . Allmächtiger ewiger Gott! Wir bitten dich, nimm unser Vaterland in deinen be-
ständigen Schutz : Erleuchte seine Lenker mit dem Lichte deiner Weisheit, damit sie er-
kennen, was zur wahren Wohlfahrt des Volkes dient, und das, was recht ist, in deiner
Kraft vollbringen. Schütze alle Angehörigen unserer Wehrmacht und erhalte sie in deiner
Gnade, stärke die Kämpfenden . .
„Bewahre, Herr, unsere Heimat vor feindlichen Angriffen, vor Hunger und Not . . .**
(ebenda)
Als bald nach Hitlers Überfall auf Polen ein anderer Krieg, der finnisch -
sowjetische Winterkrieg, begann, hatte der Papst plötzlich seine Sprache
wiedergefunden. Der Osservatore Romano, das offizielle Organ des Vati-
kans, der ebenso wie der Papst keine der faschistischen oder nazistischen
183
Aggressionen verurteilt hatte, überschlug sich auf einmal vor moralischer
Entrüstung, als sowjetische Truppen finnisches Territorium betraten:
„Nach zwanzig Jahren bolschewistischer Tyrannei wird es nunmehr klar, daß der
Kommunismus, der bereits die politische Freiheit unterdrückt, jedes individuelle Denken
erstickt, das Individuum auf das Niveau eines Sklaven zurückgeworfen und die Gewalt-
tätigkeit zu einem System erhoben hat, jetzt neue Perlen in sein teuflisches Diadem
fügt . . . Erst hat er die Menschen gejagt, jetzt jagt er die Nationen . .
Der Vatikan begnügte sich jedoch nicht mit diesen ^hemmungslosen Be-
schimpfungen, sondern sprach auch offiziell die heftigsten Verdammungen
gegen die Sowjetunion aus. Kardinäle und Bischöfe schlössen sich diesem
Beispiel an.
Inzwischen hatten sich aber noch andere Dinge ereignet, die den heftig-
sten Unwillen des Vatikans hervorriefen. Die Sowjetunion war Hitler zuvor-
gekommen und hatte die Teile Weißrußlands und der Ukraine besetzt, die
ihr 1920 durch Polen entrissen worden waren. Und — was weit schlimmer
war — Hitler hatte wenige Tage vor seinem Überfall auf Polen einen Nicht-
angriffspakt mit der Sowjetunion geschlossen.
Über die Gründe und Hintergründe des Paktes war der Vatikan ein-
gehend informiert worden. Trotzdem erhob der Papst Einspruch. Der päpst-
liche Nuntius hatte mit Ribbentrop eine Unterredung unter vier Augen.
Ribbentrop legte ihm dar, daß der ursprüngliche Plan, Polen ohne Ein-
greifen Frankreichs und Englands zu besetzen, fehlgeschlagen sei und sich
daraus die Notwendigkeit ergeben habe, mit Rußland einen zeitweiligen
Vertrag zu schließen, um zuerst mit dem Westen fertig zu werden. Nur
wenn der Westen abgesichert sei, könne Deutschland seinen Plan zur In-
vasion der Sowjetunion weiterverfolgen. Der Vatikan solle auf Frankreich
einwirken, daß es die Allianz mit Großbritannien löse und eine Einigung
mit Deutschland suche.
Im November erlitt der Papst einen Nervenzusammenbruch. Die Anspan-
nung der letzten Monate, die Qual der moralischen Verantwortung, die
teilweisen Fehlschläge seiner Bemühungen und die Niederlage Polens - das
alles war für ihn zuviel gewesen.
Pius XII. hoffte, trotz des Kriegseintritts Englands und Frankreichs
einen Weltkrieg verhindern zu können. Im Dezember 1939 formulierte er
fünf Punkte als Grundlage für einen Friedensschluß. Viele weise und schöne
Worte über den Frieden, über die Notwendigkeit von Kompromissen und
über die Freiheit der Nationen waren darin enthalten. Der Plan wurde von
der katholischen Presse in der ganzen Welt gepriesen. Auch andere Blätter
in vielen Ländern schlössen sich diesem Lob an, um die Welt von der Frie-
densliebe des Vatikans zu überzeugen. Aber welcher denkende Mensch
konnte den Widerspruch zwischen diesen salbungsvollen Worten und der
184
Politik übersehen, die der Vatikan seit vielen Jahren verfolgte? Der erste
und zugleich wichtigste Punkt seiner Erklärung sprach von dem „Recht auf
Leben und Freiheit für alle Nationen, ob groß oder klein, ob stark oder
schwach". Wie waren diese Worte mit der Haltung des Vatikans zu verein-
baren, mit seiner — zuweilen sogar offenen - Unterstützung der Aggresso-
ren, Verschwörer und Interventen? Wer konnte überzeugt sein, daß der
Papst wirklich Frieden meinte, wenn er, wie jedes Jahr zu Weihnachten und
Ostern, Frieden sagte, gleichzeitig aber den Oberen der Kirche gestattete,
die zu unterstützen und zu preisen, die den Krieg entfesselten?
Wie konnte der Papst erwarten, daß die Menschen seinen Worten über die
Rechte der Völker Glauben schenkten, wenn gleichzeitig Kardinal Faul-
haber, Erzbischof von München, in der Münchener Frauenkirche anläßlich
des mißlungenen Attentats auf Hitler einen feierlichen Dankgottesdienst
abhielt und die bayrischen Rischöfe aus demselben Anlaß eine gemeinsame
Glückwunschadresse an Hitler richteten? (Universe, Dezember 1939)
Und weshalb äußerte sich der Papst nicht zu dem Überfall auf Polen?
War Polen nicht ein kleines Land, das unberechtigt angegriffen worden
war? Weshalb verurteilte er weder den Angriff auf dieses Land noch die
JültaJitjit, mit der er durchgeführt wurde? Wohl erwähnte er im Januar
1940 in einer Rundfunkansprache „Ausschreitungen" aller Art und „schreck-
liche und unentschuldbare Exzesse" in Polen, von denen er Kenntnis erhal-
ten habe. Aber gegen wen richteten sich diese Worte? Gegen die nazistischen
Verbrecher? Nein, gegen die Sowjetunion. Die Greuel der Nazis tat er mi1
der Remerkung ab, daß sich die „Ausschreitungen leider nicht auf die Ge-
biete unter russischer Resetzung" beschränkten. Es soll keineswegs behaup-
tet werden, daß der Vatikan nicht gegen deutsche Maßnahmen protestiert
hat, aber diese Proteste betrafen lediglich die üblichen Relanglosigkeiten,
zum Reispiel Verletzungen des Konkordats.
Als Hitler Polen niedergeworfen hatte, verlagerte der Vatikan den Schwer-
punkt seiner diplomatischen Aktivität nach dem Westen, vor allem nach
Frankreich, und versuchte mit jenen Kräften in Frankreich Verbindung
aufzunehmen, die bereit waren, mit Hitler Frieden zu schließen. Es stellte
sich aber heraus, daß es unmöglich war, solange sich die Verhältnisse nicht
so oder so grundlegend veränderten.*
* Nach dem Krieg wurde bekannt, daß sich der Papst damals bemühte, einen Kom-
promißfrieden zwischen Deutschland und den Alliierten zustande zu bringen, der alle
osteuropäischen Probleme zugunsten Hitlers bereinigen sollte. Er wollte die deutsche
Führung von einem „Blitzkrieg" gegen den Westen abhalten, um eine Einigung zwischen
den kriegführenden Parteien zu erleichtern. Um den Westmächten den Plan des Papstes
schmackhaft zu machen, ließen deutsche und vatikanische höhere Stellen durchblicken,
Goebbels könne nötigenfalls an Stelle Hitlers in Deutschland die Macht übernehmen. Die
185
Unterdessen drängte der Vatikan Hitler, endlich die Sowjetunion anzugrei-
fen. Hitler antwortete, er müsse sich vorerst gegen den Westen sichern. Der
Nuntius in Paris hatte dem Papst mitgeteilt, Frankreich werde stillhalten,
wenn sich Deutschland weiter dem Osten zuwende. Der Nuntius hatte diese
Zusicherungen von höchsten Stellen in Paris erhalten; „gewisse Kreise" hat-
ten ihm zugesagt, daß „ernsthafte bewaffnete Auseinandersetzungen mit
Deutschland möglicherweise überhaupt nicht" stattfänden, falls Deutsch-
land erst einmal Rußland angegriffen habe. Das war im Dezember 1939.
Eine dieser „höchsten Stellen", mit denen der Nuntius in engstem Kontakt
stand, war General Weygand, ein ergebener Katholik.
Marschall Petain, ebenfalls ein gläubiger Katholik, hatte sich jahrelang
um die Finanzierung faschistischer bewaffneter Gruppen - die bekanntesten
unter ihnen waren die „Kapuzenmänner" (Les Cagoulards) - bemüht. Als
er Botschafter in Madrid war, harte er sich mit Laval, Weygand und anderen
zusammengetan, um Frankreichs Kriegseintritt zu verhindern und zu einem
Übereinkommen mit Hitler zu gelangen. Er stand über den Vatikan mit
Hitl er in Verbindung. Der päpstliche Nuntius in Madrid war sein wichtig-
ster Mittelsmann. Auch Franco leistete bei dem Komplott Hilfe, er lieh
Petain Geld und stellte ihm Agenten zur Verfügung. Unterstützung fand
Petain bei dem spanischen Botschafter in Frankreich, Lequerica, der später
in Vichy großen Einfluß auf Petain ausübte und dadurch wesentlichen An-
teil an der Bildung der ersten Vichy- Regierung hatte.
Nach monatelangen Geheimverhandlungen zwischen Petain, Weygand,
Laval, den päpstlichen Nuntien in Paris und Madrid, Franco, Lequerica
und Hitler ließ Hitler den Vatikan und die katholischen Verschwörer wis-
sen, daß er nicht länger warten könne; sie müßten etwas Konkretes unter-
nehmen. Petain ersuchte den Nuntius, dem Papst mitzuteilen, es gebe „gute
Gründe, anzunehmen, daß ein Blutvergießen zwischen Frankreich und
Deutschland vermieden" werde (Bericht des italienischen Botschafters in
Mad rid vom 7. März 1940). Der Vatikan leitete diese Antwort am 30. April
1940 an Hitler weiter. Aber Hitler gab sich damit nicht zufrieden und ent-
schloß sich einige Tage später, Informationen aus erster Hand zu beschaffen.
Er wollte „mit Sicherheit" wissen, „wie weit die Franzosen bei der Durch-
führung der Bestrebungen, über die er durch den Vatikan Kenntnis erhalten
hatte, wirklich gehen könnten" (ebenda), und schickte zu diesem Zweck sei-
nen Außenminister zum Papst. Ribbentrop hatte zuvor mit dem päpstlichen
Verhandlungen fanden Ende 1939 und Anfang 1940 statt. Sie hatten das Ziel, die
europäischen Nationen vereint gegen den Osten marschieren zu lassen. (Siehe Rüde Pravo
vom 24. Januar 1946 und Osservatore Romano, zitiert in einer vatikanischen Rundfunk-
sendung vom 11. Februar 1946.) Viele dieser Tatsachen kamen 1946 im Nürnberger
Prozeß ans Tageslicht, wurden aber spater wieder vertuscht.
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Nuntius in Berlin verhandelt. Shirer berichtet darüber in seinem »Berliner
Tagebuch" (Seite 234): „Der Nuntius ist wochenlang in aller Ruhe in der
Wilhelmstraße ein und aus gegangen."
Der Vatikan wertete den angekündigten Besuch Ribbentrops als ein siche-
res Zeichen, daß der Krieg im Westen vermieden würde und Hitler sich zu
guter Letzt doch noch überzeugt habe, daß es besser sei, den Krieg im Osten
zu führen. Das offizielle päpstliche Organ, der Osservatore Romano, der
gewöhnlich in seinen Äußerungen sehr kühl und zurückhaltend war, brach
angesichts des bevorstehenden Besuchs in Jubel aus. Ribbentrop hatte mit
dem Papst eine Unterredung unter vier Augen. Über ihren Inhalt gab es
im Vatikan und in den Hauptstädten Europas die unterschiedlichsten Ver-
mutungen. Einen Tag später, am 12. März 1940, richtete Hitler an den
Papst ein Telegramm, in dem er ihn zum Jahrestag seiner Papstwahl be-
glückwünschte.
Als Ribbentrop den Vatikan verließ, verhielt sich der Osservatore Ro-
mano auffallend still. Was war geschehen? Hitler hatte die Zusicherungen
des Papstes nicht als ausreichend angesehen und ihm mitgeteilt, daß er als
erstes den Westen besetzen werde. Das Annual Register bemerkt dazu:
„Wir wissen aus Kreisen des Vatikans, daß Ribbentrop dem Papst am
1 1 . März 1 940 mitgeteilt hat, deutsche Soldaten würden im Laufe des
Monats Juni in Paris und im Laufe des Monats August in London sein."
Hitler versicherte dem Papst, daß er sich in seinen „Forderungen gegen die
Alliierten, vor allem gegen Frankreich, maßvoll verhalten" werde, falls
„freundlich gesinnte Kreise" Deutschland bei seinem Sieg über Frankreich
helfen würden.
Anfang April 1940 überfiel Hitler ein weiteres kleines und schwaches
Land - Norwegen. Der Papst wurde von vielen Seiten aufgefordert, diese
neue Aggression Hitlers zu verurteilen, nachdem er wenige Monate zuvor
in den fünf Punkten seines Friedensvorschlags mit besonderer Betonung
die Rechte der kleinen Nationen proklamiert hatte. Aber er hüllte sich in
Schweigen und ließ lediglich den Osservatore Romano erklären, in Nor-
wegen lebten nur 2 619 Katholiken, in Deutschland aber 30 Millionen.
Die Beziehungen zwischen Nazideutschland und dem Vatikan wurden
einer neuen Belastungsprobe ausgesetzt, als sich herausstellte, daß die pol-
nischen Katholiken, allen Versprechungen Hitlers zum Hohn, von den Nazis
verfolgt und terrorisiert wurden; zahlreiche Priester waren erschossen und
einige Bischöfe inhaftiert worden.
Wenige Wochen nach Ribbentrops Besuch im Vatikan trafen sich Hitler
und Mussolini am Brenner, um die Operationen im Westen zu koordinieren.
Damals wurde vor allem Mussolinis Dolchstoß in Frankreichs Rücken be-
sprochen. Der Vatikan war über den Inhalt der Gespräche gut unterrichtet.
187
Er hielt einen deutschen Sieg nicht für ausgeschlossen und begann daher,
seine freundliche Einstellung zu Hitler auch in der Öffentlichkeit stärker
zu betonen. Um Hitlers Vorhaben zu erleichtern, verstärkte er die Verbin-
dungen zu den reaktionären Kreisen unter den französischen Katholiken
und arbeitete Pläne für die Bildung einer neuen Regierung nach der fran-
zösischen Niederlage aus. (Näheres siehe Kapitel XVII, Frankreich und der
V atikan) Hitler und der Papst arbeiteten Hand in Hand, um die von ihnen
geplante Neuordnung Europas herbeizuführen.
Während hinter den Kulissen die neuen Aggressionen Hitlers fieberhaft
vorbereitet wurden, entschlossen sich die Nazis zu Beginn des Jahres 1940,
die katholischen Priester und Mönche, entgegen dem Konkordat, nicht
länger vom Wehrdienst zu befreien. Wieder einmal rührten sich die deut-
schen Bischöfe und protestierten, aber nicht gegen die Invasion in Norwe-
gen, sondern, wie zum Beispiel Kardinal Faulhaber, gegen die Abschaffung
des Religionsunterrichts in den Berufsschulen. Seit 1933 hatten die Nazis
etwa 20 000 katholische Schulen mit mehr als 3 Millionen Schülern ge-
schlossen.
Aber trotz dieser Differenzen besserten sich die Beziehungen zwischen der
katholischen Kirche und Hitler angesichts der militärischen Erfolge Nazi-
deutschlands. So schrieb am 24. Mai 1940 der Manchester Guardian:
„Dem nationalsozialistischen Staat ist es anscheinend gelungen, sich mit den katholi-
schen Führern von neuem zu verständigen . . . Trotz der Verfolgung von Gläubigen und
Priestern und trotz aller Attacken auf die christliche Religion wurden unter den deutschen
Katholiken durch diese Verhandlungen neue Hoffnungen geweckt."
Der Vatikan war zu der Überzeugung gelangt, daß Nazideutschland
drauf und dran war, den Krieg zu gewinnen, und begann sich daher darauf
einzustellen. Der Papst wies die gesamte deutsche Hierarchie an, keine Kri-
tik mehr am Dritten Reich zu üben, sondern es mit allen Kräften zu
unterstützen. Diese Beurteilung der Lage durch den Vatikan und andere
politische Kreise schien sich zu bestätigen: Hitlerdeutschland schlug den
Westen aufs Haupt; die Niederlande, Belgien und Frankreich kapitulierten
und wurden von deutschen Truppen besetzt, der britische Löwe zog sich auf
seine kleine Insel zurück und leckte sich die Wunden.
In jenen Tagen richtete der Papst an die Königin der Niederlande und
an den König von Belgien persönliche Schreiben, in denen er lediglich be-
dauerte, daß diese Staaten gegen den Willen ihrer Souveräne okkupiert wor-
den seien, aber kein Wort der Verurteilung der faschistischen und nazi-
stischen Verbrechen fand. Die Briefe erweckten den Eindruck von Beileids-
bezeigungen.
Mussolini erklärte vor aller Welt - und zahlreiche verantwortliche Stel-
len in Europa und Amerika dachten damals ebenso -, daß die Niederlage
188
des Westens den endgültigen Sieg Deutschlands im zweiten Weltkrieg be-
deute. Und damit hatte der Vatikan gerechnet. Das neue „Großdeutsche
Reich" erweckte beim Papst weit mehr Interesse als bei den Oberhäuptern
mancher anderer Staaten. Der Papst begann Verhandlungen mit Hitler, um
die Ansprüche der katholischen Kirche von neuem festzulegen. Der Nazis-
mus hatte drei weitere Länder von der Gefahr des Sozialismus und
Kommunismus befreit: Belgien, die Niederlande und vor allem Frankreich.
Das verdiente den Dank der Kirche. Der Vatikan wies die deutsche Hier-
archie an, in allen Kirchen Dankgottesdienste für den Führer abzuhalten.
(Universe, August 1940) Während in den deutschen katholischen Kirchen
Dankgebete für den Schutz Hitlers an die Adresse Gottes zum Himmel
emporstiegen, reisten drei deutsche Bischöfe in aller Stille nach Rom und
führten lange Unterredungen mit dem Papst und seinem Staatssekretär.
(Basler Nachrichten, 5. Oktober 1940) Sie besprachen, auf welchem Wege
die katholische Kirche am besten und am wirksamsten zu einer echten Zu-
sammenarbeit mit dem siegreichen „Dritten Reich" gelangen könnte. Nach
ihrer Rückkehr aus Rom berichteten die drei Bischöfe auf der jährlich tagen-
den Bischofskonferenz in Fulda über die Instruktionen, die sie vom Papst
erhalten hatten. Das deutsche Episkopat sah sich vor wichtige Entschei-
dungen gestellt.
Der Papst verhandelte indessen mit Hitler über den Abschluß eines neuen
Konkordats. Hitler hatte den Vatikan aufgefordert, all seinen Einfluß
geltend zu machen, um die katholischen Bürger der von ihm besetzten
Länder für die neuen Regierungen und für die Besatzungsbehörden zu ge-
winnen. Als Gegenleistung versprach er der Kirche eine privilegierte Stel-
lung nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern, die von deutschen
Truppen erobert würden. Die Gespräche betrafen auch den Status der
apostolischen Nuntiaturen in Den Haag und Brüssel.
Die in Fulda versammelten deutschen Bischöfe und Erzbischöf e stimmten
einer Erklärung zu, daß sie sich fester um Hitler scharen und sich für
eine stärkere Unterstützung des siegreichen Deutschlands und seines großen
Führers durch die katholischen Gläubigen einsetzen würden. Darüber hin-
aus bereitete die Konferenz Pläne vor, die für die Zukunft zwischen der
Hierarchie der besetzten Gebiete und der deutschen Hierarchie eine engere
Zusammenarbeit und eventuell sogar ihre Vereinigung in einer gemeinsamen
Körperschaft vorsahen. Die ersten Schritte in dieser Richtung sollten auf
dem nächsten Kongreß der deutschen Hierarchie unternommen werden.
Außerdem wurde beschlossen, die künftigen Treffen der deutschen Bischöfe
und Erzbischöfe nicht mehr wie bisher in Fulda, sondern im Zentrum
Großdeutschlands, in Berlin, durchzuführen, um so die Verbundenheit
mit dem Dritten Reich symbolisch zu manifestieren. Dieser Beschluß der
189
Bischofskonferenz wurde vom Papst in einer Verlautbarung besonders her-
vorgehoben.
Unter den zweitrangigen Beschlüssen der Fuldaer Konferenz ist vor allem
einer zu nennen, der ein bezeichnendes Licht auf das deutsche Episkopat
wirft. Die Konferenz billigte den Plan eines neuen offiziellen Organs der
deutschen Katholiken (Der neue Wille), das vom Feldbischof der Wehrmacht
herausgegeben wurde. Es handelte sich um ein offen pronazistisches und pro-
imperialistisches Blatt, das die deutschen Soldaten aufrief, ihr Leben für
Hitler einzusetzen und die Welt zu erobern. Der einzige Vorbehalt der ver-
sammelten Bischöfe bestand in der Forderung, daß das Blatt „sich an ge-
wisse Regeln halten" solle und nichts veröffentlichen dürfe, was im Gegen-
satz zu den Lehren der katholischen Kirche stände.
Der Plan für das neue Konkordat wurde von der Konferenz einmütig
gebilligt. Die Bischöfe legten den deutschen Geistlichen nahe, der Nation,
vor allem, solange die Verhandlungen zwischen dem Heiligen Stuhl und
dem Deutschen Reich im Gange waren, zu beweisen, daß sie „zur Erringung
des Endsiegs" unentbehrlich seien. Schließlich stimmte die Konferenz einer
Loyalitätserklärung an Hitler zu. In ihr hieß es unter anderem: „Nach der
Erringung des Endsieges werden wir in besonderen Gottesdiensten den
deutschen Truppen unseren Dank und dem Führer unsere Ergebenheit zum
Ausdruck bringen."
Der Vatikan fürchtete, daß sich die Beschlüsse der Fuldaer Bischofs-
konferenz auf die Katholiken in den besetzten Ländern und vor allem in
Großbritannien und in den USA ungünstig auswirken würden. Er befahl
daher den deutschen Bischöfen, über den Verlauf und die Ergebnisse des
Treffens keine Protokolle und Erklärungen zu veröffentlichen, und erklärte
in einer Rundfunkrede für Nordamerika, daß er „leidenschaftlich am Frie-
den interessiert" sei, aber „nicht an einem schäbigen Friedensersatz, der nur
in der Abwesenheit des Krieges" bestehe. (Der Vatikansender in englischer
Sprache, August 1940)
Sehr bald zeichnete sich, deutlich ab, welche Früchte der katholischen
Kirche durch den Nazisieg in den Schoß gefallen waren. An die Stelle libe-
raler oder sozialdemokratischer Regierungen waren in allen von Hitler be-
setzten Gebieten totalitäre und, was noch wichtiger war, katholische Regime
getreten. Autoritäre katholische Parteien entstanden und riefen die Nationen
zum Kampf gegen den Erzfeind der Kirche, den Kommunismus, auf. In
Frankreich errichtete Petain einen autoritären katholischen Ständestaat und
erstattete der Kirche alle Privilegien zurück, die ihr vorher von den demo-
kratischen Regierungen entzogen worden waren.
Im Januar 1941 trat zum erstenmal die deutsche Bischofskonferenz in
Berlin zusammen. Aus diesem Anlaß fanden sich auch alle österreichischen
190
Bischöfe in der Reichshauptstadt ein. Die Konferenz traf „hochwichtige
Entscheidungen" und veröffentlichte einen gemeinsamen Hirtenbrief, in
dem die Bischöfe Hitlers Endsieg prophezeiten und unter anderem er-
klärten, „der unausweichliche Endkampf für die Freiheit des deutschen
Volkes" werde „von jedermann große Opfer fordern, aber der Sieg der
deutschen Wehrmacht" werde den Frieden „auf Jahre hinaus sicherstellen".
In der Erklärung, die in allen katholischen Kirchen Deutschlands verlesen
wurde, hieß es ferner: „Die deutschen Bischöfe bringen weiterhin ihren
Wunsch zum Ausdruck, daß es der katholischen Kirche gestattet sei, ihren
Teil zum inneren Aufbau Großdeutschlands beizutragen", denn die Kirche
habe ein Recht darauf, angesichts der Tatsache, daß die Anzahl der Kirch-
gänger in der Kriegszeit, vor allem unter den Soldaten, um nahezu 50 Pro-
zent gestiegen sei.
Trotz dieses sicherlich ehrlich gemeinten Angebots setzte Hitler sein altes
Spiel fort. Geblendet von seinen militärischen Siegen, trug er sich mit dem
Gedanken, eine christliche Nationalkirche zu schaffen. Um das zu erreichen,
mußte er jedoch zuvor die katholische und die protestantische Kirche zer-
schlagen.
Die Bischöfe baten den Papst, zu intervenieren und die religiösen Ambi-
tionen der Regierung zurückzuweisen, waren aber gleichzeitig vorsichtig
genug, zu erklären, daß sie „im gegebenen Moment nichts sagen würden,
was imstande wäre, die Energien des Volkes abzulenken oder seine Ergeben-
heit zu ihrem Land mit Vorurteilen zu belasten". Der Papst antwortete, daß
er die deutsche Regierung nur wegen ihres Verhaltens zur Kirche rügen, sie
aber keineswegs aus anderen Gründen verurteilen werde, da er nicht den
Eindruck erwecken wolle, die Kirche „begünstige die Feinde Deutschlands".
Der Papst hatte gute Gründe, so zu sprechen.
Am späten Abend des 20. Juni 1941 traf Ribbentrop mit dem päpstlichen
Nuntius Orsenigo in Berlin zu einer privaten Unterredung zusammen. Un-
mittelbar darauf setzte sich der Nuntius mit dem Vatikan in Verbindung,
was bewirkte, daß die Lichter dort im Laufe der Nacht nicht verlöschten.
Am Morgen des 22. Juni 1941 erhielt die Öffentlichkeit Kenntnis von
der Nachricht, die dem Papst am Tag zuvor übermittelt worden war. Sie
betraf ein Ereignis, auf das der Vatikan seit Jahrzehnten hingearbeitet und
für das er zahllose Opfer gebracht hatte. Hitler hatte die Sowjetunion über-
fallen.
Wieder erinnerte man sich der fünf Punkte, die der Papst im Dezember
1939 der Welt als seine Friedensvorschläge unterbreitet hatte, vor allem
des ersten, in dem von den Rechten der großen und kleinen Nationen die
Rede war. Aber es wäre in diesem Fall wirklich zuviel verlangt gewesen,
vom Papst zu erwarten, daß er die Aggression gegen die Sowjetunion
191
mißbilligte. Er verhielt sich auch diesmal still, er konnte und wollte sich nicht
„offiziell" kompromittieren. Außerdem hatte Hitler ihn noch nicht um Hilfe
gebeten, obwohl der Nuntius dem Außenminister Ribbentrop versprochen
hatte, daß „die katholische Welt Deutschland zu gegebener Zeit mit allen
Kräften unterstützen" werde. Aber Hitler brauchte die Hilfe der Kirche nicht,
seine Armeen, so behauptete er, seien in der Lage, die Sowjetunion im
Laufe von vier Monaten in die Knie zu zwingen.
Als die nazistischen Armeen tief in das Innere der Sowjetunion ein-
gedrungen waren, eröffnete die katholische Kirche einen heiligen Kreuzzug
gegen die Sowjetunion, der allerdings „inoffiziellen" Charakter trug. Sie
wollte der Welt klarmachen, daß sie auf der Seite des Siegers zu finden sei,
um später eine günstigere Ausgangsposition zu Verhandlungen mit Hitler
über „religiöse Fragen" zu haben. Deshalb erteilte der Vatikan allen
nationalen Hierarchien in der Welt den Rat, „den militärischen Feldzug
gegen das gottlose Rußland moralisch aktiv zu unterstützen". (Aus einem
Brief des Kardinalstaatssekretärs.) Und die katholischen Hierarchien or-
ganisierten selbst in den Ländern der Alliierten eine Kampagne gegen den
Kommunismus und gegen die Sowjetunion, wobei sie im wesentlichen nur
die Hetze wiederzubeleben brauchten, die sie jahrelang gegen die Sowjet-
union betrieben hatten.
Hier ist nicht der Platz, ausführlich auf die Hetze des Papstes und der
gesamten katholischen Hierarchie gegen die Sowjetunion einzugehen. Wir
werden uns nur einige Erklärungen der deutschen Hierarchie etwas näher
ansehen. Diese Erklärungen zeigen, daß die katholische Kirche das deutsche
Volk seit Jahren auf den Krieg gegen die Sowjetunion vorbereitet hatte.
Die Antisowjethetze der deutschen Hierarchie begann lange vor Hitlers
Machtergreifung, sie wurde nach 1933 lediglich um ein Vielfaches ver-
stärkt.
Einige Ausfälle des Papstes und früheren Kardinalstaatssekretärs Pacelli
gegen die Sowjetunion kennen wir bereits. Am Silvesterabend 1936 erklärte
einer seiner Schüler, Kardinal Faulhaber, in München, daß zwei Dinge ihm
ernste Sorgen bereiteten: die „Überwindung des Bolschewismus" und der
„Schutz der Kirche innerhalb des Reiches". Einige Monate später, im
April 1937, erklärte er:
„Die gesamte zivilisierte Welt, vor allem aber die katholischen Nationen, müssen sich
zu einem heiligen Kreuzzug gegen das atheistische Rußland vereinen und den Bolsche-
wismus zerschmettern, wo immer sie ihn treffen."
Im Jahr 1936 protestierten die bayrischen Bischöfe in einem Hirtenbrief
gegen die Behauptung der Nazis, daß zwei Feinde vernichtet werden
müßten: die katholische Kirche und der Kommunismus. Die Bischöfe er-
klärten, sie seien zumindest in gleichem Maße wie die Nazis Feinde des
192
Kommunismus, und es bereite ihnen großen Schmerz, solche Anschuldi-
gungen zu hören :
„Wir müssen darauf bestehen, daß nicht länger unter den jungen Menschen und im
ganzen Volk die Auffassung verbreitet wird, nach der Überwältigung des Bolschewismus,
des öffentlichen Feindes Nummer eins, komme die katholische Kirche als öffentlicher
Feind Nummer zwei an die Reihe."
Graf Galen, Bischof von Münster, erklärte in demselben Jahr:
„Jeder Katholik und jede zivilisierte Nation hat die Pflicht, den gottlosen Kommunis-
mus, der im atheistischen Sowjetrußland seine Verkörperung fand, zu besiegen und zu
vernichten."
Die deutschen Bischöfe verkündeten auf der Fuldaer Konferenz im
August 1936 in einem Hirtenbrief, der in allen katholischen Kirchen
Deutschlands verlesen wurde :
„Wir weisen dabei hin auf die offenkundige Tatsache, daß gerade in der Gegenwart
Kommunismus und Bolschewismus mit teuflischer Zielstrebigkeit und Zähigkeit sich
bemühen, vom Osten und Westen her gegen Deutschland, als das Herz Europas, vor-
zustoßen, um es gleichsam in eine verhängnisvolle Zange zu nehmen. Da darf die deut-
sche Geschlossenheit nicht durch religiöse Vergrämung und Entzweiung, durch Verächt-
lichmachung und Bekämpfung eines Volksteils gelockert werden." (Zitiert nach dem
Kirchlichen Amtsblatt für die Diözese Münster, Jahrgang LXX, Nr. 21)
In einem Neujahrshirtenbrief (1937) zählte der Erzbischof von Freiburg,
Gröber, die Gründe auf, die die katholische Kirche zu Beschwerden über das
Naziregime veranlaßt hatten. Er sagte unter anderem:
„Wird die katholische Kirche nicht immer wieder (wenn auch zuweilen versteckt) als
öffentlicher Feind Nummer zwei hingestellt und wie ein verschworener Bundesgenosse
des Bolschewismus behandelt? . . . Bereitet man die deutsche Nation als Ganzes so auf
einen möglichen Konflikt mit der gottlosen Welt des Bolschewismus vor, der uns mög-
licherweise, was Gott verhüten möge, von außen aufgezwungen werden wird, daß man
die wesentlichen und unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den Grundlagen der
Religion und denen des russischen Atheismus verschweigt? Bereiten wir uns wirklich
überlegt auf diese Auseinandersetzung vor, wenn wir uns durch die Vergöttlichung des
Menschen und der Nation und durch die Verleugnung der Unsterblichkeit der Seele in
gefährliche Nähe des Kommunismus begeben? Geschieht das alles, so frage ich, um in
unverantwortlicher Weise die feierlichen Versicherungen unseres Führers Lügen zu
strafen?"
Bei einer anderen Gelegenheit, im Mai desselben Jahres, erklärte der Erz-
bischof :
„Der Marxismus ist nicht tot, wie man uns erzählt hat. Er ist lebendiger denn je. Als
Christen, als Katholiken und als Deutsche müssen wir ihn vernichten, wo immer wir ihn
treffen. Bereiten wir uns daher auf unsere Aufgaben gegen den gottlosen Nachbarn vor,
gegen den eines Tages die gesamte zivilisierte Welt zu kämpfen haben wird."
Die bayrischen Bischöfe protestierten in einem Hirtenbrief vom 4. Sep-
tember 1958 gegen einen Befehl Hitlers, der es den Mitgliedern religiöser
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Institutionen untersagte, Internatsschulen für Mädchen einzurichten, und
riefen mahnend, der Nationalsozialismus solle sich nicht gegen die katho-
lische Kirche stellen, denn die Kirche sei der größte Feind des Kommunismus
und werde Hitler in seinem Kampf gegen den Kommunismus unterstützen.
In dem Hirtenbrief hieß es:
„Es ist ein unerträglicher Widerspruch, daß Schulen wie diese heute in unserem Hei-
matland zerstört und ausgerottet werden sollen, ebenso wie es kürzlich in bolsche-
wistischen Ländern geschehen ist . . . und das zu einer Zeit, in der die deutsche Nation
ihre historische Pflicht begreift, den an ti christlichen Bolschewismus zu bekämpfen, und
an die gesamte christliche Welt appelliert, ihr in diesem Kampf beizustehen . . . Wie lange
will der Staat fortfahren, die Mitarbeit der Kirche und ihrer religiösen Orden bei der
Durchführung der nationalen Aufgaben unserer Tage, beim Kampf gegen der! Kommu-
nismus, zurückzuweisen?"
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion kamen alle deutschen Bischöfe
üb erein, sich über die Disharmonien innerhalb des Reiches hinwegzusetzen
und alle Anstrengungen darauf zu richten, das deutsche Volk gegen das
kommunistische Rußland zu treiben. Sie erklärten feierlich (1942), „ein Sieg
über den Bolschewismus wäre zu vergleichen mit dem Triumph der Lehren
Jesu über die der Ungläubigen".
Man könnte unzählige solche Äußerungen deutscher Kirchenführer gegen
die Sowjetunion und gegen den Kommunismus zitieren, denn die deutsche
Hierarchie führte ihre Haßkampagne mit einem solchen Eifer, daß selbst
der Vatikan ihr nach Beginn des deutschen Rückzugs im Osten den Rat
erteilen mußte, „vorsichtig zu sein und nur als Bischöfe gegen den gottlosen
Bolschewismus zu sprechen".
Die Niederlagen der Naziwehrmacht vor Leningrad und Moskau und die
Vernichtung einer ganzen Armee bei Stalingrad führten zu einer Änderung
der Situation. Der Vatikan wurde vorsichtiger mit seinen Erklärungen, ver-
stärkte aber gleichzeitig in allen Teilen der Welt seine Kampagne zur
Unterstützung Hitlers. In mehreren katholischen, vom Faschismus be-
herrschten Ländern wurden Maßnahmen zur Aufstellung von katholischen
Legionen für die Ostfront eingeleitet.
Sch on im Herbst 1941 waren antikommunistische Legionen in Portugal,
Francospanien, Vichy- Frankreich und Belgien gebildet worden. Die Frei-
willigen wurden unter dem Motto „Kämpft gegen den gottlosen Kom-
munismus! Rettet den Katholizismus!" geworben. Katholische Länder, die
keine Soldaten entsenden konnten, spendeten Geld, organisierten Versamm-
lungen und führten eine breite Propagandakampagne gegen die Sowjets. Die
katholische Kirche segnete und unterstützte all diese Aktionen. Da sich der
Vatikan in seiner offiziellen Eigenschaft nicht kompromittieren wollte,
instruierte er die Kardinäle und Bischöfe in den einzelnen Ländern, Predigten
gegen Sowjetrußland zu halten, Bannflüche gegen Moskau zu schleudern
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und Freiwillige zum „Kampf gegen das bolschewistische Ungeheuer" zu
werben. Aus allen Teilen der katholischen Welt, von Italien bis Irland, aus
Nord- und Südamerika, trafen Freiwillige ein, um an der Seite der Nazi-
armeen gegen die Sowjets zu kämpfen, nachdem der Versuch, die Sowjetunion
zu überrennen, vor Moskau und, endgültig, vor Stalingrad gescheitert war.*
Der Vatikan war der Ansicht, Deutschland habe nur einen militärischen
Rückschlag erlitten und „das atheistische Rußland" könne auf jeden Fall
als „endgültig vernichtet angesehen werden". Die sowjetische militärische
und politische Macht sei nicht länger ein Faktor, den man berücksichtigen
müsse. Er sah in Nazideutschland die vorherrschende Macht Europas und
verlor sich in Zukunftsspekulationen über die „Neuordnung" dieses Erd-
teils. In einer Rundfunkkampagne propagierte er „die Aussichten des
Friedens im Rahmen der ,neuen Ordnung' ".
„Der Papst mißt moralischen Werten große Bedeutung bei. Herrscher, die sich mit
Friedensgedanken tragen, sollten daran denken . . . Nur auf dieser Basis kann die inter-
nationale Atmosphäre bereinigt werden. Die Stärke muß die Quelle des Rechts und nicht
der Unterdrückung werden. Eine weitere Frage, die in der Welt grundlegend verändert
werden muß, ist die des freien Zutritts zu den Rohstoffen. Keine Nation sollte das allei-
nige Verfügungsrecht über die Rohstoffe der Erde haben. Keine Nation sollte das allei-
nige Recht über Güter haben, die Gott uns allen geschenkt hat. Nur so kann die neue
Ordnung in der christlichen Welt errichtet werden."
Dies waren einige Gedanken aus den vatikanischen Rundfunksendungen
jener Zeit. Wenn man sie liest, sollte man sich daran erinnern, daß Hitler
gerade zu dieser Zeit (Mai 1942) seine Phrasen von der „neuen Ordnung"
und von dem Lebensraum und den Rohstoffquellen, die er in der Sowjet-
union zu finden hoffte, in alle Welt hinausposaunte.
Im Juni 1942 veröffentlichte der Osservatore Romano eine Artikelserie,
in der die Gedanken des Papstes über die Nachkriegswelt dargelegt waren.
Der Papst forderte, daß „. . . es der Kirche erlaubt sein müsse, ihre erhabene
Mission in der Welt ungehindert zu erfüllen". Die katholische Kirche, so
argumentierte er, hahe das Recht, am politischen und öffentlichen Leben der
Nationen teilzunehmen, weil die Religion die Menschen richtig zu leben
lehre und weil sie eine politische und soziale Wissenschaft sei.
* Am 25. Februar 1946 erläuterte Papst Pius XII. vor Diplomaten und Kardinälen,
weshalb er als Oberhaupt der katholischen Kirche den Uberfall der Nazis auf die Sowjet-
union nicht öffentlich gutgeheißen habe: „Unsere Bemühungen, kein Wort zu äußern,
das als eine Billigung oder Befürwortung des Krieges gegen Rußland hätte ausgelegt
werden können, waren, obwohl man Uns sehr bedrängte, erfolgreich." In Erinnerung an
die wütende Hetzkampagne, die die Kirche fortwährend gegen die Sowjetunion führte
und nach wie vor in der ganzen Welt führt, schloß der Papst: „Aber niemand möge auf
unser Schweigen bauen, wenn der Glaube oder die Fundamente der christlichen Zivili-
sation in Gefahr sind."
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Als es immer deutlicher wurde, daß das Vordringen der Hitlerwehrmacht
endgültig gestoppt worden war und das „besiegte Rußland" zum Gegen-
angriff überging, wurde der Vatikan von Furcht und Zweifel heimgesucht.
Der Papst begann eine große diplomatische Kampagne in den Hauptstädten
der kriegführenden Länder mit dem Ziel, die USA und Großbritannien von
einer aktiven Hilfeleistung für die Sowjetunion abzuhalten und Mittel und
Wege zu finden, um den russischen Vormarsch nach Westen zum Stehen zu
bringen.
Beide Ziele wären am raschesten durch den sofortigen Abschluß eines
Verhandlungsfriedens zwischen den Alliierten und den Achsenmächten zu
erreichen gewesen. Der Vatikan hielt lange Zeit enge Fühlung mit Hitler,
um in dieser Richtung zu vermitteln. Eines Tages erhielt er zuverlässige
Zusicherungen aus Berlin und setzte sich daraufhin sofort mit London und
Washington in Verbindung. Der deutsche Botschafter beim Vatikan führte
tagelang geheime Besprechungen mit dem Papst und dem Kardinalstaats-
sekretär. Das Hauptanliegen des Vatikans war, Frieden zu schließen zum
„Segen des christlichen Europas", um die Alliierten und Deutschland zum
Kampf gegen die Sowjetunion zusammenzuschließen; Voraussetzung dafür
war, daß Hitler sich mit den USA und Großbritannien einigte, ohne „sein
Gesicht zu verlieren" ; ein Verhandlungsfriede wäre „die Rettung Europas"
gewesen. Aber die USA und Großbritannien wiesen alle Vorschläge zurück.
(Mai/ Juni 1942)
Der Vatikan ließ jedoch nicht locker. Er forderte Großbritannien und die
Welt auf, Rußland zu zwingen, in Ost- und Südosteuropa eine bestimmte
Linie nicht zu überschreiten, und den Völkern Ost- und Südosteuropas weit-
reichende Sicherheiten zu gewähren, damit sie nicht der „Raubgier des
bolschewistischen Rußlands" zum Opfer fielen. Da weder die USA noch
Großbritannien solche Sicherheiten bieten konnten, gab der Papst ihnen zu
verstehen, daß „die katholischen Gemeinschaften in den USA im Bündnis
mit den antisowjetischen Kräften" zu gegebener Zeit „genügend Druck
ausüben" würden, um „die amerikanische Außenpolitik auf gesündere Ziele
zu lenken".
Präsident Roosevelt ließ durch seinen persönlichen Botschafter Myron
Taylor dem Papst im Namen der USA und Großbritanniens versichern, daß
die sowjetischen Truppen „die ihnen gezogenen Grenzen nicht überschrei-
ten" würden. Auf seinem Rückweg in die USA hatte Myron Taylor am
6. Oktober 1942 in Lissabon eine Unterredung mit dem katholischen Diktator
Salazar. Im Laufe des Gesprächs stellte Taylor fest, daß „die alliierten
Truppen nach einem Sieg der Alliierten in Europa die antikommunistischen
Staaten gegen bolschewistische Übergriffe Gewehr bei Fuß schützen" wür-
den, „eine Vorherrschaft der Sowjets über Europa" sei „völlig ausgeschlossen".
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Aber der Vatikan gab sich auch damit nicht zufrieden und fuhr fort,
nach Wegen zu suchen, wie er die USA und Großbritannien von der Sowjet-
union trennen und Hitler den Abschluß eines Kompromißfriedens mit den
Westmächten ermöglichen könnte.
Die großen Erfolge der sowjetischen Armeen im Jahre 1943 steigerten
die Nervosität des Vatikans. Immer hemmungsloser wurden seine Ver-
leumdungen gegen die Sowjetunion. Roosevelt ließ den Vatikan wissen, die
Alliierten hätten beschlossen, Nazideutschland zur bedingungslosen Kapitu-
lation zu zwingen. Daher sei es notwendig, mit dem Vormarsch der
sowjetischen Truppen Schritt zu halten. Der Vatikan solle mit der Sowjet-
union Verhandlungen aufnehmen, um selbst die Interessen der katholischen
Gläubigen in den von der Sowjetunion befreiten Ländern wahrzunehmen.
Roosevelt sprach mehrmals mit Stalin, um eine Annäherung zwischen
Moskau und dem Vatikan zu erleichtern. Aber der Papst weigerte sich strikt.
Daraufhin schickte Roosevelt Anfang 1943 einen engen Freund des Papstes,
Erzbisch of Spellman, zum Vatikan mit dem Auftrag, den Papst zur An-
nahme seiner Vorschläge zu bewegen und „den Vatikan davon zu über-
zeugen, daß es zweckmäßig sei, eine nachgiebigere Haltung gegenüber der
Sowjetunion zu zeigen". (Die Tat, Zürich, 24. Februar 1943)
Spellman hatte vor Antritt seiner Mission eine lange Unterredung mit
Roosevelt. Nach seiner Ankunft in Europa stattete er als erstem Franco
einen Besuch ab und hatte mit ihm und mit dem Primas von Spanien einige
„private" Unterredungen. Die Gespräche Spellmans mit dem Papst fanden
vom 20. bis 23. Februar 1943 täglich von 17 bis 20 Uhr, zuweilen sogar bis
21 Uhr, statt und waren so geheim, daß nicht einmal der päpstliche Kammer-
diener zugelassen war, ja nicht einmal Kenntnis davon hatte. In der Zeit, in
der Spellman nicht beim Papst war, hielt er sich bei Bischof Evrainoff, dem
Leiter des vatikanischen Informationsbüros, auf oder bei dem päpstlichen
Assessor Ottaviani, einer der einflußreichsten Persönlichkeiten des Vatikans,
oder er führte Besprechungen mit dem spanischen und dem deutschen Bot-
schafter. Gegen Ende seines Aufenthaltes hatte er eine lange private Unter-
redung mit dem Naziaußenminister von Ribbentrop (3. Mai 1943). Tags
darauf flog er nach Spanien und traf in Madrid mit dem britischen Bot-
schafter Sir Samuel Hoare zusammen. Nach seiner Rückkehr in die Ver-
einigten Staaten überreichte er Roosevelt ein Handschreiben des Papstes.
Was hatte Roosevelt dem Papst sagen lassen? Was schlug der Papst
Roosevelt vor? Was wurde zwischen dem Vatikan, Washington und London
vereinbart?
Die Furcht des Papstes wegen der sowjetischen Erfolge hatte auch London
und Washington ergriffen. In beiden Hauptstädten begann man, ebenso
wie im Vatikan, die gewaltigen militärischen Siege der Sowjetunion mit
197
Unbehagen zu verfolgen. Man fürchtete, daß die sowjetischen Armeen weit
nach Westen vordringen würden, bevor die Armeen des Westens das
europäische Schlachtfeld erreicht und sich dort festgesetzt hätten. Man sah
in dem sowjetischen militärischen Vormarsch zugleich den Vormarsch
einer feindlichen Ideologie, denn ebenso wie der Papst die Soldaten des
Kommunismus für die Erzfeinde des Katholizismus hielt, erblickten die USA
und Großbritannien in ihnen die Feinde ihrer sozialen, wirtschaftlichen und
politischen Ordnung.
Mittel mußten gefunden werden, den bolschewistischen Vormarsch zu
stoppen. Wieder war es am Vatikan, helfend einzugreifen. Er sollte Hitler
klarmachen (Januar 1945), daß durchaus Hoffnungen auf einen „Ver-
handlungsfrieden" beständen, wenn er seine territorialen Ansprüche auf-
gäbe. Hitler ließ den Papst wissen, daß er einen Frieden wünsche, der den
Westmächten, Deutschland und der katholischen Kirche zum Vorteil ge-
reichen solle, und bat die Alliierten, keine zweite Front zu eröffnen.
Deutschland würde dadurch die Möglichkeit erhalten, die Lage an der Ost-
front zu stabilisieren und ein „unüberwindliches Bollwerk gegen die
bolschewistische Flut" zu werden. Der Papst teilte Roosevelt mit, daß inner-
halb der Naziregierung radikale Änderungen vor sich gehen würden, falls
die Westmächte das Angebot annähmen.
Roosevelt antwortete dem Papst, daß an einen Verhandlungsfrieden nicht
zu denken sei, solange Hitler an der Spitze des Reiches stehe; er empfehle
ihm daher, sich um ein Abkommen mit der Sowjetunion zu bemühen, um die
Interessen der katholischen Gläubigen in den von der Sowjetarmee besetzten
Ländern wahrnehmen zu können. Aber der Papst weigerte sich. Das war zu
der Zeit, als Präsident Roosevelt Erzbischof Spellman nach Rom schickte,
um den Papst von der Richtigkeit seines Vorschlages zu überzeugen. Spellman
mußte sich jedoch in Rom vom Papst erzählen lassen, was man im Vatikan
von der alliierten Forderung auf bedingungslose Kapitulation der Achsen-
mächte hielt und daß der Vatikan den Vorschlag Roosevelts, die katholische
Welt zum Kampf gegen Nazideutschland aufzurufen, nicht annehmen
könne, da es dem Vatikan nicht gestattet sei, sich mit den Kriegszielen einer
der kriegführenden Parteien zu identifizieren. Der Papst erklärte am
21. Februar 1945:
„Die Deklaration von Casablanca, die von den Dreiermächten (Deutschland, Italien,
Japan) die bedingungslose Kapitulation fordert, ist mit der christlichen Lehre nicht zu
vereinbaren."
Der Vatikan war der Ansicht, daß die deutsche und die italienische
Nation durch die Forderung der Alliierten auf bedingungslose Kapitulation
gezwungen seien, weiterzukämpfen, weil sie keine Chance für eine Ver-
ständigung mit den Alliierten sähen. Diese Verständigung werde aber
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angesichts des Vormarsches der Roten Armee in Richtung Westeuropa von
Tag zu Tag notwendiger.
Aus dem Kapitel über Italien und den Vatikan kennen wir bereits die
Vorschläge des Vatikans zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung: Die West-
mächte hatten zugestimmt, daß die faschistischen Regime beseitigt, aber
ihre sozialen Grundlagen nicht angerührt werden sollten, um die „Ent-
stehung eines Vakuums" in Deutschland und Italien und in den anderen
vom Faschismus und Nazismus befreiten Ländern Europas zu verhindern.
Als nach der Kapitulation Italiens die Niederlage Deutschlands immer
offensichtlicher wurde, schlug sich der Papst auf die Seite der Alliierten.
Unmittelbar nach der Befreiung Roms empfing er Tausende alliierter Sol-
daten und Offiziere und hielt vor ihnen Reden, in denen er für einen „maß-
vollen Frieden" und für einen „Frieden ohne Rache" eintrat und zugleich
wie eh und je gegen die Sowjetunion hetzte.
Der Vatikan hielt auch weiter seine Verbindungen zu Hitler aufrecht
und versuchte ihn zu überzeugen, daß sein Rücktritt das Beste sei, was er
für Deutschland und die gemeinsame Sache tun könne. Aber Hitler blieb
starr bei der Meinung, daß sich die Alliierten seinem Kampf gegen die
Sowjetunion anschließen müßten.
Als Hitler nicht nachgab, erklärte der Papst dem Nazibotschafter beim
Vatikan, alle Bemühungen, zu einem Verhandlungsfrieden zu kommen,
seien nutzlos, solange Hitler an der Macht bleibe. Hitler würde eine „wahr-
haft große Tat" vollbringen, wenn er im Interesse Deutschlands einer
anderen Regierung den Weg freigäbe. Aufgabe der neuen Regierung werde
es sein, mit den westlichen Alliierten Frieden zu schließen und auf diese
Weise die Besetzung Deutschlands durch sowjetische Truppen zu ver-
hindern. Schlimmstenfalls dürfe es höchstens zu einer Besetzung durch die
Westmächte kommen.
Im Juni 1 944 setzte Hitler den Papst davon in Kenntnis, daß er bereit sei,
der Aufforderung des Papstes nachzukommen. Er wünsche jedoch zuvor
etwas darüber zu wissen, was „die Alliierten mit Deutschland zu tun ge-
dächten". Der Vatikan informierte unverzüglich Roosevelt. Der Präsident
entsandte daraufhin Henry Stimson, den amerikanischen Kriegsminister,
und Myron Taylor, den Sonderbotschafter der USA, zum Vatikan. Beide
führten lange Unterredungen mit dem Papst.
Während dieser Verhandlungen tat die Propagandamaschine des Vatikans
alles, um die päpstlichen Friedensphrasen in die Welt zu posaunen. Im
Osservatore Romano erschienen Artikel mit Überschriften wie: „Schluß mit
dem Morden" - „Warum wird der Kampf fortgesetzt?"
„Warum wird noch immer gekämpft?" hieß es in einem Artikel. „Diese
Frage wird nicht das erstemal gestellt, heute, nach fünf schrecklichen
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Kriegsjahren, ist sie akuter denn je . . . Laßt uns alles tun, daß der Friede so
schnell wie möglich kommt. Er ist die einzige Wohltat, auf die wir hoffen . .
Die Besprechungen über den Rücktritt Hitlers und über einen Ver-
handlungsfrieden endeten abrupt; andere Dinge waren inzwischen hinter
den Kulissen herangereift. Der Nazibotschafter beim Vatikan, Freiherr von
Weizsäcker, hatte mehrmals den Papst und den Kardinalstaatssekretär auf-
gesucht und war auch mit Myron Taylor zusammengetroffen (Juni/ Juli
1944). Der Botschafter war ein enger Mitarbeiter Ribbentrops. Während
der päpstlichen Bemühungen um einen Verhandlungsfrieden war Weiz-
säcker ernsthaft bestrebt, mit dem Vatikan eine Einigung über gewisse
Friedensvorschläge zu erzielen.
Kardinal Maglione, Myron Taylor, Freiherr von Weizsäcker und der
britische Botschafter hatten in den Monaten Mai und Juni mehrere geheime
Zusammenkünfte. Anlaß zu diesen Besprechungen war der Entschluß, die
italienischen Geschehnisse in Deutschland zu wiederholen, um so „den Weg
zur Einstellung der Feindseligkeiten frei zu machen".
Der Entschluß mußte, sollte er Erfolg haben, rasch in die Tat umgesetzt
werden. Der völlige Zusammenbruch des ganzen mittleren Abschnitts der
Hitlerschen Ostfront, der Kriegsaustritt Italiens, die bevorstehende alliierte
Invasion im Westen -das waren klare Zeichen der unausweichlichen Nieder-
lage Deutschlands. Alles war nur noch eine Frage der Zeit.
Während es den Alliierten darauf ankam, ihre militärischen Anstren-
gungen zu koordinieren und Nazideutschland den entscheidenden Schlag zu
versetzen, ging es dem Vatikan darum, durch politische Manöver zu sichern,
daß die Grundlagen des Faschismus in Deutschland erhalten blieben.
Einzelpersonen und Gruppen machten sich ans Werk, sie wurden ge-
trieben von politischen und patriotischen Gefühlen, am stärksten aber von
der Angst vor dem „bolschewistischen Chaos", das nach ihrer Ansicht als
Folge einer völligen Niederlage Deutschlands Einzug halten würde. Ihre
Ziele waren: Beseitigung Hitlers, vorläufige Errichtung einer Militär-
diktatur und Friedensangebot an den Westen, um den völligen Zusammen-
bruch der Ordnung in Deutschland zu verhindern. Ein solcher Wechsel
sollte die Sowjetarmee abhalten, in Deutschland einzudringen. Sobald die
westlichen Alliierten die Friedensvorschläge der neuen Regierung ange-
nommen hätten, sollte das Land im Osten hermetisch abgeriegelt werden.
Ähnlich wie in Italien hatten die Väter dieser Zukunftspläne sehr früh-
zeitig und mit unterschiedlichem Erfolg die Vorbereitung der Verschwörung
begonnen. Die Intensität ihrer Bemühungen steigerte sich, je näher die
Niederlage Hitlerdeutschlands rückte.
Im November 1939 war bereits ein Attentat auf Hitler unternommen
worden. Die erste organisierte Verschwörung begann im März 1945, zu der
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Zeit also, da sich auch die italienischen Verschwörer gegen Mussolini zu
rühren anfingen. Der erste Anschlag auf Hitler (13. März 1943) mißglückte.
Die Bombe, die man an der Ostfront in Hitlers Flugzeug geschmuggelt
hatte, explodierte nicht.
Der Vatikan, die USA und Großbritannien waren sich, ebenso wie vor
Mussolinis Absetzung, einig, jene Kräfte in Deutschland zu unterstützen,
die bereit waren, den Schlag zu führen. Unter den Verschwörern waren
sowohl nationalistische und patriotische als auch religiöse Bestrebungen ver-
treten, so daß diese Kräfte, unter denen sich auch Persönlichkeiten be-
fanden, die alles andere als religiös eingestellt waren, äußerlich wie eine
rein politische Bewegung wirkten. Das Sofortziel dieser Verschwörergruppe
war, alles zu retten, was vor dem endgültigen Zusammenbruch noch zu
retten war.
Nach dem Erfolg der Verschwörer in Italien hatte sich der Vatikan - der
so tat, als beobachtete er nur, obwohl er einer der Haupttriebkräfte hinter
den Kulissen der italienischen und deutschen Verschwörung war— von neuem
Hitler und den Westmächten in der Hoffnung genähert, daß ein Kompromiß
zustande käme. Als aber auch diese Bemühungen scheiterten, setzte er alles
daran, die endgültige militärische Katastrophe zu verhindern, bevor eine
neue Regierung in Deutschland die Macht übernahm Das war auch der
Grund, daß der Vatikan im Frühjahr 1944 von neuem so geheimnisvoll
tätig war wie in dem Frühjahr vor dem Sturz Mussolinis. Der Nazibotschafter
stattete dem Papst offizielle und inoffizielle Besuche ab. Das gleiche tat der
britische Botschafter beim Heiligen Stuhl. Auch Roosevelts Sonderbot-
schafter Myron Taylor kehrte nach Rom zurück und bemühte sich, ebenso wie
sein deutscher und sein britischer Kollege, mit Pius XII. unter vier Augen
zu sprechen.
Der Vatikan diente den Alliierten als Verbindungsglied zu den deutschen
Verschwörern, die sich vor die Notwendigkeit gestellt sahen, mit Hitler
Schluß zu machen.
Die deutsche Verschwörergruppe hatte den Rat erhalten, aktiv zu werden,
bevor die Alliierten ihre Invasion in Frankreich begannen. Eine neue
Regierung würde es bedeutend leichter haben, um Frieden nachzusuchen,
als die Nazis. Dadurch könnte eine Besetzung Deutschlands durch so-
wjetische Truppen verhindert werden. Die sowjetischen Armeen mar-
schierten zu dieser Zeit (Frühjahr 1944) unaufhaltsam nach Westen, wäh-
rend die westlichen Alliierten noch nicht einmal ihren Fuß auf den Konti-
nent gesetzt hatten.
Angesichts des Ernstes der Lage entschlossen sich die Verschwörer,
Hitler nicht — wie im Falle Mussolinis — zu verhaften, sondern zu ermorden.
Die militärische Leitung des Staatsstreichs lag in Händen einer Gruppe von
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Offizieren. Zu ihr gehörten Oberst Graf Claus von Stauffenberg, Stabschef
des Ersatzheeres, Major Ulrich von Oertzen, General von Tresckow, Stabs-
chef der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront, und General der Infanterie
Friedrich Olbricht, Chef des Allgemeinen Heeresamtes. Stauffenberg ent-
stammte einer Adelsfamilie, die seit Jahrhunderten tief im Katholizismus
verwurzelt war. Die Familie war für ihren Katholizismus bekannt. Die
Stauff enbergs befürworteten die alte Ordnung der Dinge und verabscheuten
in der Politik alles, was auch nur im geringsten nach Sozialismus roch. Sie
kannten als nationalistische Patrioten und fromme Katholiken nur das eine
Ziel, den Interessen Deutschlands und ihrer Kirche, wie sie sie verstanden,
zu dienen und deren Feinde mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Kaum hatte der Vatikan der Aktion seinen Segen erteilt, da rückte auch
schon ein ergebener Katholik in ihre ersten Reihen auf. (Auch an früheren
Verschwörungen waren Katholiken beteiligt gewesen, aber sie hatten sich
meistens im Hintergrund gehalten.) Ob nun das Aufrücken des Grafen
Stauffenberg auf seine ungewöhnlichen organisatorischen Fähigkeiten
zurückzuführen war oder auf andere Gründe, Tatsache bleibt, daß von dem
Augenblick an, da der Vatikan der Aktion seinen Segen erteilte und die
sowjetischen Armeen von Tag zu Tag der deutschen Grenze näher rückten,
die eifrigen Katholiken in Deutschland aktiver denn je wurden.
Neben dem minutiös ausgearbeiteten militärischen Plan hatten Stauffen-
berg und seine Freunde ein detailliertes politisches Programm entwickelt.
Viele der Mitverschworenen gehörten der christlichen, das heißt katholisch-
konservativen Opposition gegen Hitler an und wurden später führende Mit-
glieder der Christlich -Demokratischen Union des Katholiken Dr. Adenauer
oder der Christlich- Sozialen Union des Katholiken Dr. Müller in West-
deutschland.
Der Plan sah vor, unmittelbar nach der Beseitigung Hitlers eine Militär-
diktatur zu errichten. Diese sollte so lange bestehen, bis die Gefahr revo-
lutionärer Unruhen beseitigt war und man sich mit den Alliierten ge-
einigt hatte. Generaloberst Ludwig Beck sollte die Funktionen eines Staats-
oberhauptes ausüben, solange keine Entscheidung über die endgültige
Regierungsform gefallen war. Dr. Goerdeler, früherer Oberbürgermeister
von Leipzig und Interessenvertreter des Bosch -Konzerns, war als Reichs-
kanzler vorgesehen.
Sobald die revolutionären Kräfte, so hoffte man, auf diesem Weg neutra-
lisiert wären, sollte eine zivile Regierung mit zwei Parlamenten an die
Stelle der Militärdiktatur treten. Dadurch wollte man dem politischen
Kräftespiel wieder Bewegungsfreiheit geben. Um aber der Gesellschaft die
erforderliche „Stabilität" zu sichern, sollte das Parlament unter die Kon-
trolle einer Instanz gestellt werden, was so viel hieß, daß man vorhatte, der
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Regierung einen „König" überzuordnen. Einer der Hauptbeteiligten der
Verschwörung äußerte hierzu:
„Das Parlament sollte, entsprechend dem englischen Vorbild, aus zwei Kammern be-
stehen. Der Reichskanzler sollte als Leiter der Exekutive den Vorsitz in der Regierung
führen. Da aber der Charakter und die Geschichte des deutschen Volkes es nicht zuließen,
daß die Führung ausschließlich von unten aufgebaut würde, sahen wir es für notwendig
an, über eine Stelle zu verfügen, die über dem politischen Meinungsstreit stand. Um
dem Rechnung zu tragen, befürworteten viele von uns die Monarchie."
Die These: „Die Führung kann nicht ausschließlich von unten auf-
gebaut werden", entstammte dem politischen Arsenal des Vatikans, der be-
hauptete, die Autorität stamme von Gott und nicht vom Volk.
Die Verschwörer gewannen viele hohe Offiziere für ihre Sache. Unter
ihnen befanden sich Generaloberst Otto von Stülpnagel, Militärbefehlshaber
in Frankreich, und Generaloberst Alexander von Falkenhausen, Militär -
befehlshaber von Belgien und Nordfrankreich, der enge Beziehungen zum
Primas von Belgien unterhielt.
Die Führer der Verschwörung hatten beschlossen, Hitler während einer
Lagebesprechung in seinem Hauptquartier zu töten. Anfangs gab es große
Schwierigkeiten, Freiwillige für diese Aufgabe zu finden. Schließlich er-
klärte sich Generalmajor Hellmuth Stieff bereit. Major Kuhn und Leutnant
Albrecht von Hagen boten ebenfalls ihre Hilfe an.
Da die für das Gelingen erforderlichen Umstände nicht eintraten, wurde
das Attentat Woche um Woche verschoben, schließlich ließen die Ver-
schwörer alle Hoffnungen fahren. Andere Pläne wurden entworfen, aber kei-
ner führte zum Erfolg. Unter anderem war beabsichtigt, Hitler zu veran-
lassen, seinen Besuch des Mittelabschnitts der Ostfront zu wiederholen, wo
von Tresckow und von Schlabrendorff bereits im März 1943 eine Bombe in
Hitlers Flügzeug geschmuggelt hatten. Aber nichts konnte Hitler bewegen,
sich noch einmal auf diese Reise zu begeben.
Unterdessen überstürzten sich die Ereignisse. Der Termin der alliierten
Invasion rückte heran. Die Verschwörer stellten mit Unbehagen fest, daß so
gut wie nichts getan war, ihre Pläne der Verwirklichung näherzubringen.
„Wir wünschten verzweifelt, noch vor der erwarteten Invasion der Alliierten
unseren Schlag zu führen. Aber ein unglücklicher Zufall folgte dem anderen,
bis am 6. Juni 1944 die Invasion begann."
Die Verschwörer hatten zu dieser Zeit bereits alle Hoffnungen aufge-
geben und beschlossen, das Projekt fallenzulassen. Aber die Vertreter der
christlich -konservativen Opposition waren anderer Ansicht. Wenn auch das
eine Unheil — die alliierte Invasion — bereits hereingebrochen sei, so könne
doch das andere, der Einmarsch sowjetischer Truppen auf deutschen Boden,
noch verhindert werden, vorausgesetzt, daß man keine Zeit verlor.
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Inzwischen wurde die „rote Gefahr" für die Verschwörer ein noch schreck-
licherer Alptraum; am 22. Juni 1944 begann die Sowjetarmee zur Unter-
stützung der alliierten Invasion eine neue gewaltige Offensive. Die Angst
vor dem Bolschewismus trieb die Verschwörer zur Tat. Der ergebene
Katholik Graf von Stauff enberg erbot sich, Hitler umzubringen. Fabian von
Schlabrendorff schrieb darüber:
„Zehn Tage später, vom 22. Juni gerechnet, erhielt ich eine Nachricht von Graf
Stauff enberg. Er war zu der Uberzeugung gelangt, daß es unmöglich sei, länger zu war-
ten. Er seihst wollte Hitler töten. Wir wurden darauf vorbereitet, jeden Tag mit Hitlers
Ermordung zu rechnen.
Stauffenberg war ursprünglich nicht als Attentäter in Betracht gezogen worden, weil
er nur eine Hand hatte, an der obendrein zwei Finger fehlten. Aber er war furchtlos
und fähig und einer der wenigen Verschworenen, die die Möglichkeit hatten, in Hitlers
Nähe zu gelangen."
Am 20. Juli 1944 schritt Stauffenberg zur Tat. Als er an einer Lage-
besprechung in Hitlers Hauptquartier in Ostpreußen teilnahm, stellte er
seine Aktentasche, in der sich eine hochexplosive Ladung befand, neben
Hitler auf den Fußboden und verließ unter einem Vorwand den Raum.
Kurze Zeit darauf erfolgte eine fürchterliche Detonation. Von Stauffenberg,
der sich in diesem Augenblick auf dem Weg zu seinem Flugzeug befand,
zweifelte nicht, daß Hitler und alle, die an der Besprechung teilgenommen
hatten, getötet worden waren.
In Berlin herrschte nach dem Attentat ein wildes Durcheinander. Stauffen-
berg, Olbricht und andere begannen, ihre Pläne zu verwirklichen. Eine der
ersten Maßnahmen, die sie ergriffen, war, den Befehlshaber des Ersatz-
heeres, Generaloberst Fromm, gefangenzunehmen. Aber den Verschwörern
blieben nur wenige Stunden zum Handeln. Hitler war wider alles Erwarten
mit dem Leben davongekommen.
Bezeichnenderweise beeilten sich gewisse halboffizielle Stellen in den
alliierten Ländern, vor allem die BBC und zahlreiche britische und ameri-
kanische Zeitungen — namentlich die katholischen — , den Mann, der den
Versuch gewagt hatte, die Welt von Hitler zu erlösen, als „gläubigen
Katholiken" zu preisen, während man sonst bei politischen Attentätern die
Religionszugehörigkeit möglichst verschwieg.
Stauffenberg und Olbricht wurden ergriffen und auf der Stelle erschossen.
Dem Generaloberst Beck gab man die Möglichkeit, sich selbst zu erschießen.
Andere Teilnehmer der Verschwörung starben unter den Salven der
Hitlerschen Hinrichtungskommandos.
So endete der Plan des Vatikans, der in Italien so reibungslos zum Erfolg
geführt hatte, in Deutschland mit einem Fehlschlag.
Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des mißlungenen Attentats be-
glückwünschte Kardinal Faulhaber persönlich und im Namen seiner Bischöfe
204
Hitler zu der Rettung und ließ in der Münchener Frauenkirche ein Tedeum
singen. Der Vatikan verhielt sich eine Weile still. Dann aber, als ihm nach
dem gescheiterten Attentat seine Machtlosigkeit gegenüber der heran-
nahenden Katastrophe voll zum Bewußtsein kam, begann er von neuem mit
lauten Worten den westlichen Alliierten Ratschläge zu erteilen: Sie sollten
Deutschland gnädig behandeln und unbedingt Maßnahmen ergreifen, um
die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern und das „gottlose Ruß-
land" von der Besetzung Europas abzuhalten.
Als die sowjetischen Armeen auf Berlin vorstießen und das Ende des
militärischen Widerstandes der Nazis herannahte, erneuerte Roosevelt seine
Bemühungen, die Kluft zwischen Moskau und dem Vatikan zu überbrücken.
Im März 1945 entsandte er nach längeren Vorverhandlungen einen weiteren
persönlichen Botschafter, E. J. Flynn, nach Rom. Flynn traf sich mehrere
Male mit dem Papst und dessen Sekretär. Aber die Bemühungen des Präsi-
denten waren wieder erfolglos. Der Papst war unnachgiebiger denn je. Die
nazistischen Armeen begannen sich aufzulösen. Die sowjetischen Truppen
näherten sich der deutschen Hauptstadt, die Truppen der Westmächte be-
setzten die Industriegebiete an Rhein und Ruhr. Im April und Mai brach
die deutsche Wehrmacht zusammen, am 8. Mai 1945 unterzeichneten die
Befehlshaber der drei Wehrmachtsteile die bedingungslose Kapitulation. So
endete Nazideutschland und mit ihm der zweite Weltkrieg in Europa.
Einige Wochen später, als sich die westlichen und die sowjetischen Trup-
pen bereits in dem zerstörten Berlin eingerichtet hatten, als man definitiv fest-
gestellt hatte, daß Hitler tot war, als nach der Öffnung der Konzentrationslager
eine Welle des Entsetzens die ganze Welt aufrüttelte und das deutsche Volk das
Objekt eines weltweiten Zornes der Volker wurde, meldeten sich erstmals wie-
der deutsche Stimmen. Es waren dieselben Stimmen, die das deutsche Volk
während der ganzen Zeit der Hitlerära vernommen hatte; dieselben Stimmen,
die noch wenige Wochen oder Monate zuvor für Hitlers Armeen und für den
„großen Führer" gebetet hatten; dieselben Stimmen, die nur dann gewagt
hatten, gegen Hitler schüchterne Worte des Protestes zu flüstern, wenn
„Verstöße gegen das Konkordat" die gemeinsame Front gegen den Kommu-
nismus gefährdeten.
Nun, da alles vorbei war, begannen die deutschen Kardinäle und Bischöfe,
als sie ausländischen Journalisten die Ruinen ihrer Kirchen zeigten, den
„bösen Nazismus" zu verfluchen, den „wahren Schuldigen all der Zerstö-
rungen an so vielen geheiligten Gebäuden". Sie versicherten den Briten und
Amerikanern immer wieder, daß sie nicht nur zu jeder Zeit den Nazismus
verdammt, sondern ihn auch von seinen ersten Anfängen an bekämpft hät-
ten. Die wunderlichen Behauptungen dieser Würdenträger würden ganze
Bücher füllen. Wir wollen uns hier mit zwei typischen Beispielen solch
205
plötzlichen Gesinnungswandels begnügen, die uns zwei hohe Geistliche ge-
liefert haben, denen wir bereits in diesem Buch begegnet sind: Kardinal
Faulhaber und Erzbischof Gröber.
Wenige Tage nach der deutschen Kapitulation wurde Kardinal Faul-
haber, als er vor amerikanischen Korrespondenten eine heftige Tirade gegen
den Nazismus hielt, gefragt, weshalb er dem früheren Regime so feindlich
gesinnt gewesen sei. Er antwortete, ohne zu zögern: „Weil sich der Nazis-
mus gegen das Christentum und gegen den Katholizismus richtete/* Dann
zählte er auf, welche Schwierigkeiten die Nazis der katholischen Kirche be-
reitet hätten :
1. Der Dienst in der Hitlerjugend fand regelmäßig an Sonntagen statt und überschnitt
sich daher mit dem Gottesdienst.
2. In den Schulen wurde der Religionsunterricht für alle Schüler, die älter als zwölf
Jahre waren, abgeschafft»
3. In Deutschland hatte eine alles vergiftende antichristliche Atmosphäre um sich ge-
griffen.
4. Unablässig wurde Propaganda für den Militarismus getrieben und durch hinterhältige
Methoden versucht, die Kinder dem Einfluß des Elternhauses zu entziehen.
Anschließend erklärte der Kardinal pathetisch: „Man darf nicht zulassen,
daß der Nazismus wiederauflebt." (12. Mai 1945)*
Um dieselbe Zeit veröffentlichte Erzbischof Gröber einen Hirtenbrief, in
dem er zu erklären versuchte, warum eine katholische Erhebung gegen den
Nazismus unmöglich gewesen sei. Er sagte:
„. . . die uns gegenüberstehende brutale und raffiniert organisierte Macht war so
groß, daß wir, zumal wir Christen und Katholiken, an eine Revolution nicht denken
konnten, weil einerseits die Regierung seinerzeit auf Grund einer gültigen Volksab-
stimmung in die Hände der anderen gekommen war und damit als rechtmäßig galt
und weil außerdem jeder Widerstand an der rücksichtslosen, durch keine Gewissens-
bedenken gehinderten Gewalt zerbrach."
Er fuhr fort : „Niemals wurde das deutsche Volk so betrogen wie in den vergangenen
dreizehn Jahren", und fügte in Erinnerung an die Rolle, die er und die katholische Kirche
dabei gespielt hatten, hinzu: „Und doch trifft auch uns, wenigstens vor Gott, manche
Schuld." (Zitiert nach Amtsblatt für die Erzdiözese Freiburg, 12. Mai 1945)
Und dann, Monate nach dem Zusammenbruch Deutschlands, angesichts
der Millionen obdach- und heimatloser, verkrüppelter, gedemütigter und
verstörter deutscher Menschen, angesichts Tausender ausgebrannter und
* Als die ersten psychologischen Auswirkungen des nazistischen Zusammenbruchs
etwas abklangen, begannen sofort wieder einige Angehörige der deutschen Hierarchie
den Nazismus zu verteidigen. Ein typisches Beispiel war Kardinal von Galen, der im
Februar 1946 in der Kirche von Santa Maria dell'Anima eine Botschaft zur Verteidigung
des Nazismus verlas. Die Botschaft erschien kurz darauf als Pamphlet unter der "Über-
schrift „Gesetz und Gesetzlosigkeit" und wurde anfangs in der britischen Zone, später
auch in anderen Teilen des besetzten Deutschlands verbreitet. (Siehe Kirchliches Amts-
blatt für die Diözese Münster, Juli 1946)
206
eingestürzter katholischer Kirchen, angesichts der Ruinen stolzer Dome, deren
rauchgeschwärzte Gemäuer anklagend zum Himmel emporstarrte — ange-
sichts all dessen wagte es der Papst endlich und zum erstenmal seit dem
Jahre 1953, das Wort „Nazismus" in verurteilendem Sinn in den Mund zu
nehmen und gelegentlich einer kurzen Ansprache zu erklären, daß es „eine
gute Tat" gewesen sei, den „satanischen Nazismus" zu vernichten.
Das war alles. Der Papst hatte, wenn auch Monate nach der Kapitulation
Nazideutschlands, doch noch seine Stimme gegen den Nazismus erhoben.*
* Als die vier Alliierten Ende 1945 vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürn-
berg den Prozeß gegen eine Reihe prominenter Naziführer begannen, entsandte Pius XII.
den Freiherrn von Weizsäcker nach Nürnberg, nachdem er mit ihm eine lange Unter-
redung gehabt hatte. Weizsäcker war bis 1945 Nazibotschafter beim Vatikan gewesen.
Nun sollte er vor dem Internationalen Gerichtshof jene decken, die Hitler an die Macht
gebracht hatten. Wie zu erwarten, verlor er dabei nicht ein einziges Wort über die Rolle
Pius* XI. und des Nuntius Pacelli, des späteren Pius XII., und der deutschen Kardinäle
und Bischöfe. Im Gegenteil. Der Anklagevertreter der USA, Richter Jackson, bedankte
sich öffentlich beim Vatikan, daß er „dem Nürnberger Gerichtshof Dokumente zur Ver-
fügung gestellt" habe, die die „Anklage der Religionsverfolgung in Deutschland und
anderen Ländern erhärteten" (Richter Jackson in einer Erklärung an den N. C. W. C.
News Service, Washington, August 1946). Als der Vatikan den Siegern half, die Besiegten
verurteilte und sich selbst als ein Opfer des Naziregimes hinstellte, bemühte er sich
gleichzeitig, allen jenen Nazis beizustehen, die der katholischen Kirche in Nazideutsch-
land und seinen Satellitenländern zu ihrer privilegierten Stellung verholf en hatten. Dies
betraf vor allem Franz von Papen (siehe Prawda und Osservatore Romano, dritte März-
woche 1946), der am 1. Oktober 1946 freigesprochen wurde, Dr. Tiso, den Ministerprä-
sidenten der Slowakei (hingerichtet 1947), und Arthur Greiser, den früheren Gauleiter
des „Warthegaus", der am 15. Juli 1947 zum Tode verurteilt wurde. Bezeichnend für die
Nachkriegspolitik des Vatikans in Deutschland ist außerdem, daß der erste Kanzler der
westdeutschen Bundesrepublik, Dr. Konrad Adenauer, ein ergebener Katholik und der
Führer der wiedererstandenen katholischen Partei, der CDU, ist und daß der erste
Bundespräsident Westdeutschlands, Dr. Theodor Heuß, 1953 im Reichstag für Hitlers
Ermächtigungsgesetz stimmte.
kapitel xii Österreich und der Vatikan
Die österreichische Monarchie und der Vatikan - Liberalismus, Freiherr von Vogel-
sang, katholische Partei - Vormarsch des Sozialismus. Das rote Wien - Erste Schritte
auf dem Weg zu einer katholischen Diktatur - Seipel, der Priester und Diktator - Stände-
staat - Päpstliche Föderation - Erste blutige Auseinandersetzungen zwischen Faschismus
und Arbeiterbewegung - Faschistisches Machtstreben - Offene Allianz des bewaffneten
österreichischen Faschismus mit Hitler - Dollfuß, der Diktator im Westentaschenformat -
Aufdeckung einer internationalen faschistischen Verschwörung. Ihre Auswirkung auf
die innere Lage Österreichs - Ausschaltung des Parlaments - Katholische Diktatur. Das
Konkordat - Katholische Schutzstaffeln - Weshalb es der katholischen Kirche nicht
gelang, die österreichische Bevölkerung für sich zu gewinnen - Katholische Sozialisten-
Verfolgungen - Dollfuß* Bemühungen um ein Abkommen mit Hitler - Dollfuß 1 Ermor-
dung - Dr. Schuschnigg, der dritte katholische Diktator - Wachsender Einfluß des Vati-
kans auf Österreichs Innenpolitik — Schuschniggs Weigerung, Österreich den Nazis
auszuliefern - Das Treffen mit Hitler - Der katholische Diktator bittet die Sozialisten
um Hilfe - Der Betrug des Vatikans - Österreichs Ende.
Osterreich war einer der katholischsten Staaten Europas, ein Land, in dem
der Katholizismus tief im sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und
politischen Leben wurzelte. Dies hatte seine Gründe vor allem in der jahr-
hundertelangen engen Verbindung zwischen Kirche und Dynastie. Einer
stützte den anderen.
Dieses enge Bündnis kann man zurückverfolgen bis ins 16. Jahrhundert.
Damals begann in Österreich die Gegenreformation mit Hilfe der
Jesuiten, die seitdem das Leben des Landes beherrschten. Ihr Ziel war die
Ausrottung des Protestantismus. Österreich erhob als erstes europäisches
Land die Waffen gegen die Anhänger der Lutherschen Lehre und leistete
dadurch dem Katholizismus wertvolle Dienste. Der Kampf dauerte lange
und wurde von der Kirche und von dem mit ihr verbundenen Herrscher^
haus mit den grausamsten Methoden geführt. Am Ende des Dreißigjährigen
Krieges, für den das Haus Habsburg die Hauptverantwortung trägt, hatte
die Gegenreformation in Österreich ihr Ziel fast erreicht. Die katholische
Kirche erhielt von den Habsburgern besondere Privilegien, besonderen
Schutz und besondere Hilfe und ließ als Gegenleistung der absoluten theo-
kratischen Monarchie, der „Lieblingstochter des Katholizismus", all ihren
Segen zukommen. Alle moralischen und religiösen Waffen der Kirche wur-
den eingesetzt, um jeden auch nur potentiellen Feind des Kaiserhauses und
der Kirche — im 19. Jahrhundert den Säkularismus und Liberalismus, im
20. Jahrhundert den Sozialismus - zu bekämpfen.
Kirche und Kaiser gingen trotz ihrer engen Interessengemeinschaft in
der Geschichte nicht immer denselben Weg. Die Habsburger machten sich
208
oft selbständig, wenn politische Ziele ihnen winkten. Philipp II. von Spanien
ließ Häretiker verbrennen und zettelte zur gleichen Zeit einen Krieg gegen
den Papst an. Die Habsburger in Österreich wahrten ihre Rechte gegenüber
der Kirche und bestanden darauf, daß der Staat die Kirche unter seiner Kon-
trolle behielt. Zur Zeit der Aufklärung wurde diese Tendenz so stark, daß
die Kaiserin Maria Theresia das Placetum regium einführte, das der Kirche
untersagte, päpstliche Botschaften in Österreich zu verbreiten, die nicht
zuvor die Zustimmung des Kaisers gefunden hatten. Die österreichischen
Herrscher kannten sehr gut den Einfluß, den Rom in einem katholischen
Lande ausüben konnte. Der persönliche Ehrgeiz des Papstes mußte für die
Fälle unter Kontrolle gehalten werden, in denen die Politik der Kirche nicht
der des Hauses Habsburg entsprach.
Im Laufe der Zeit wurden die Verbindungen zwischen den Österreichischen
Herrschern und der katholischen Kirche so eng, daß sich der österreichische
Kaiser offen und offiziell in die Papstwahl einmischen durfte. Er hatte das
Recht, den in der Konklave versammelten Kardinälen die Wahl eines be-
stimmten Papstes zu empfehlen oder zu verbieten. Der letzte Fall dieser Art
ereignete sich kurz vor dem ersten Weltkrieg.
Nach dem Tod Leos XIII. beauftragte Kaiser Franz Joseph den Kardinal
Puzyna, seinen Kardinalskollegen, die für ihre Erleuchtung durch den
Heiligen Geist bei der Papstwahl beteten, mitzuteilen, daß der als Nach-
folger Leos XIII. in Aussicht genommene Kardinal Rampolla nicht gewählt
werden dürfe. In der Konklave waren zwei Richtungen vertreten. Die einen
wünschten einen Papst, der zu der reaktionären Politik vor Leo XIII. zurück-
kehrte. Die anderen wollten einen Papst mit gemäßigten Ansichten. Der
österreichische Kaiser war für einen Papst reaktionärer Richtung. Und er
bekam seinen Willen. Als die meisten Kardinäle für Rampolla stimmten,
wußten sie nicht, daß einer unter ihnen bereits das kaiserliche Veto in der
Tasche hatte. Als die Wahl Rampollas schon so gut wie gesichert schien,
erhob sich Kardinal Puzyna und verlas das Veto. Die Kardinäle waren be-
stürzt, gehorchten aber dem kaiserlichen Befehl. Rampolla wurde nicht
Papst. An seine Stelle trat der reaktionäre Patriarch von Venedig, der als
Pius X. den päpstlichen Thron bestieg.
Österreich war ein buntes Gemisch von Nationalitäten, Rassen und
Religionen, sein Kaiser regierte auch im 19. Jahrhundert noch als absoluter
Monarch. Die Jesuiten waren allmächtig und beherrschten das Erziehungs-
wesen und, wenn auch nur mittelbar, die Politik. Das Habsburgerreich
jener Zeit war zu vergleichen mit einem fest gekitteten Block, in den, dank
der engen Allianz des Herrscherhauses mit der katholischen Kirche, keinerlei
fortschrittliche Ideen eindringen konnten. Es wurde oben wie unten regiert
von der heiligen Dreieinigkeit der Aristokratie, Bürokratie und Hierarchie,
14 M359
209
die untereinander durch Herkunft, Religion und Tradition verbunden
waren.
Aber die Ideen der Französischen Revolution hatten sich nicht vergebens
über ganz Europa verbreitet. Österreich wurde ebenso wie andere Länder
des Kontinents von Unruhen erfaßt. Revolutionen brachen aus. Sie wurden
mit der für das fromme Haus Habsburg bezeichnenden Grausamkeit unter-
drückt. Trotzdem faßten die liberalen Lehren auch in Österreich schritt-
weise Fuß und begannen das soziale und politische Leben zu beeinflussen.
Wir können diesen interessanten Prozeß hier nicht näher untersuchen und
müssen uns mit der Feststellung begnügen, daß in den siebziger Jahren des
19. Jahrhunderts die Regierung Taaffe, die vierzehn Jahre lang im Amt
war, mit aller Kraft gegen die Häresien des Liberalismus ankämpfen mußte,
der täglich weiter um sich griff. Quelle dieser Feindschaft war die katholische
Kirche, die den Liberalismus bezichtigte, für religiöse Gleichberechtigung
einzutreten.
Die antiklerikale Einstellung erheblicher Teile der Bevölkerung war
eine natürliche Reaktion auf die Bemühungen der katholischen Kirche, vor
allem nach der Revolution von 1848, als Gegengewicht gegen den demokra-
tischen Gedanken, dessen Siegeszug damals auch in Österreich nicht auf-
zuhalten war, die eigene Position zu festigen. Der Vatikan erhielt 1855 von
den Habsburgern ein Konkordat, das der Kirche weitere Privilegien sicherte.
Ziel des neuen Konkordats war, die liberalen Ideen auszurotten, die so ge-
fährlich waren, weil sie die Jugend in ihren Bann zogen. Daher übertrug
das Konkordat der katholischen Kirche die Aufsicht über das gesamte Er-
ziehungswesen. Die Kirche befahl den religiösen Orden und den Gemeinde-
pfarrern, die neue Gegenreformation — richtiger Gegenrevolution — als ihre
wichtigste Aufgabe anzusehen.
Obwohl der Katholizismus vor allem auf dem Lande ein fester Bestandteil
des Lebens jedes Österreichers war, rief das Konkordat bei vielen offenen
Widerspruch hervor und weckte allerorts antireligiöse Stimmungen. Vor dem
Aufkommen des Liberalismus wäre das undenkbar gewesen. Man nahm die
Herausforderung der katholischen Kirche an und trat ihrem Herrschafts -
anspruch auf fast allen Gebieten entgegen. Die antiklerikale Einstellung des
Liberalismus war für große Teile des Volkes Anlaß, sich ihm anzuschließen.
In Wien faßte der Antiklerikalismus tiefe Wurzeln. Jahrzehntelang
wagten die Priester nicht, in Wien auf öffentlichen Versammlungen zu
sprechen. Trotz aller Anstrengungen der Kirche und der herrschenden
Kreise Österreichs gewannen der Liberalismus und die demokratischen Ideen
immer mehr an Boden. Daraufhin beschloß die katholische Kirche, ihre
Feinde in der politischen Arena zu bekämpfen. Eine katholische politische
Bewegung wurde ins Leben gerufen.
210
Die Österreichische katholische Partei hatte von Anfang an einen starken
antisemitischen Einschlag. Karl Lueger, einer der hervorragendsten Ver-
treter des politischen Katholizismus in Österreich, erklärte, der Katholizis-
mus könne, namentlich in Wien, nur dann eine politische Massenbewegung
werden, wenn er in den Massen den Antisemitismus wecke. Mancher wird
dies nicht glauben wollen, da man heute gewohnt ist, vom Vatikan hin und
wieder Worte zugunsten der Juden zu hören. Aber es gibt andere Beispiele
der Verbindung zwischen politischem Katholizismus und Antisemitismus.
Luegers Gruppe nannte sich lange Zeit hindurch einfach „antisemitisch".
Später taufte sie sich um und nannte sich „Christlich -Soziale Partei". Unter
diesem Namen existierte sie bis 1934.
Die katholische Partei bezog ihre Theorien weniger von Lueger als von
dem Freiherrn von Vogelsang, einem Sozialwissenschaftler und gläubigen
Katholiken, der jahrzehntelang gelehrt hatte, der politische Katholizismus
in Österreich müsse ein ebenso mächtiges Instrument der Kirche werden
wie die deutsche Zentrumspartei.
Vogelsang ließ sich bei der Ausarbeitung seiner Theorien von den Sozial-
lehren der katholischen Kirche und von den päpstlichen Enzykliken leiten,
hielt aber im Gegensatz zum Papst Profitmacherei für unvereinbar mit dem
Evangelium. Er entwickelte daher einen Plan der Gesellschaft, in dem jeder
„Stand" seine wohlverdienten Rechte und Pflichten haben und das gesamte
wirtschaftliche Leben entsprechend den im Mittelalter herrschenden Grund-
sätzen gelenkt werden sollte. Kurz, er wollte die mittelalterlichen Zünfte
Wiederaufleben lassen und einen Ständestaat schaffen. Dieser Gedanke wurde
später vom Faschismus übernommen. Vogelsang verlangte, den religiösen
Eifer des Mittelalters wiederzuerwecken. Ein Katholizismus dieser Art sei,
so lehrte er, das beste Mittel gegen Liberalismus, Sozialismus und ähnliche
Übel des modernen Wirtschaftslebens.
Gewisse Teile des Vogelsangschen Programms hatten Ende des vorigen
Jahrhunderts ihren Niederschlag in Gesetzen gefunden, da die christlich-
soziale Bewegung Einfluß gewonnen hatte und ihre Pläne den Interessen
gewisser konservativer Kreise entsprachen. So wurde tatsächlich das Zunft-
system wiedereingeführt und der Handwerkerstand zu neuem Leben er-
weckt. Zahlreiche Bestimmungen regelten zum Beispiel die Anzahl der
Meister in jedem Zunftzweig und der ihnen zugeteilten Lehrlinge und legten
eine langjährige Lehrzeit fest.
Die Idee des Ständestaats wurde, ähnlich wie in Italien, sowohl von der
Aristokratie und der Geistlichkeit als auch von den niederen Schichten des
Mittelstandes begrüßt. Der Vatikan billigte sie offiziell und inoffiziell, und
der katholische Geistliche Seipel machte sie nach dem ersten Weltkrieg zu
einem Eckstein seines antisozialistischen Programms. Wir finden dieselben
211
Gedanken später in der Enzyklika Quadragesimo Anno wieder, mit der wir
uns bereits beschäftigt haben.
Auf Luegers Anregung fanden an bestimmten katholischen Festtagen, die
bislang nur in engerem Rahmen gefeiert wurden, große öffentliche Ver-
anstaltungen mit pomphaften Prozessionen statt. Die Stadtverwaltung von
Wien achtete darauf, daß ihre Angestellten und die Schulkinder regelmäßig
am kirchlichen Leben teilnahmen. Außerdem wurde auf Luegers Initiative
ein großer Kaiserkult betrieben. Lueger hegte eine tiefe Verehrung
für die Kirche und für das Kaiserhaus und glaubte, durch Glanz- und
Machtentfaltung dem Volk diese Institutionen am besten nahezubringen.
Kurz nach seinem Tod (1911) wurde seine Partei bei den allgemeinen
Wahlen so vernichtend geschlagen, daß sie sich von dieser Niederlage nie
erholte.
Die Sozialisten hatten inzwischen trotz allem an Macht und Einfluß ge-
wonnen. Unter ihrer Anleitung organisierten die Arbeiter eigene Gewerk-
schaften. Diese verdrängten rasch die Organisationen der Katholiken und
Nationalisten und sicherten sich das alleinige Recht auf die Organisierung
der Arbeiterschaft. Das Programm der Sozialisten übte außerdem eine
starke Anziehungskraft auf die Intelligenz und auf gewisse Teile des
Kleinbürgertums aus.
Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts war vor allem dem Kampf
der sozialistischen Bewegung zu verdanken. Seit 1906 hatten auch die Ar-
beiter das Stimmrecht. Eine starke sozialistische Gruppe zog in das Parla-
ment ein. Auch in den Gemeindeverwaltungen und im Staatsapparat
verschafften sich die Sozialisten immer stärker Geltung.
Die katholische Kirche hatte den Sozialismus von Anfang an bekämpft.
Als er trotzdem weiterwuchs, schien es ihr geboten, ihn offen zum Kampf
herauszufordern. Sie erklärte die sozialistische Überzeugung für sündhaft,
verdammte die sozialistische Idee, boykottierte die sozialistischen Organi-
sationen und predigte und hetzte gegen alles, was die Sozialisten taten. Aber
sie erreichte damit genau das Gegenteil. Die Arbeiter begannen in der Kirche
ihren Feind zu sehen. Die Arbeiterklasse wurde antikatholisch und athe-
istisch, die Freidenkerorganisationen wuchsen.
Diese besondere Situation in Österreich, die lange vor dem ersten Welt-
krieg bestand, war darauf zurückzuführen, daß, wie wir bereits erwähnten,
der Katholizismus in Österreich seit langem und weit mehr als anderswo
eine politische Macht war. Er war stets eng mit der Monarchie ver-
bündet und hatte seine Sorgen um soziale Probleme stets den Interesseif
der Kirche und der Monarchie untergeordnet. Die Bevölkerung setzte die
katholische Kirche mit der Dynastie des Hauses Habsburg gleich. Die
katholische Kirche war viel mehr als in anderen Ländern ein unlösbarer
212
Bestandteil der herrschenden Klassen geworden. Sie behandelte die Sozialisten
und alle ihre Grundsätze mit Abscheu und verdächtigte sie der Illoyalität.
Der Kampf zwischen der Kirche und den Sozialisten wurde daher in
Österreich mit einer Erbitterung geführt, wie man sie in Deutschland
niemals kannte.
Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg gab es zahlenmäßig im wesent-
lichen nur noch zwei Hauptkräfte in der politischen Arena Österreichs: die
Katholiken und die Sozialdemokraten. Sie hielten sich stärkemäßig etwa
die Waage.
Die katholische Partei stützte sich 1919 im wesentlichen auf die Land-
bevölkerung, wenn auch ein Teil der Landarbeiter für die Sozialdemokraten
stimmte. Die Sozialdemokraten hatten die Arbeiterklasse organisiert und
erhöhten in den folgenden Jahren die Anzahl ihrer Mitglieder auf die für
ein Land von kaum 6,5 Millionen Einwohnern erstaunliche Zahl von
700000. Bei den ersten Nachkriegsgemeindewahlen erhöhten sie in Wien
die Anzahl ihrer Stimmen um 120000 und außerhalb Wiens, wo sie ins-
gesamt 830000 Stimmen erhielten, zur größten Verwunderung des
Vatikans um 90000. Die Österreichische Sozialistische Partei war in
den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, wenn man die Anzahl der Mit-
glieder mit der Gesamtbevölkerung vergleicht, die stärkste sozialdemo-
kratische Partei der Welt.
Die Reaktion sah diesem sozialdemokratischen Vormarsch nicht tatenlos
zu. An der Spitze der antisozialistischen Kräfte stand die katholische Kirche
und ihre Hierarchie, gestützt auf die bäuerliche Bevölkerung, auf die ge-
samte jüdische und nichtjüdische Bourgeoisie und auf die alte Aristokratie.
Die Sozialdemokraten hatten von der Gründung der Republik an mit den
Katholiken in einer Koalitionsregierung gesessen. Diese Regierung stand an-
fangs stark unter sozialdemokratischem Einfluß, wurde jedoch nach dem
Zusammenbruch der ungarischen Räterepublik zugunsten der Katholiken
umgebildet Aber die Massen duldeten nicht lange, daß sich die Sozialdemo-
kraten an einer Regierung unter katholischer Vorherrschaft beteiligten,
1920 traten die Sozialdemokraten aus der Regierung aus.
Wenn die Sozialdemokraten auch die Bundesregierung verließen, so blie-
ben sie doch in den Länderregierungen und Gemeinden, in denen ein großer
Teil der Staatsmacht lag. Während des Bestehens der ersten österreichischen
Republik beteiligten sich die Sozialdemokraten an sechs von neun Provinzial-
regierungen und errangen bei allen Wahlen 40 Prozent der abgegebenen
Stimmen. Auf diese Weise wohnten 47 Prozent der Gesamtbevölkerung in
Gemeinden, deren Verwaltung in der Hand der Sozialdemokraten war.
Die Sozialdemokraten benutzten ihren Einfluß in den Gemeinden, ein
großes Reformprogramm zu verwirklichen. Unter diesen Gemeinden war
213
Wien die wichtigste. Dort beherrschten die Sozialdemokraten, da sie über an-
nähernd zwei Drittel aller Stimmen verfügten, die Stadtverwaltung fast völlig.
Die Katholiken und anderen Antisozialisten versuchten die großen An-
strengungen der Sozialdemokraten auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge
und des Wohnungsbaus für die werktätigen Menschen als Beweis einer
„schleichenden Bolschewisierung" hinzustellen und dadurch die Sozial-
demokraten zu diskriminieren.
Bemerkenswert bei den österreichischen Sozialdemokraten war auch, daß
sie die katholische Kirche weder in Wien noch sonst in Österreich irgendwie
verfolgten, obwohl sie in ihr einen politischen Gegner sahen und durchaus
die Möglichkeit dazu gehabt hätten. Sie vermieden es peinlichst, „roter Aus-
schreitungen" beschuldigt zu werden. Dies stand in krassem Gegensatz zu
dem Verhalten zahlreicher katholischer Regierungen, die mit ihren Gegnern
oder auch nur Kritikern brutal umsprangen.
Die Katholiken und alle anderen reaktionären Elemente wurden sowohl
legal als auch illegal von Tag zu Tag aktiver. Gerüchte liefen um, daß sie
versuchen wollten, die Macht der Sozialdemokraten mit undemokratischen
Mitteln zu brechen; sie hatten erkannt, daß die Sozialdemokraten stärker
wurden, solange demokratische Zustände herrschten. Um sich gegen die
reaktionären Umtriebe zu schützen, riefen die Sozialdemokraten den „Re-
publikanischen Schutzbund" ins Leben, eine starke, disziplinierte und be-
waffnete Organisation, die bereit war, für die Verteidigung der Demokratie
und der Sozialistischen Partei zu kämpfen.
Während sich in Österreich die reaktionären Kräfte noch sammelten,
hatten sie im Ausland bereits begonnen, die Macht an sich zu reißen und
einen faschistischen und halbfaschistischen Staat nach dem anderen zu er-
richten. Die Ereignisse zeigten unmißverständlich, in welche Richtung
Österreich und ganz Europa gedrängt werden sollten.
Kurze Zeit nach dem ersten Weltkrieg trat ein Theologe, Prälat Seipel,
an die Spitze der katholischen Partei. Er war im letzten kaiserlichen Kabinett
der österreichisch -ungarischen Monarchie Minister gewesen und galt un-
bestritten als der Kopf der klerikalen Partei. Er hatte sich das Lebensziel
gesetzt, die politische Macht der katholischen Kirche und des Hauses Habs-
burg wiederherzustellen.
Seipel war ein Asket und verstand es hervorragend, im Interesse der Er-
weiterung der kirchlichen Macht zu intrigieren. Er aß, betete und schlief
im Kloster Zum Heiligen Herzen Jesu. Während seiner jahrelangen Kanzler-
schaft konnten auch dringende Staatsgeschäfte ihn nicht abhalten, regel-
mäßig seinen religiösen Pflichten und seinen Aufgaben als Geistlicher dieser
Nonnenkongregation nachzukommen. Täglich um sechs Uhr morgens las er
in der Kapelle des Klosters die Messe.
214
Obwohl Seipel nicht der Gesellschaft Jesu angehörte, besaß er alle Eigen-
schaften, die man gewöhnlich einem Jesuiten zuschreibt. Er konnte zum
Beispiel nicht auf eine klare Frage mit einem klaren Ja oder Nein antworten.
Gegen die Arbeiterbewegung und alles, was mit ihr zusammenhing, hegte er
einen tiefen Abscheu. Auch der Säkularismus, der Modernismus und der
Liberalismus waren ihm zuwider. Neben der Stärkung der kirchlichen Macht
sah er seine Hauptaufgabe darin, die Linke zu vernichten. Sie war für
ihn der „rote Antichrist". Man nannte ihn den „Kardinal ohne Milde".
Zweimal wäre er beinahe von einer aufgebrachten Menge erschlagen
worden.
Bevor wir uns die Geschichte seines Lebens näher ansehen, ist es ange-
zeigt, die Ideen und Ziele kennenzulernen, die Seipel in seiner Innen- und
Außenpolitik verfolgte. Das ist deshalb so wichtig, weil sich die öster-
reichische Regierung bis zur Annexion Österreichs durch Hitler, vor allem
in der Innenpolitik, ausschließlich von den Grundsätzen Seipels leiten ließ.
Diese Grundsätze gewinnen an Bedeutung, wenn man bedenkt, daß sie vom
Papst nicht nur gebilligt, sondern sogar inspiriert wurden. Seipel stand in
den letzten Jahrzehnten seines Lebens fortwährend in engster Verbindung
mit dem Papst und dessen Kardinalstaatssekretär und entwickelte seine ge-
samte Politik auf der Grundlage der Richtlinien des Vatikans.
Das Hervorstechendste an Seipels politischer Konzeption war die völlige
Unterordnung aller politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen unter
die Interessen der Kirche. Und für Seipel waren die Interessen der Kirche
identisch mit der Beibehaltung der bestehenden Ordnung oder, genauer, mit
der Rückkehr zu der sozialen Ordnung der Vorkriegszeit. Er war ein Feind
jeder sozialen Reformbewegung, mochte sie noch so großen Anklang unter
der Bevölkerung finden, und haßte alle Organisationen der sozialistischen
Arbeiterbewegung. Als er einmal mit einem französischen Jesuiten, der
weitgehende soziale Reformen für erforderlich hielt, disputierte, rief er aus :
„More capitalistico vivit ecclesia catholica." — „Die katholische Kirche lebt
auf kapitalistische Weise."
In Wirtschaftsfragen ließ er sich von Bankiers und Industriellen beraten,
deren Interessen mit den seinen harmonierten. Er sah den idealen gesell-
schaftlichen Zustand darin, die alte hierarchische Gesellschaftsstruktur
wiedereinzuführen und die Macht der Geistlichkeit wiederherzustellen.
Mehrmals erklärte er offen, daß es untragbar sei, die Beschränkungen, die
der Kirche von der Republik auferlegt worden seien, weiter zu dulden.
Nach Seipels Ansicht war die politische Macht der Sozialdemokraten die
Hauptursache für den mangelnden Einfluß der Kirche. Er und die katho-
lische Partei identifizierten sich rückhaltlos mit der Sache der Unter-
nehmer.
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Seipels Ideen über den Aufbau der neuen Gesellschaft waren ultrakatho-
lisch und in ihren Grundzügen von den päpstlichen Erklärungen beeinflußt,
die wir am Anfang dieses Buches kennengelernt haben. Anfangs setzte er
das Programm des Freiherrn von Vogelsang fort, dessen ganzes Denken
sich in der Idee der Stände erschöpfte. Seipel begann Vogelsangs Theorien
in die Praxis umzusetzen. Seine Nachfolger führten dieses Werk fort. Sei-
pels Antipathie gegen den Sozialismus und seine Überzeugung, daß es not-
wendig sei, den Massen eine katholische Sozialordnung zu bieten, die auf
der Wiedererweckung der mittelalterlichen Zünfte beruhte, fanden die volle
Billigung des Vatikans. Der Papst bat daher Seipel, bei der Abfassung der
Enzyklika mitzuwirken, die allen Politikern für die Bildung von Stände-
staaten die Hilfe des Vatikans anbot. Seipel rückte zu einem „Berater" des
Papstes auf. Seine Ideen gingen in das Arsenal des internationalen Katholi-
zismus ein.
Seipel scheute sich nicht, die Doktrinen seines Lehrers Vogelsang dort
zu verändern, wo es ihm nützlich schien. Vogelsang hatte vor allem die
sozialen Probleme gesehen und die politischen ihnen untergeordnet oder
höchstens gleichgestellt. Seine Ständehierarchie war von ihm als eine Bar-
riere gegen den Kapitalismus gedacht. Sie sollte die Einführung moderner
Arbeitsmethoden verhindern und dem Handwerk seinen angestammten
Platz erhalten.
Seipel sah in der Ständehierarchie genau das Gegenteil. Er wollte mit
ihr die Industrie, den Kapitalismus, die Banken und ihre Eigentümer vertei-
digen. Seine Stände waren gerade zu deren Schutz gedacht. Jeder Versuch,
die wirtschaftliche Unabhängigkeit dieser Gruppen einzuschränken, waren
nach seiner Meinung ein Verstoß gegen die „natürliche Ordnung der
Dinge".
Seipels Stände waren keine Instrumente der sozialen Ordnung, sondern
vor allem Mittel zur Erlangung einer politischen Vorherrschaft. Nach
Seipels Plänen sollten die Stände ihre Vertreter in das Parlament wählen
und dadurch ein Gegengewicht gegen die „Vorherrschaft der bloßen Zahl"
schaffen, wie sie in demokratischen Wahlen zum Ausdruck kommt. Kurz
gesagt, die Stände sollten wiedererweckt werden, um die Kraft und den Ein-
fluß der Sozialdemokraten zu brechen. Durch das schrittweise Einschleusen
dieser Ideen in den Staatsapparat half Seipel in Österreich die Demokratie
zerstören und die Sozialdemokraten ausschalten. Dadurch ebnete er dem
Faschismus in Österreich den Weg.
Entsprechend dieser Sozialpolitik entwickelte Seipel ein außenpolitisches
Programm, das ebenfalls die Billigung des Vatikans fand. Diese Außen-
politik beschleunigte, wie wir später sehen werden, die innere Zersetzung
und damit die Auflösung der Tschechoslowakischen Republik. Seipel träumte
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von der Gründung eines neuen Heiligen Römischen Reiches, oder einfacher:
Er wollte alle Staaten und Staatsteile, die dem katholischen Glauben an-
gehörten und früher Teile der österreichisch -ungarischen Monarchie waren,
in einem Reich vereinen. Wien sollte die Hauptstadt und Österreich das
Zentrum dieses Reiches werden.
Jugoslawien sollte nach Seipels Plan das katholische Kroatien abtreten,
das etwa ein Drittel des gesamten jugoslawischen Territoriums ausmachte
und in religiösem Gegensatz zur serbischen Metropole stand. Von der
Tschechoslowakei sollte die katholische Slowakei abgetrennt werden, um sie
dem Einfluß der „hussitischen Häretiker" und „freidenkerischen Tschechen"
zu entziehen und mit einem Teil Ungarns unter rumänischer Oberhoheit zu
vereinen.
In Ungarn wollte Seipel einen katholischen Herrscher einsetzen — ge-
dacht war an einen Sprößling des Hauses Habsburg — , um dadurch den
Kalvinisten die Gewalt über die katholische Bevölkerung zu entreißen. Aber
das war nur der Anfang. Falls die Umstände günstig wären, sollte auch
Bayern in das neue Reich eingegliedert werden. Frankreich hatte seit langem
alle Bemühungen unterstützt, dieses Land von Deutschland zu trennen.
Auch Elsaß -Lothringen wurde in den Plan einbezogen. So sollte ein katho-
lisches Reich entstehen, eine päpstliche Föderation, in die sich der Vatikan
flüchten könnte, falls das Schlimmste einträte und Rom dem internationalen
Kommunismus und atheistischen Bolschewismus in die Hände fiele.
Die Verwirklichung dieses Planes sollte in Etappen vor sich gehen: Schaf-
fung einer Donauföderation; Abschluß einer Reihe von Zoll- und Handels-
abkommen; schrittweise Annäherung und Zusammenführung der Glieder
des künftigen Reiches ; Herausbildung einer neuen Nation unter der Schirm-
herrschaft der katholischen Kirche und Wiederherstellung des Friedens in
Mitteleuropa.
Seipel hatte diesen Plan bis in alle Einzelheiten durchdacht. Ja, er hatte
sogar den künftigen Herrscher seines Reiches bereits ausgewählt: den Sohn
der Kaiserin Zita, den jungen Otto von Habsburg, der in einem Benedik-
tinerkloster in Luxemburg erzogen worden war. Seipel verbündete sich mit
den Legitimisten in Ungarn und veranlaßte den Vatikan, Dr. Jusztinian
Seredi zum Primas von Ungarn zu ernennen; damit war ein weiterer Beweis
für die päpstliche Beteiligung an diesem Plan erbracht.
So also sah Seipels außenpolitische Konzeption aus, die außenpolitische
Konzeption eines katholischen Prälaten, der seine Politik in enger Verbindung
mit dem Vatikan plante und durchführte. Untersuchen wir nun, wie weit
er mit dieser Konzeption kam.
Wir haben bereits festgestellt, daß die reaktionären Kräfte, angeführt
von der katholischen Kirche, Maßnahmen vorbereiteten, um die Macht der
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„atheistischen Sozialisten" zu brechen. Zu diesen Maßnahmen gehörte die
Aufstellung illegaler, bewaffneter, antisozialistischer Gruppen, die syste-
matisch darauf gedrillt wurden, in den kleineren Städten des Landes füh-
rende Sozialdemokraten umzubringen.
Anfang 1927 sprach in Wien ein Gericht, das sich überwiegend aus
Sozialistengegnern zusammensetzte, Heimwehrleute frei, die mehrere poli-
tische Morde begangen hatten. Dieser Freispruch war nur ein Glied in einer
Kette ähnlicher Rechtsbrüche zugunsten der reaktionären Kräfte. Unter
den Arbeitern wuchs die Überzeugung, daß die Gerichte ihnen keinen
Schutz mehr gegen politische Morde böten. Eine spontane Massendemon-
stration überflutete am Vormittag des 15. Juli 1927 die Straßen Wiens. Die
Polizei eröffnete das Feuer auf die Demonstranten. Die empörte Menge
stürmte den Justizpalast, der für sie das Symbol legaler Ungesetzlichkeit
war, und steckte ihn in Brand.
Die Führung der Sozialdemokraten alarmierte den „Republikanischen
Schutzbund", um die erregten Massen zu beschwichtigen. Aber die Regie-
rung hatte bereits entschieden, gegen die Demonstranten Truppen einzu-
setzen. Sie feuerten auf die unbewaffnete Menge. Die Kämpfe dauerten an
einigen Stellen mehrere Tage lang und kosteten mehr als neunzig Tote und
unzählige Verwundete.
Das politische Gleichgewicht war dahin. Seipel erklärte öffentlich: „Ver-
langt von mir keine Milde in diesem Augenblick!" Die Wellen der politi-
schen Leidenschaften schlugen hoch, vor allem in den Arbeiterdistrikten
Österreichs.
Innerhalb von fünf Monaten erklärten mehr als 21 000 Personen ihren
Austritt aus der katholischen Kirche. Das war ein unmißverständlicher Pro-
test gegen den Priesterkanzler, der „keine Milde" kannte.
Die katholische Reaktion unter Seipel nutzte diese tragischen Ereignisse,
um die Sozialdemokraten restlos aus der Armee und aus der Polizei zu ver-
drängen. Beide Institutionen wurden reine Machtinstrumente der Regierung.
Die katholischen antisozialistischen und halbfaschistischen Organisationen,
die bisher ein halblegales Dasein geführt hatten, traten plötzlich offen auf.
Sie hatten ihre Stützpunkte vor allem in den ländlichen Bezirken, wo sie auch
entstanden waren. Die katholischen Bauern, die völlig unter dem Einfluß
ihrer Pfarrer standen, fürchteten, daß die „Roten" ihnen ihr Land wegnäh-
men, und haßten daher seit 1919 das „rote Wien". Ihnen war eingeredet
worden, Wien sei am 15. Juli das „Opfer eines bolschewistischen Aufstan-
des" geworden.
Die Heim wehren waren 1918 als Selbstschutzorganisation gegen äußere
Bedrohung entstanden. Unter der Führung des Fürsten Starhemberg wa-
ren sie in eine halbfaschistische Organisation umgewandelt worden. Sie
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setzten sich zum größten Teil aus bäuerlichen Elementen zusammen und
wurden von den herrschenden Schichten auf dem Land und in den kleineren
Provinzstädten geführt. In ihren Reihen befanden sich auch zahlreiche
Geistliche, die überall verbreiteten, die Stadtverwaltung in Wien sei ein
Werkzeug Lenins, des Teufels und Antichristen.
Das Hauptziel der Heimwehren war die „Zerschlagung der Roten".
Seipel unterstützte sie und sah in ihnen ein Instrument, mit dem er die
Demokratie aus den Angeln heben konnte. Er lenkte ihren Eifer daher nicht
nur gegen die „Roten", sondern gegen die Demokratie allgemein und gab
ihnen Losungen wie: „Weg mit dem Parlament!" — „Wir brauchen einen
autoritären Staat!"
Wenn diese Losungen auch im Widerspruch zur offiziellen Politik seiner
Partei standen, so gab es doch in Wirklichkeit keinen Gegensatz zwischen
den Zielen der katholischen Partei und der nun offen erklärten politischen
Linie der Heim wehren.
Im weiteren entwickelten sich die Ereignisse in Österreich ähnlich wie
wenige Jahre zuvor in Italien. Die Durchsetzung der katholischen Politik
forderte die Beseitigung der katholischen Partei und an ihrer Stelle ein
wirksameres Instrument, den Faschismus, dessen erste organisierte Ver-
tretung in Österreich die Heimwehren waren.
Die Heimwehren rechtfertigten jedoch nicht die in sie gesetzten Erwar-
tungen. Ihre Bataillone bestanden größtenteils aus Bauern, die nicht bereit
waren, sich außerhalb ihres engeren Wohn- und Interessenbereiches an
politischen Aktionen zu beteiligen. Auch der italienische Faschismus und
der deutsche Nazismus hätten nie siegen können, wenn sie sich lediglich auf
die katholische Landbevölkerung und ihre antisozialistischen Sentiments
hätten stützen müssen. Sie fanden ihre Massenbasis vor allem im Klein-
bürgertum der Städte. Diese Schicht war zwar auch in Österreich aktiv
faschistisch, aber zahlenmäßig zu schwach, den faschistischen Heimwehren
als Massenbasis zu dienen.
Im Oktober desselben Jahres nahm Seipel die Heimwehren unter seine
Obhut. Er versprach ihnen staatlichen Schutz gegen innere und äußere Ein-
mischung und Geldmittel für Uniformen, Waffen und Löhne. Ermutigt
durch diese Hilfe, gestützt auf die Katholiken und andere reaktionäre Ele-
mente und aufgestachelt vom Vatikan und von Mussolini, fühlten sich die
Heimwehren und ihre Drahtzieher im Herbst 1928 stark genug, gegen die
Sozialdemokraten und gegen alle die Demokratie verteidigenden Kräfte vor-
zugehen.
Der erste Versuch dieser Art sollte eine Nachahmung des Mussolinischen
Marsches auf Rom sein. Die Heimwehren beabsichtigten im Oktober
1928 eine große Demonstration in Wien und zogen zu diesem Zweck ihre
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bewaffneten Einheiten aus allen Teilen des Landes in einem Industrie -
bezirk südlich der Stadt zusammen. Aber die Arbeiter bewaffneten sich
ebenfalls und bereiteten sich entschlossen auf die Kämpfe vor. Da bliesen
die Heimwehren ihre Aktion ab.
Seipel war im Frühjahr 1928 von seinem Kanzleramt zurückgetreten. Er
bekannte sich nun offen zum Faschismus und beabsichtigte, sich durch eine
faschistische Welle von neuem auf den Kanzlerstuhl tragen zu lassen. Er
zwang seinen Nachfolger mit Hilfe der bewaffneten Kräfte der Heimwehren,
sein Amt niederzulegen. Schober, bisher Chef der Polizei — er hatte den
Truppen 1927 den Feuerbefehl gegeben — f wurde Kanzler.
Wider Erwarten erhielt jetzt Seipel zwei schwere Schläge. Den ersten
Schlag versetzte ihm der neue Kanzler Schober, indem er dem Verbindungs-
mann Seipels zu den Heimwehren, dem Major Waldemar Papst, den Laufpaß
gab.
Papst war ein professioneller Konterrevolutionär und in Deutschland
in verschiedene politische Mordaffären verwickelt; er war auch Verbin-
dungsmann zwischen Hitler und dem Fürsten Starhemberg, dem Führer
der Heimwehren. Der zweite Schlag für Seipel und seine politischen Pläne
war die Wahl einer Labourregierung in England.
Ramsay MacDonald und Arthur Henderson waren eng mit den Wiener
Sozialdemokraten befreundet. Henderson veranlaßte, als er von der Bewaff-
nung der Heimwehren erfuhr, eine Anfrage im Unterhaus. Österreich
wurde beschuldigt, den Friedensvertrag gebrochen zu haben, indem es eine
geheime Armee organisierte, die aus Regierungsquellen finanziert und ver-
sorgt würde. Die britische Regierung verlangte die Entwaffnung der Heim-
wehren. Die französische Regierung schloß sich der britischen Forderung
an. Diese Intervention bewahrte Österreich vor einem Bürgerkrieg, der un-
mittelbar bevorstand, und führte dazu, daß Seipel sich eine Zeitlang zurück-
ziehen mußte.
Die Heimwehren stellten sich, nachdem sie eingesehen hatten, daß sie
auf direktem Weg nichts erreichen konnten, auf andere Methoden um. So
versuchten sie mit Hilfe des katholischen Vizekanzlers Karl Vaugoin, die
sozialdemokratische Vorherrschaft unter den Eisenbahnern zu brechen. Die
Regierung geriet sich über diese Frage in die Haare und trat zurück. Vau-
goin wurde Kanzler (1950). Seine erste Handlung war, das Parlament auf-
zulösen. Er wurde dabei von den Heimwehren, die eine Diktatur verlangten,
leidenschaftlich unterstützt. Das Kabinett erklärte, es sei von nun an gewillt,
nur noch mit „autoritären Methoden zu regieren". Seipel legte sein Amt als
Vorsitzender der katholischen Partei nieder — was Rückschlüsse auf die Ab-
sichten des Vatikans bezüglich dieser Partei erlaubte - und trat als Außen-
minister in die Regierung Vaugoin ein. Der Heimwehrführer Fürst
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Starhemberg wurde Innenminister, sein Kollege Dr. Hueber erhielt einen
Posten bei der Außenhandelskammer. Starhemberg machte aus seinem
Bündnis mit Hitler kein Hehl ; auch Hueber war ein überzeugter Nazi und
lief erte 1 938 als Mitglied des nazistischen Viertagekabinetts Österreich an
Hitler aus.
Die Sozialdemokraten ließen keinen Zweifel, daß sie bereit seien, den
Kampf aufzunehmen, falls die Wahlen abgesagt werden sollten oder das
neue Parlament auf Schwierigkeiten stieße. Der Vaugoin-Seipel- Starhem-
berg -Gruppe gelang es bei der Wahl nicht, die erforderliche Mehrheit zu
erringen. Außerdem erklärten England und Frankreich unmißverständlich,
daß sie auf der Errichtung einer konstitutionellen Regierung beständen.
Darauf zogen die drei Möchtegerndiktatoren vor, zurückzutreten.
Nach dieser Niederlage zerfielen die Heimwehren in kurzer Zeit. In
Deutschland war Hitler durch die Reichstagswahlen 1930 ein politischer
Faktor geworden. Die zu derselben Zeit abgehaltenen österreichischen Wahlen
hatten den Nazis nicht einen Sitz im Parlament gebracht. Die Nazis orien-
tierten sich in Österreich vor allem auf die Mitglieder der Heimwehren.
Hitler stellte den Heimwehren drei Bedingungen: keine Restauration des
Hauses Habsburg, sondern Anschluß; bedingungslose Opposition gegen den
Parlamentarismus ; blinde Unterstellung unter seinen Befehl.
Das Bekanntwerden dieser Bedingungen führte zu einer Spaltung der
Heimwehren. Starhemberg und seine Anhänger traten für die Monarchie
ein, die steirischen Heimwehren liefen zu den Nazis über und versuchten am
13. September 1931 einen bewaffneten Aufstand, der aber rasch nieder-
geschlagen wurde.
Am 24. April 1932 fanden in großen Teilen Österreichs Länder- und
Gemeindewahlen statt, bei denen die Nazis überraschende Erfolge errangen;
die Sozialdemokraten hielten ihren Stimmenanteil, und die katholische
Partei wurde vernichtend geschlagen; fast die Hälfte ihrer Sitze, in Wien
15 von 34, fielen den Nazis zu. In Niederösterreich und in Salzburg wurde
aus einer starken katholischen Mehrheit eine katholische Minderheit von
weniger als 30 Prozent.
Das Ende des politischen Katholizismus in Österreich schien gekommen.
Unter großen Schwierigkeiten wurde aus Katholiken und Heimwehrleuten
ein Kabinett mit Dr. Dollfuß als Kanzler gebildet. Es verfügte im Par-
lament über eine Mehrheit von nur einer Stimme.
Dollfuß war der uneheliche Sohn eines Bauern. Er wurde für die geist-
liche Laufbahn bestimmt und auf Grund eines Kirchenstipendiums in einem
Priesterseminar ausgebildet. Mit 19 Jahren änderte er jedoch seinen Sinn.
Nach dem Krieg war er leitender Funktionär der katholischen Studenten-
bewegung und später des Bauernverbandes. Er begann seine politische
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Laufbahn als Anhänger des linken Flügels der katholischen Partei, wurde
aber später Mitglied der „autoritären" Fraktion. Das Kanzleramt übernahm
er kurz nach Seipels Tod, am 2. September 1932. Er kann mit Recht als
politischer Testamentsvollstrecker des Prälaten Seipel angesehen werden.
Dollfuß gab nach seinem Amtsantritt bekannt, daß er beabsichtige,
Österreich in einen „autoritären Ständestaat" umzuwandeln. Das von ihm
erstrebte Staatssystem, so erklärte er, gleiche dem des faschistischen Italiens,
sein innerer Aufbau solle jedoch den Instruktionen entsprechen, die der Papst
zum Nutzen der Katholiken in der Enzyklika Quadragesimo Anno 1931 ver-
kündet habe.
Das war die Enzyklika, in der Pius XI. alle Katholiken aufforderte, einen
Ständestaat zu errichten, wo immer es möglich sei. Dollfuß hielt dauernd
enge Verbindung mit der österreichischen Hierarchie und mit dem Vatikan
und ließ sich von beiden oft beraten.
Am 30. Januar 1 933 ergriff Hitler in Deutschland die Macht. Unmittelbar
darauf kam es in Österreich zu einem Zwischenfall, aus dem sich ein inter-
nationaler Skandal entwickelte. Die österreichische Regierung, die sich in
finanziellen Schwierigkeiten befand, zahlte die Löhne der Eisenbahner in
Raten aus.
Die Eisenbahner riefen darauf einen zweistündigen Streik aus. Die Re-
gierung antwortete mit der Entlassung der bekanntesten sozialdemokrati-
schen Funktionäre der Eisenbahnergewerkschaft. Diesem Geplänkel waren
wichtigere Ereignisse vorangegangen.
Einige Monate zuvor hatten Mitglieder der Eisenbahnergewerkschaft
entdeckt, daß eine Rüstungsfabrik in Hinterberg (Niederösterreich) Gewehre
produzierte, die nicht, wie behauptet, für die österreichische Armee, sondern
für reaktionäre Kreise in Ungarn bestimmt waren. Hohe Regierungsbeamte,
die dem faschistischen Flügel der katholischen Partei angehörten, hatten den
Schmuggel dieser Waffen organisiert. Einer von ihnen wußte, daß ein Eisen-
bahner von diesen Dingen Wind bekommen hatte, und bot dem Betreffenden
mit Wissen Dollfuß' ein hohes Schweigegeld an. Aber der Eisenbahner wei-
gerte sich und übergab stattdessen beide Geheimnisse einer sozialdemokrati-
schen Zeitung.
Die Veröffentlichung dieser dunklen Angelegenheit war schon eine Sen-
sation, obwohl das Wichtigste noch gar nicht bekannt geworden war. Es
stellte sich nämlich anschließend erst heraus, daß die Gewehre nicht für
reaktionäre Kreise in Ungarn, sondern für kroatische Monarchisten bestimmt
waren, die im Auftrag Italiens eine Verschwörung vorbereiteten, um
Kroatien von Jugoslawien loszureißen (siehe Seipels Plan für eine „katho-
lische Föderation"). Der Empfänger in Ungarn war nur eine Zwischen-
station.
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Das Geheimnis von Hinterberg war ein Teil jenes internationalen Kom-
plotts, das 1934 in der Ermordung des jugoslawischen Königs Alexander und
des französischen Außenministers Barthou durch einen kroatischen Partei-
gänger des Hauses Habsburg gipfelte. Zwischen dem faschistischen Italien
und Jugoslawien herrschte zu dieser Zeit eine erbitterte Feindschaft. Musso-
lini trug sich ernsthaft mit dem Gedanken an eine bewaffnete Intervention.
Die Bestrebungen der katholischen Monarchisten, Kroatien von Jugoslawien
loszureißen, kamen seinen Plänen entgegen.
In dieses Komplott waren außer Mussolini die halbfaschistische ungarische
Regierung, Dollfuß und die Führer der Heimwehr und gewisse Kreise in
Berlin verwickelt. Auch der Vatikan war über alle Einzelheiten orientiert.
Einige Jahre später erklärte Graf Grandi, der italienische Botschafter in
London, sowohl Dollf üß als auch Mussolini hätten sich bei der Vorbereitung
dieses Planes an den Papst gewandt. Der Papst habe, ohne den Plan aller-
dings ausdrücklich zu billigen, den Wunsch geäußert, daß die Rechte der
katholischen Kirche wiederhergestellt würden, falls Kroatien von dem
„schismatischen" Jugoslawien losgetrennt werden sollte. Er habe ver-
sprochen, den katholischen Klerus Kroatiens anzuweisen die Bewegung zu
unterstützen, und erklärt, daß man mit Sicherheit auf die Hilfe einer Reihe
katholischer Staaten rechnen könne, falls die Angelegenheit vor den Völker-
bund käme.
So hatten die Sozialdemokraten mit ihren Enthüllungen über den katho-
lisch-monarchistischen Putsch, der Kroatien, Ungarn und Österreich in Mit-
leidenschaft gezogen hätte, dem Vatikan, Dollfuß und Mussolini die kroa-
tische Suppe versalzen. Die österreichischen Katholiken schworen, sich an
den Sozialdemokraten zu rächen. Dollfuß versprach Mussolini, der eine so-
fortige Vernichtung der Sozialdemokraten forderte, alles zu tun, was in
seiner Kraft stehe, um dieses Ziel zu erreichen. „Die sozialistischen Wach-
hunde müssen zum Schweigen gebracht werden."
Dollfuß wandte sich offen dem Faschismus zu und bildete ein antisozia-
listisches Kabinett, das sich aus Vertretern der katholischen Partei, der
Bauernpartei und der Heimwehrführung zusammensetzte Die Sozialdemo-
kraten, die größte und geschlossenste Kraft im Lande, wurden bei der Regie-
rungsbildung völlig übergangen.
Nach der Regierungsumbildung löste Dollfuß das Parlament auf
(15. März 1953) und verkündete: „Das alte Parlament ist verschwunden, es
wird nie wiederkehren. Die liberale kapitalistische Ordnung ist verschwun-
den, sie wird nie wiederkehren Der Einfluß der Sozialisten ist für immer
gebrochen. Ich gebe hiermit das Ableben des Parlaments bekannt. Österreich
ist nach italienischem Vorbild zum Faschismus übergegangen." Doilfuß
konzentrierte die wichtigsten Ressorts - Armee, Polizei, Gendarmerie,
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Außenpolitik und Landwirtschaft — in seiner Hand. Er verfügte die Auf-
lösung aller Parteien einschließlich der katholischen Partei, deren Ver-
schwinden, wie er wußte, den Wünschen des Vatikans entsprach. Die neue
Diktatur sollte nach Seipels Konzeption auf dem Ständewesen beruhen. Der
Antisemitismus erhielt staatliche Anerkennung, die Presse wurde geknebelt
und die Opposition unterdrückt. Im ganzen Land wurden Konzentrations-
lager eingerichtet. Die Gewerkschaften wurden schrittweise aufgelöst. Doll-
fuß schlug vor, katholische Gewerkschaften zu bilden, deren Führer von ihm
ernannt werden sollten.
Im Jahre 1933, also nach der Ausschaltung des Parlaments und der Er-
richtung der faschistischen Diktatur, erließ Dollfuß mehr als 300 gesetz-
und verfassungswidrige Verordnungen. Er benutzte seine Macht vor allem
dazu, die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Arbeiter aufzuheben und
den Wert des Eigentums und die Sicherheiten der besitzenden Schichten zu
vergrößern. Die Bauern erhielten, um sie bei der Stange zu halten, Subsidien
auf Kosten der Arbeiterschaft.
Dollfuß beseitigte die Presse- und Versammlungsfreiheit, hob das Post-
geheimnis auf, verbot nahezu alle Kultur- und Sportvereinigungen, die
keinen ausgesprochen katholischen Charakter hatten, löste den „Republi-
kanischen Schutzbund" auf und bewaffnete die katholischen, faschistischen
Heimwehren. Er schränkte das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren
ein, errichtete sogenannte Blitzgerichte und führte die Todesstrafe wieder
ein. Die einzigen Personen, die er zum Tod durch den Strang verurteilen
ließ, waren Arbeiter; sie waren angeklagt, Heimwehrleuten Widerstand
geleistet zu haben.
Dollfuß ergriff all diese Maßnahmen, nachdem er Mussolini und dem
Vatikan einen Besuch abgestattet hatte. Sie fanden ihre Krönung 1934
durch den Abschluß eines Konkordats. Die Parole des Vatikans: „Ein
katholisches Österreich", schien Wirklichkeit zu werden. Die Grundsätze der
Enzyklika Quadragesimo Anno waren, zumeist mit Gewalt, durchgesetzt
worden.
Das Konkordat gewährte der Kirche eine offizielle und vom Gesetz ge-
schützte Position, die sie voll ausnutzte. Die katholische Religion wurde
Staatsreligion, der Klerus erhielt eine privilegierte Stellung innerhalb der
Gesellschaft, das Erziehungswesen wurde der Kirche unterstellt, alle nicht-
katholischen Einflüsse im Schulwesen wurden systematisch ausgemerzt. In
Tausenden von Büchern und Pamphleten wurden die Segnungen des autori-
tären Ständestaates, wie der Papst ihn gefordert hatte und wie er von
Mussolini in Italien und von Dollfuß in Österreich verwirklicht worden
war, gepriesen. Die evangelischen und protestantischen Kirchen wurden
systematisch verfolgt, ihre Geistlichen verfemt und verhaftet.
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Diese Verfolgungen der evangelischen und der protestantischen Kirchen
waren ein reiner Racheakt der katholischen Kirche. Tausende von Öster-
reichern waren aus Protest gegen den religiösen Terror der katholischen
Kirche zum Protestantismus übergetreten, vor allem zur evangelisch -
lutherischen Kirche.
Innerhalb weniger Monate hatten mehr als 23 000 Österreicher um Auf-
nahme in die evangelisch -lutherische Kirche nachgesucht. Allein in Wien
traten 16 000 Menschen aus der katholischen Kirche aus. In kurzer Zeit
erreichte die Anzahl derer, die der katholischen Kirche den Rücken kehrten,
mehr als 100000. Die Mehrzahl der Abtrünnigen gehörte zu den Mittel-
schichten.
Dollfuß hatte angenommen, daß die Nazis ihn unterstützen würden, nach-
dem er die „verfluchten Sozialdemokraten" vernichtet hatte. Aber die Nazis
legten im Gegenteil ein Benehmen an den Tag, das keineswegs auf eine engere
Zusammenarbeit in der Zukunft schließen ließ. So konzentrierte Dollfuß
seine Kräfte auf die Wiedererweckung des österreichischen Nationalbewußt-
seins. Trotz seiner großen Sympathien für Hitler und Mussolini wünschte
er doch, daß Österreich unabhängig bliebe. In dieser Beziehung fand er bei
breiten Schichten der Bevölkerung Unterstützung. Die Führung der katho-
lischen Partei war seit je gegen einen Anschluß an Deutschland gewesen.
Auch die Geistlichkeit war dagegen. Ihr Widerstand war so stark, daß die
Bischöfe und Pfarrer um die Zeit, als Dollfuß Kanzler wurde, in ihren
Predigten und in privaten Unterhaltungen erklärten, der Nazismus bedrohe
Österreichs Unabhängigkeit, ja er sei der geschworene Feind der katho-
lischen Kirche. Hinzu kamen der den Österreichern von Jugend an ein-
geimpfte Haß gegen die Preußen und ihre Antipathie gegen den Norden
und gegen den Protestantismus.
Die katholische Hierarchie, die zu dieser Zeit ihre ganze Hoffnung auf
die Errichtung eines totalitären Staatswesens in Österreich setzte, war über-
dies gegen den Anschluß, weil sie unter Hitler, angesichts der Brückenköpfe,
die der Protestantismus in Österreich bereits erobert hatte, niemals ein
katholisches Österreich hätte errichten können. Aber diese Überlegungen
waren nicht so gewichtig, daß die Priester, wenn sie im Beichtstuhl von
nazistischen Neigungen eines Beichtkindes Kenntnis erhielten, sie etwa als
Sünde verurteilt hätten.
Dollfuß versuchte die Heimwehren in eine totalitäre Partei umzuwan-
deln, um sie auf diese Weise zur Stütze seines Staates zu machen. Diesen
Schritt hatten Starhemberg und Mussolini gewünscht. Wieder erhielten die
Heimwehren finanzielle Mittel, um sich entsprechend auszurüsten. Dollfuß
und die katholische Partei waren sich jedoch dabei im klaren, daß gut-
ausgerüstete Heimwehren die Feindschaft von nahezu 90 Prozent der
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Bevölkerung hervorrufen würden, und zwar nicht nur der Sozialdemokraten
und der Nazis, sondern auch gewisser katholischer Kreise.
Waffen reichten nicht aus, die Diktatur zu stützen. Die katholischen
Führer waren daher von vornherein entschlossen, ihre Macht nicht allein
auf die Heimwehren zu stützen, sondern sich ein weiteres Element zunutze
zu machen, von dem sie annahmen, daß es verläßlich und stark sei — die
österreichische Geistlichkeit. Der Vatikan war damit einverstanden. Die
Geistlichkeit sollte also das politische Rückgrat der Diktatur werden, und die
Heimwehren sollten den militärischen Schutz bilden. Die österreichische
Hierarchie erhielt aus Rom die Weisung, das Dollfußregime voll zu unter-
stützen und die Geistlichkeit zur Säule des neuen katholisch -autoritären
Staates zu machen. Sie gab diese Weisung an den gesamten österreichischen
Klerus weiter, bis hinab in die letzte Gemeinde. Aber die katholische
Kirche hatte sich zuviel vorgenommen, sie war dieser Aufgabe nicht gewach-
sen und scheiterte an ihr. Damit war das Schicksal der österreichischen
Republik entschieden.
Bevor wir uns den kommenden Ereignissen zuwenden, wird es gut sein,
die Ursache dieses „Versagens der Kirche" zu untersuchen.
Als Dollfuß in Österreich den Ständestaat proklamierte, hatte sein Plan,
sich mit seiner Diktatur auf die Geistlichkeit zu stützen, viel weniger Aus-
sicht auf Erfolg, als ein oberflächlicher Beobachter hätte annehmen können.
Wir wiesen bereits darauf hin, daß die Kirche mit dem Anwachsen der
sozialdemokratischen Bewegung den Einfluß auf die Arbeiterklasse fast völlig
verloren hatte. Die Arbeiter sahen in der Kirche ihren politischen Feind. In
religiösen Fragen waren sie entweder indifferent oder voll Verachtung.
Diese Haltung versteifte sich, als Prälat Seipel sich und die katholische Kirche
bedingungslos mit dem Großkapital identifizierte. Obendrein hatte Seipel
die faschistischen Heimwehren gefördert und erklärt, daß er sie als Waffe
gegen den Sozialismus gebrauchen wolle. So sahen die Arbeiter in der katho-
lischen Kirche von Anfang an eine Institution, die mit dem Faschismus ver-
bündet war.
Am 15. März 1933 setzte Dollfuß die Verfassung außer Kraft, am 26. Mai
verbot er die Kommunistische Partei, elf Monate später löste er die Soziali-
stische Partei und die Gewerkschaften auf. Auch hierbei leistete die katho-
lische Kirche der faschistischen Diktatur große Hilfe. Da die Kirche den
Faschismus so offen unterstützte, konnte sie nicht damit rechnen, die
Arbeiterklasse zurückzugewinnen. Darin unterschied sich die Lage in Öster-
reich von der Situation in Deutschland. Aber die ständige Hilfe der Kirche
für die katholische national -österreichische Dollfußdiktatur hatte für sie
weit ernstere Folgen. Sie verlor dadurch sehr rasch die Unterstützung der
Bauernschaft, also der Schicht, auf die sich der Katholizismus seit je fest
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verlassen konnte. Die Nazis hatten ihre Kräfte in den Dörfern vervielfacht,
wie sich später herausstellte.
Der österreichische Bauer, obwohl katholisch, liebte es keineswegs, wenn
sich die Geistlichkeit in das einmischte, was er als weltliche Angelegenheiten
ansah. Der Pfarrer sollte sich, das war seine Ansicht, mit den religiösen
Nöten der Gemeinde befassen und nicht danach streben, die politische
Führung an sich zu reißen.
In der Zeit nach den revolutionären Ereignissen von 1844 verlor die
katholische Kirche sehr viel Vertrauen, als sie die Pfarrer zum verlängerten
Arm der Regierung machte. Im Jahre 1880 erreichten die Bischöfe durch
ihre Unterstützung der Konservativen nichts anderes als eine wahre Revolte
der Gemeindepfarrer, die mit dem Sieg der Christlich -Sozialen und der
Gründung der katholischen Partei endete. Und jetzt waren es wieder die
Gemeindepfarrer, die dem von der Kirche gestützten System, in diesem Fall
der Dollfußtheokratie, die Gefolgschaft verweigerten.
Dollfuß und die katholische Kirche betrieben außerdem die Wiederkehr
der Habsburger und aller aristokratischen und feudalen Traditionen. Wenn
diese Pläne auch in gewissen Gegenden und in gewissen Kreisen Österreichs
Zustimmung fanden, so stießen sie doch bei der Mehrheit des österreichi-
schen Volkes auf schärfste Ablehnung.
In den Dörfern und Kleinstädten repräsentierten im allgemeinen der Arzt,
der Tierarzt, der Rechtsanwalt und die übrige örtliche Intelligenz den Nazis-
mus. Die Nazis setzten in den Dörfern vor allem auf die Abneigung der
Bevölkerung gegen die Einmischung der Kirche in politische Angelegenheiten.
So wurde rasch aus dem Kampf zwischen den Nazis und dem Gemeindepfarrer
ein Kampf zwischen der Kirche und einer mißvergnügten Intelligenz um
die politische Führung in den Gemeinden. In vier Ländern wurden auf diese
Weise fast alle Bauern nazistisch. Nur in Wien fanden die Nazis nach wie
vor wenig Anhang.
Die Revolte der Bauern gegen die Kirche, die ständige Zunahme der Nazi-
anhängerschaft und die erschreckend wachsende Anzahl von Übertritten
zum Protestantismus bereiteten der katholischen Hierarchie täglich größere
Sorge.
Die Bischöfe drängten Dollfuß, endlich zu handeln. Dollfuß ließ Per-
sonen verurteilen, die Nazipropaganda getrieben hatten. Das führte in den
meisten Fällen dazu, daß die Verurteilten und ihre Angehörigen zur pro-
testantischen Kirche übertraten. Diese Zwangsmaßnahmen verstärkten nur
den Geist der Rebellion.
Während sich die Lage auf dem Lande weiter zuspitzte, fuhr Dollfuß
fort, die Linken zu verfolgen und seine Diktatur aufzubauen. Er ging dabei
schrittweise vor, raubte den Sozialdemokraten ein Recht nach dem anderen
227
und setzte sie dem ständigen Druck der Hierarchie, der Heimwehren und
Mussolinis aus. Als er schließlich am ll.Fehruar 1934 durch die Polizei das
sozialdemokratische Hauptquartier in Linz besetzen ließ, nahmen die Sozial-
demokraten in Linz, in Wien und in einigen anderen Bezirken den Kampf
auf. Die bewaffnete Auseinandersetzung dauerte vier Tage, in einigen Teilen
des Landes noch langer.
Dollfuß gab den Heimwehrführern freie Hand und befahl, jeden Gefan-
genen vor ein Standgericht zu bringen und aufzuhängen. Er erklärte nach
den Kämpfen, es seien „lediglich 1 37 Rebellen" getötet worden. Ein schwer-
verwundeter sozialdemokratischer Kämpfer wurde auf einer Tragbahre zum
Galgen geschleppt. Dollfuß sah sich auf Grund eines Entrüstungssturms in
der ganzen Welt gezwungen, die Hinrichtungen einzustellen. Konservative
Kreise schätzten, daß 1500 bis 1600 Arbeiter getötet und 5000 verwundet
worden waren. 1188 wurden eingesperrt und elf erhängt. Der Vatikan
schwieg.
Wenn man die Methoden, mit denen das katholische Regime gegen seine
Feinde vorging, mit den Methoden der Sozialdemokraten vergleicht, die in der
Revolution von 1919 und in den Jahren ihrer Machtausübung in Wien, wie
ein Historiker schrieb, „keinem einzigen Menschen auch nur ein Haar
krümmten", dann findet man von neuem die geschichtliche Erfahrung be-
stätigt, daß nicht die Revolution, sondern die Konterrevolution das meiste
Blut vergießt.
Ein Regierungskommissar übernahm die Verwaltung von Wien. Die
Sozialistische Partei mußte in die Illegalität gehen. Alle, die es wagten, für
sie zu arbeiten, wurden ins Gefängnis geworfen. Ende 1934 befanden sich
19 051 revolutionäre Arbeiter ohne richterliches Urteil in Haft und wurden
brutal behandelt. Journalisten, die sich von den Lebensbedingvingen der
Häftlinge überzeugen wollten, erhielten keinen Zutritt. Die katholische
Kirche veranlaßte Dollfuß, keine Hilfeleistungen aus dem Ausland anzu-
nehmen; um „alle, die in Not sind, zu zwingen, sich an katholische Stellen
zu wenden". (Annual Register, S. 199)
Die Verfolgungen der Sozialdemokraten und aller Feinde der katholischen
Kirche dauerten an. Das bisherige ausgezeichnete österreichische Erziehungs-
system wurde von der Kirche absorbiert und zugrunde gerichtet. Die wirt-
schaftliche Lage des Landes verschlechterte sich, große Teile der Bevölkerung
litten von neuem an Unterernährung. Das Bauprogramm der Sozialdemo-
kraten, das in ganz Europa Aufsehen erregt und Anerkennung gefunden
hatte, wurde gestoppt.
Nutznießer dieser Entwicklung war vor allem Hitler, dessen Anhang in
Österreich sich dank der „Unterdrückung der sozialistischen Wachhunde"
rasch vergrößerte.
228
Die Kirchenführer im Vatikan spielten mit Hitler und Dollfuß ein
doppeltes Spiel. Vorerst beobachteten sie und warteten ab. Der Papst hatte
Hitler zu verstehen gegeben, daß die Kirche ihm helfen werde, seine
politischen Ziele in Österreich zu erreichen, wenn er sein Wort bezüglich
der katholischen Kirche in Deutschland halte. Der Vatikan hoffte, Hitler
dadurch zu zwingen, die Bestimmungen des Konkordats einzuhalten.
Andererseits mußte sich der Vatikan Gewißheit verschaffen, ob der katho-
lische Sieg in Österreich von Dauer war oder ob dort nach wie vor die Gefahr
einer Revolution bestand. Falls die Revolution noch nicht gebannt sein
sollte, mußte eine härtere Hand her, um die „rote Gefahr" endgültig zu
beseitigen. Vielleicht war Hitler diese „härtere Hand"? Der Vatikan war
auf jeden Fall zu den größten Opfern bereit, um seine Ziele zu erreichen. Er
würde, wenn nötig, sogar auf das katholische Regime in Österreich und auf
alle Träume von einer „päpstlichen Konföderation" verzichten.
Dollfuß glaubte felsenfest, daß er sich durch die Zerschlagung der
Arbeiterbewegung Hitlers Freundschaft verdient habe. Aber Hitler ver-
folgte seine eigenen Ziele in Österreich. Dollfuß erklärte sich bereit, Nazis
in sein Kabinett aufzunehmen, stellte aber die Bedingung, daß die
österreichische Unabhängigkeit erhalten bliebe. Die Nazis wollten jedoch den
Anschluß und die Herrschaft Hitlers. Die Verhandlungen zerschlugen sich.
Darauf begannen die Nazis Bomben zu werfen. Dollfuß verkündete den
Belagerungszustand und bedrohte den illegalen Besitz von Dynamit mit der
Todesstrafe. Aber in keinem einzigen Fall setzte er diese Drohung in die
Tat um. Für ihn und seinen Innenminister, Major Fey, waren bomben-
werfende Nazis harmloser als sozialdemokratische Arbeiter, die ihre in jahr-
zehntelangem Kampf errungenen Rechte verteidigten.
Hitlers Forderungen führten zu ernsthaften Auseinandersetzungen im
Kabinett Dollfuß und drohten die Regierung zu sprengen. Major Fey wurde
beschuldigt, mit den Nazis unter einer Decke zu stecken. Außerdem war es
den Nazis gelungen, Anton Rintelen, den zweiten Mann der katholischen
Partei, der wenige Monate zuvor noch Landeshauptmann der Steiermark
gewesen war, auf ihre Seite zu ziehen. Am 25. Juli 1954 versuchten sie die
Macht zu ergreifen. Eine Gruppe Nazis stürmte das Kanzlergebäude, um die
Regierung festzunehmen. Dollfuß und Fey wurden verhaftet. Dabei wurde
Dollfuß tödlich verwundet. Die rasch zusammengezogenen Truppen erwiesen
sich jedoch als zuverlässig. Mussolini, der seinen Plan, Herr über Österreich
und Ungarn zu werden, in Gefahr sah, ließ zwei Divisionen am Brenner
aufmarschieren. Hitler war auf eine bewaffnete Auseinandersetzung noch
nicht vorbereitet. Er zog es daher vor, die Verschwörer ihrem Schicksal zu
überlassen, und sandte den päpstlichen Kammerherrn von Papen nach Wien,
um die Wellen wieder zu glätten.
229
Doli fuß' Nachfolger wurde Kurt von Schuschnigg, ein Angehöriger des
Tiroler niederen Adels. Schuschnigg war Katholik und Monarchist, sah aber
ein, daß eine Wiedereinführung der Monarchie äußerst unpopulär wäre.
Als Jesuitenzögling mit ausgeprägtem religiösem Empfinden machte er eher
den Eindruck eines strebsamen Priesters als eines Politikers. Auch er wollte
ein „autoritäres" Regime, aber ein Regime mit anderen, vor allem weniger
strengen Regierungsmethoden als denen, die Dollfuß eingeführt hatte.
Diese Aufgabe wurde ihm dadurch erleichtert, daß Hitler seine Politik
bezüglich Österreichs hatte ändern müssen; er hatte die Wirkungen seiner
Aggressionspolitik in ganz Europa zu spüren bekommen und war gezwun-
gen, kürzer zu treten.
Anfangs unterschied sich das neue Regime nur in Kleinigkeiten von dem
des Kanzlers Dollfuß. Allmählich erkannte Schuschnigg aber, daß er, um
populär zu werden, die Bürde der Diktatur, die so schwer auf dem Rücken
des Volkes lastete, ein wenig erleichtern mußte. Das galt vor allem für die
Arbeiterklasse. So begann er hier und da gewisse Zugeständnisse zu machen
und entfernte die vom Volk gehaßten Extremisten Starhemberg und Fey
aus seiner Regierung.
Nachdem sich die katholische Kirche in der ersten Zeit nach dem Nazi-
putschversuch zurückgehalten hatte, versuchte sie nun von neuem einen
starken Druck auf das politische Leben des Landes auszuüben. Sie fürchtete
wie eh und je die „rote Gefahr" und forderte daher vor allem eine Kontrolle
über die Arbeiterschaft. Das Gesetz und die Armee schienen ihr zur Unter-
drückung der Arbeiterbewegung nicht ausreichend. Sie wollte die Arbeiter-
schaft fester in die Hand bekommen und sie zwingen, sich ihrer unmittel-
baren Kontrolle zu unterstellen.
Auf Drängen der katholischen Kirche erließ Schuschnigg ein Gesetz, das
jeden Bürger verpflichtete, einer Kirche anzugehören. Die politische Be-
deutung dieses Manövers wurde von vielen Kreisen sofort erkannt. Nicht nur
die Arbeiter traten ihm mit offener Feindschaft entgegen. Was bereits unter
Dollfuß geschehen war, wiederholte sich nun in weit größerem Umfang.
Die Menschen begannen in Massen aus der katholischen Kirche auszutreten.
Tausende Katholiken, hauptsächlich Arbeiter und Angehörige der Mittel-
schichten, traten zur protestantischen Kirche über, von der sie annahmen,
daß sie sich nicht in ihre politischen Angelegenheiten einmischen würde.
Die Anzahl der Protestanten erreichte in dieser Zeit eine Höhe, die man
im katholischen Österreich nie für möglich gehalten hätte. Sie stieg auf
340 000. Die wenigen protestantischen Pfarrer, die sich noch ihrer Freiheit
erfreuten, waren davon geradezu überwältigt.
Wieder einmal hatte die katholische Kirche mit einer Maßnahme genau
das Gegenteil von dem erreicht, was sie bezweckt hatte. Die Angelegenheit
230
verlief im Sande, die innenpolitische Situation festigte sich etwas. Obwohl
die katholische Kirche nicht aufhörte, von der Regierung drastischere Maß-
nahmen gegen die „rote Gefahr, die in der Tiefe rumort", zu fordern, gab
es keine besonderen innenpolitischen Schwierigkeiten mehr. Aber die Ruhe
war trügerisch. Die Unruhe kehrte zurück, nur hatte sie diesmal äußere
Ursachen.
Der abbessinische Krieg war ausgebrochen. Das faschistische Italien
bemühte sich um Deutschlands Freundschaft und unterstützte Österreich
deshalb nicht länger. Es riet Schuschnigg, mit Hitler unmittelbar zu ver-
handeln. Daraufhin unterzeichnete Österreich im Juli 1936 einen Vertrag
mit Nazideutschland, in dem es versprach, seine Außenpolitik den Interessen
Deutschlands unterzuordnen und im Falle eines Krieges an Deutschlands
Seite zu stehen.
Das von Dollfuß ausgesprochene Verbot der Nazipartei blieb bestehen,
aber die staatlichen Stellen wandten es nicht an. Ein Naziführer wurde
sogar Innenminister. Der Waffenstillstand mit dem Nazismus dauerte etwa
18 Monate. Unterdessen war Deutschland in der internationalen Arena
immer stärker geworden. Die Achse Rom-Berlin hatte sich gefestigt, die
Rüstungsproduktion war gestiegen. Angesichts dieser Tatsachen und des
Schreckgespenstes der „roten Gefahr", dessen Wiedergeburt unausweichlich
schien, entschloß sich die österreichische Hierarchie auf Weisung des
Vatikans, mit Hitler ein Tauschgeschäft abzuschließen. Nur durch Hitlers
eiserne Hand, so hoffte sie, könnten die „Roten" endgültig zerschmettert
werden. Falls Hitler versprach, die Rechte der Kirche in Deutschland und
in Österreich zu respektieren, sollte er ihre volle Unterstützung genießen.
Hitler erkannte diese neue Haltung der Kirche rasch und entfesselte in
Deutschland eine neue Verfolgungskampagne gegen die katholische Kirche.
Er hatte dafür gewichtige innenpolitische Gründe, aber für die Auslösung
der Kampagne hatte die österreichische Frage den Ausschlag gegeben. Hitler
ließ den Vatikan wissen, daß alle Verfolgungsmaßnahmen eingestellt wür-
den, falls der Vatikan die österreichische Hierarchie anwies, den Anschluß
zu unterstützen. Hitler würde dann die Rechte der Kirche nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Österreich respektieren.
Der Vatikan gab seinen Konsens. Darauf begannen über Franz von Papen
und den Kardinal Innitzer in Wien Verhandlungen mit dem Ziel, Schusch-
nigg von der Notwendigkeit der Auslieferung Österreichs an Hitlerdeutsch-
land zu überzeugen. Aber Schuschnigg widersetzte sich dem Anschluß, weil
er wußte, daß dies das Ende Österreichs bedeuten würde. Er weigerte sich
hartnäckig. Hitler zitierte ihn nach Berchtesgaden und befahl ihm, das
Innenministerium dem ergebenen Katholiken und Nazi Seyß-Inquart zu
übertragen. Hitler zeigte Schuschnigg die Marschbefehle, die den deutschen
231
Truppen erteilt würden, falls er den Forderungen nicht nachkomme.
Schuschnigg mußte nachgeben.
Seyß-Inquart betrieb nach dem ersten Weltkrieg eine mittlere Anwalts-
praxis in Wien. Seine Beziehungen zur katholischen Partei waren sehr eng.
Er unterstützte zahlreiche katholische Organisationen und war ein eifriger
katholischer Propagandist und Kirchenbesucher. Seine ehrgeizigen Be-
mühungen um die katholische Sache brachten ihn bald mit dem Kanzler
Dollfuß in Berührung. Von diesem Augenblick an stieg er rasch empor und
machte Karriere.
Schuschnigg hatte in Berchtesgaden sehr viel zu hören bekommen, dar-
unter auch einiges, was den Vatikan und seine Beziehungen in Österreich
betraf. Dies veranlaßte ihn, seine Politik hinsichtlich der Sozialdemokraten
zu überprüfen. Er brauchte ihre Unterstützung für den Kampf um die öster-
reichische Unabhängigkeit.
Die innere Lage Österreichs zu dieser Zeit wurde gekennzeichnet durch
das Kräftedreieck zwischen Katholiken, Nazis und Sozialdemokraten. Dollfuß
hatte versucht, sich mit den Nazis zu einigen, um die Sozialdemokraten zu
zerschmettern. Schuschnigg war bestrebt gewesen, es mit keinem von ihnen
zu verderben. Als aber die entscheidende Stunde kam, mußte er erkennen,
daß er sich weder auf die Nazis noch auf die Katholiken verlassen konnte.
Die stärkste Unterstützung erhielt er von den Sozialdemokraten. Nach seiner
Unterredung mit Hitler bildete er die Regierung um. Er nahm nicht nur
Seyß-Inquart in das neue Kabinett, sondern berief auch Vertreter der demo-
kratischen und der sozialdemokratischen Gruppe in die Regierung. Dann
führte er Verhandlungen mit Vertretern der Industriearbeiter und machte
den Arbeitern bald darauf gewisse Zugeständnisse.
Kurz vor dem Ende Österreichs organisierten die Arbeiter, zum erstenmal
seit vielen Jahren ungehindert von der Polizei, eine große Kundgebung und
verpflichteten sich, Österreichs Unabhängigkeit zu verteidigen. Sie taten
dies nicht allein aus Haß gegen den Nazismus, sondern auch in der Hoff-
nung, dadurch ihre eigene Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Der Ban-
krott der Politik von Seipel bis Dollfuß trat offen zutage: Im schwierigsten
Augenblick für Österreichs Unabhängigkeit konnte sich die katholische
Regierung nur auf die Arbeiterbewegung verlassen, die von ihr so brutal
verfolgt worden war.
Aber die Reaktion blieb nicht müßig. Die österreichische Hierarchie, der
Vatikan und katholische Politiker in und außerhalb der Regierung stemm-
ten sich heftig gegen diese Zugeständnisse. „Was, so viele Kämpfe, so viel
Blutvergießen, so viele Risiken, und das alles nur, um zur Demokratie
zurückzukehren, damit die Roten von neuem ihr Haupt erheben? Niemals!"
So wurde jede Maßnahme verzögert. Trotz ständiger Versprechungen erhielt
232
die Arbeiterbewegung keine wirklichen Zugeständnisse Es wurde ihr nicht
einmal gestattet, eine Zeitung unter eigener Kontrolle herauszugeben.
Kardinal Innitzer übte in diesen Wochen auf Schuschnigg und die Regie-
rung einen dauernden Druck aus und riet ihnen, sich Hitler völlig zu unter-
werfen. Er erklärte Schuschnigg, der Anschluß sei unvermeidlich und der
Vatikan wünsche ihn auch. Aber Schuschnigg blieb fest, trotz starker Zwei-
fel. Einige Katholiken, die wußten, was hinter den Kulissen vorging, fuhren
erbittert fort, gegen die Vereinigung mit Deutschland Stellung zu nehmen,
und wünschten ihrem Vaterland die Unabhängigkeit zu erhalten. Sie hatten
erkannt, daß die Regierung in dieser entscheidenden Stunde nicht auf die
Unterstützung der Kirche rechnen konnte, der Kirche, für deren Interessen
sie einen jahrelangen politischen Kampf geführt hatten.
In Wien erreichte die Volksbewegung und der kämpferische politische
Schwung der arbeitenden Massen einen Höhepunkt. Man wiegte sich in dem
Glauben, der Nazismus sei besiegt. Der Gedanke des Kampfes für Öster-
reichs Unabhängigkeit war unter den Massen sehr populär geworden, da sie
ihn mit der nachgiebigeren Innenpolitik der Regierung in Zusammenhang
brachten.
So kam es, daß auch Arbeiter, die früher für den Anschluß waren, als
er noch als eine demokratische Maßnahme geplant war, die Österreich
größere regionale Rechte gewähren sollte, nun erbitterte Gegner des An-
schlusses wurden, weil er unter den augenblicklichen Bedingungen die Nazis
an die Macht bringen würde. So unterstützten sie, so paradox es auch
klingt, Schuschnigg, da sie hofften, daß er auf diese Weise den Weg zur
Demokratie und zur Freiheit zurückfinden würde.
In Wien demonstrierten die Massen für Österreichs Freiheit. Die Demon-
strierenden — Sozialdemokraten, Kommunisten, Katholiken und Mon-
archisten — marschierten Schulter an Schulter. Österreich hatte sich er-
hoben und war bereit zu kämpfen. Niemals waren die Nazis so schwach wie
in diesen Tagen. Hitler war, ebenso wie Schuschnigg und Innitzer, heftig
erschrocken. Keiner von ihnen konnte sagen, was aus dieser Massenbewegung
werden würde, aber eines erkannten sie alle: Wenn dieser Enthusiasmus
auch nicht gleich zum Kommunismus führen würde, so würde er doch zu-
mindest in eine Massenbewegung gegen den Faschismus münden, deren
Folgen sich wahrscheinlich nicht auf Österreich beschränken ließen.
Die österreichische Regierung hatte sich entschlossen, für die Unabhängig-
keit des Landes zu kämpfen. Schuschnigg hoffte, Blutvergießen zu ver-
meiden, und spielte daher seine letzte Karte aus. Er erklärte, das öster-
reichische Volk solle, falls es wirklich den Anschluß wünsche, seinen Willen
in einem Volksentscheid kundtun. Dieser Entschluß Schuschniggs richtete
sich vor allem gegen die Pläne des Vatikans. Kardinal Innitzer, der bereits
233
mit Hitler in Kontakt stand, begann Schuschnigg von neuem unter Druck
zu setzen. Der Kardinal wußte nur zu genau, daß sich das Volk gegen den
Anschluß entscheiden würde. Die „Roten" konnten sich dann jeder Kontrolle
entziehen. Einer solchen Entwicklung durfte die Kirche nicht tatenlos zu-
sehen. Bevor Innitzer aber Hitler die uneingeschränkte Unterstützung der
katholischen Kirche zusicherte, nahm er ihm das Versprechen ab, nach der
Einverleibung Österreichs die Rechte der katholischen Kirche zu achten.
(Bei einem Presseinterview am 26. Februar 1946 in Rom gab Kardinal
Innitzer der Öffentlichkeit zum erstenmal Einzelheiten über seinen Besuch
bei Papst Pius XI. im März 1938 bekannt. Der Besuch fand zu der Zeit statt,
als Hitler in Österreich einmarschierte. Der Kardinal stellte unter anderem
fest: „Ich ging nach Rom, um einer Aufforderung des Heiligen Vaters Folge
zu leisten . . . Als ich nach Wien zurückgekehrt war, hatte ich mit Hitler eine
Unterredung. Er fragte mich, was der Papst von ihm halte." Der Kardinal
sprach mit Bitterkeit über Hitlers Wortbruch bezüglich der Versprechungen,
die er der katholischen Kirche in Österreich gegeben hatte, und fuhr fort:
„Ich bekam von ihm in religiösen Fragen jede Zusicherung, die ich haben
wollte. Ich sollte meine eigenen Schulen und alles andere erhalten, was ich
benötigte. In den ersten sechs Monaten jgeschahen nur wenige Übergriffe.
Wenn ein katholischer Lehrer krank wurde, trat ein Nazi an seine Stelle.
Aber dann ließ Hitler die Maske fallen und übernahm alle Schulen und
unterdrückte die katholischen Privatschulen." Der Kardinal machte eine
heftige Geste, schlug auf den Tisch und rief: „Alle Versprechungen Hitlers
waren Lügen!" {Universe , 1. März 1946)
Man sollte, wie bei den Vorgängen in Italien und in Deutschland, ebenso
im Fall Österreich beachten, daß sich die Beschwerden der Kirche niemals
gegen die Diktatur als solche richteten. Die Kirche protestierte lediglich
dann, wenn der betreffende Diktator die Versprechungen, die er der jewei-
ligen Hierarchie als Gegenleistung für die Hilfe der Kirche bei seiner Macht-
ergreifung gegeben hatte, nicht hielt. Die zahllosen Verbrechen der Dik-
tatoren an einzelnen Menschen und ganzen Völkern konnten weder
den Kardinälen und Bischöfen noch dem Papst ein Wort des Protestes
entlocken.)
Hitler war sich völlig im klaren, daß das österreichische Volk den An-
schluß ablehnen würde, falls der Volksentscheid vor einer deutschen Be-
setzung stattfände. Er entwickelte daher dem Kardinal einen unglaublichen
Plan: Nicht die Österreicher, sondern die Deutschen sollten darüber ent-
scheiden, ob die Österreicher Deutsche werden sollten oder nicht. Daß der
Kardinal einem solchen Zynismus auch nur sein Ohr lieh, ist kaum faßbar.
Innitzer versprach, alles zu tun, was in seinen Kräften stand, um zu sichern,
daß die Österreicher Hitler willkommen hießen und für ihn stimmten.
234
Am 9. März 1938 sollte der Volksentscheid stattfinden, aber er fand nicht
statt; Hitler hatte es Schuschnigg verboten. Am Nachmittag des 11. März
war fast ganz Wien auf den Beinen, demonstrierte gegen Nazismus und
Faschismus, für politische Freiheit und nationale Unabhängigkeit. Um
neunzehn Uhr tauchten nazistische Sturmabteilungen in Wien auf.
Schuschnigg trat unverzüglich zurück. Innerhalb einer Stunde trug die
österreichische Polizei Hakenkreuzarmbinden.
Wien wurde von deutschen Truppen überflutet. Kardinal Innitzer be-
grüßte den Einmarsch der Nazis mit Glockengeläut und Hakenkreuzfahnen
an den Kirchen. Er wies seinen Klerus an, dasselbe zu tun, und rief alle
Österreicher auf, sich zu dem Mann zu bekennen, „dessen Kampf gegen den
Bolschewismus und für die Einheit, Ehre und Macht Deutschlands dem
Willen der göttlichen Vorsehung entspricht". Einige Tage später, am
15. März, traf Innitzer abermals mit Hitler zusammen. Dabei wiederholte
Hitler seine Versicherung, daß er die Rechte der Kirche respektieren
würde. Darauf forderten der Kardinal und seine Bischöfe, mit Ausnahme
des Bischofs von Linz, alle Österreicher auf, für Hitler zu stimmen. Unter
den Aufruf setzten sie die Worte: „Heil Hitler."
So endete Österreich.
Kapitel xiii Die Tschechoslowakei und der Vatikan
Die Tschechoslowakische Republik nach dem ersten Weltkrieg - Widerstand gegen
katholische Kirche — Massenaustritte — Die Bewegung „Los von Kom u — Beziehungen der
Republik zum Vatikan Staat - Neutralität des Staates in religiösen Fragen - Der Staat
gewährt religiöse Freiheit - Intoleranz der katholischen Kirche - Einmischung der Kirche
in soziale und politische Fragen — Einspruch der Kirche gegen Husf eiern - Verschlech-
terung der diplomatischen Beziehungen zwischen dem tschechoslowakischen Staat und
dem Vatikan — Feindselige Maßnahmen des Vatikans gegen die Tschechoslowakische
Republik — Gründe dieser feindseligen Haltung — Wühltätigkeit der reaktionären Par-
teien - Verschwörung gegen die Republik - Henlein, Hitlers katholische Agentur in der
Tschechoslowakei — Der Katholizismus unterstützt Hitlers Ansprüche — Erster Schlag
gegen die Republik: München ~ Hitlers zweite Verschwörung — Hitlers zweiter katholi-
scher Agent: Tiso - Das Ende der Tschechoslowakischen Republik - Das katholisch- fa-
schistische Staatswesen in der Slowakei — Der Ständestaat — Jugendorganisationen nach
nazistischem Vorbild — Die antidemokratischen, antibolschewistischen, antisemitischen
Grundpfeiler des slowakischen Staates - Das Privileg der katholischen, faschistischen
und nazistischen Grundsätze - Die Verantwortung des Vatikans,
Wenige Wochen nach der Einverleibung Österreichs in das „Großdeutsche
Reich** bediente sich Hitler hinsichtlich der katholischen Gläubigen in der
Tschechoslowakischen Republik der gleichen Taktik wie bei der Vor-
bereitung des „Anschlusses".
Man hätte erwarten können, daß der Katholizismus in den an Deutsch-
land grenzenden Ländern Lehren aus dem Schicksal Österreichs und der
österreichischen Kirche zog. Aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil, der
Katholizismus arbeitete weiter so eng mit Hitler zusammen, als wäre nichts
geschehen. Der Vatikan hielt sich im Hintergrund, aber die katholische
Bewegung, die Kurs darauf nahm, die Republik zu zerschlagen, stand unter
der Führung eines dem Papst ergebenen Prälaten, einer Miniaturausgabe
des Prälaten Seipel.
Bevor wir uns weiter mit dieser Frage beschäftigen, ist es angebracht,
einen Blick in die Vergangenheit zu werfen und zu untersuchen, wie die
Tschechoslowakische Republik unterminiert wurde.
Die katholische Kirche haßte Böhmen seit den Tagen des Jan Hus, des
großen „Häretikers", der wegen seiner kühnen Ideen von der Kirche auf
dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Der Dreißigjährige Krieg machte
Böhmen, das zu den fruchtbarsten Ländern des mittelalterlichen Europas
gehörte, beinahe zur Wüste. Die katholischen Armeen verheerten das Land,
so daß bei Kriegsende von seinen mehr als 3 Millionen Menschen nur noch
ungefähr 780000 am Leben waren. Von den mehr als 50000 blühenden
Städten und Dörfern standen nach dem Krieg nur noch 6000, die anderen
236
waren zerstört, verbrannt oder nach der Ermordung der Einwohner verödet.
Die Pest tat das übrige, ihr fielen mehr als hunderttausend Menschen zum
Opfer. Tausende Einwohner Böhmens verließen ihre zerstörte Heimat und
zerstreuten sich als Flüchtlinge über ganz Europa. Das einstmals reiche
Königreich Böhmen hörte faktisch auf zu bestehen und geriet unter die
Herrschaft der katholischen Habsburger in Österreich.
Der Vormarsch der katholischen Gegenreformation und die Errichtung
der katholischen Oberherrschaft über die Länder der tschechischen Krone
kosteten das tschechische Volk seine politische Unabhängigkeit. Drei Jahr-
hunderte lang, bis zum Ende des ersten Weltkriegs, waren die Tschechen
Untertanen der österreichisch -ungarischen Monarchie.
Wir legten bereits dar, wie die Dynastie Habsburg und die katholische
Kirche einander stützten und welche Rolle diese Dynastie bei der Katho-
lisierung der Länder spielte, die im Laufe der Jahrhunderte unter ihre
Herrschaft gerieten. Die katholische Kirche errang in diesen Ländern mit
Hilfe der Habsburger die Stellung wieder, die sie im 15., 16., ja selbst noch
im 17. Jahrhundert verloren hatte. Ebenso wie in Österreich schlössen auch
im tschechischen Teil der Monarchie die Kirche und das Haus Habsburg ein
Bündnis, um einander bei der Durchsetzung ihrer Ziele zu helfen. Das
tschechische Volk bekam die Praxis dieses Bündnisses im Laufe der Jahr-
hunderte oft genug zu spüren. Sein nationaler Befreiungskampf mußte sich
daher von Anfang an gegen diese beiden miteinander verbündeten Kräfte
richten. Der antikatholische Charakter dieses Befreiungskampfes führte
dazu, daß sich ihm auch die Kräfte anschlössen, die in Opposition zur Kirche
standen. Und die katholische Kirche tat das Ihre, diese Opposition zu ver-
stärken, indem sie alle Anstrengungen unternahm, den Despotismus der
Habsburger möglichst lange am Leben zu halten. Das Österreich isch-
ungarische Regime stellte alle modernen Ideen, alle Lehren und Prinzipien,
die nicht mit den Lehren der katholischen Religion übereinstimmten, unter
Strafe. Diese Verfolgung hatte sowohl religiösen als auch politischen
Charakter. Die Dynastie begünstigte den Katholizismus nicht nur, weil sie
selbst katholisch war, sondern auch weil sie im Katholizismus eine Waffe
sah, mit der sie die Bevölkerung im Zaume halten konnte.
Der Katholizismus regierte im Lande der Tschechen uneingeschränkt.
Wohl genossen einige andere Konfessionen staatliche Anerkennung, das
schloß jedoch nicht aus, daß die Nichtkatholiken überall und zu jeder Zeit
verfolgt wurden. Auch das Freidenkertum wurde offiziell toleriert, aber die
Lehrberufe und einige andere Berufe standen nur Angehörigen der Kirche
offen. Daher wagten es vor dem ersten Weltkrieg nur 1 5 000 Menschen, sich
als Freidenker eintragen zu lassen. Aus all diesen Gründen war es nicht
verwunderlich, daß am Ende des ersten Weltkrieges, als die Tschechen und
237
Slowaken das verhaßte österreichisch -ungarische Joch abgeworfen hatten,
eine starke Bewegung „Los von Rom" einsetzte, die zugleich ausgesprochen
antikirchlich war. Die Kirche hatte sich zu eng mit der Habsburger Dynastie
und mit deren wichtigstem politischem Instrument, dem politischen Katho-
lizismus, verbunden. Bereits vor dem ersten Weltkrieg, vor allem jedoch in
den Jahren nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik, kamen
Bestrebungen auf, der katholischen Kirche nationalen Charakter zu ver-
leihen. Beide Sprachen des Landes, die tschechische und die slowakische,
wurden als liturgische Sprachen anerkannt. Außerdem hatte man vor, für
das Gebiet der Republik ein Patriarchat zu errichten, das eine ähnliche Selb-
ständigkeit wie die griechisch-katholische Kirche erhalten sollte. Der Vatikan
brachte sein Mißfallen über diese Gedanken zum Ausdruck. Die meisten
tschechoslowakischen Geistlichen, die diese Ideen vertraten, sagten sich
darauf, wenn auch sehr zögernd und widerwillig, von diesem Reformprojekt
los. Nur eine kleine Gruppe von Geistlichen, die auch das Zölibat abschaffen
wollte, blieb fest und ging sogar so weit, eine selbständige „Kirche der
Tschechoslowakei" zu gründen, die bald jeden innerkirchlichen Kontakt mit
der von Rom geführten Kirche verlor.
Von 1918 bis 1930 wechselten ungefähr 1900000 Menschen (in der
Mehrzahl Tschechen) ihre Konfession. Die meisten von ihnen traten aus der
römisch-katholischen Kirche aus. Etwa 800000 dieser Abtrünnigen, aus-
schließlich Tschechen, vereinigten sich in der neuen tschechoslowakischen
Kirche; sie stellte eine Art reformierten Katholizismus dar und war, weil von
Rom unabhängig, nicht mit dem Erbe der Erinnerungen an das verhaßte
Haus Habsburg belastet. Ungefähr 1 50 000 Gläubige traten zum Protestan-
tismus über. Die restlichen 854000 Bürger bekannten sich zum Freidenker -
tum und bestanden mit Erfolg darauf, Kirche und Staat völlig voneinander
zu trennen, wie es in Frankreich bereits zu Beginn des Jahrhunderts ge-
schehen war.
Die neuen Grenzen und die Bewegung „Los von Rom" veränderten das
Zahlenverhältnis der einzelnen Konfessionen in der neuen Republik be-
trächtlich. Auch das Wiedererstehen der orthodoxen Kirche in der Karpato-
Ukraine trug dazu bei. Trotzdem blieb die römisch-katholische Kirche, vor
allem wenn man sie als „unierte Kirche" betrachtete und ihr die Anhänger
der griechisch-katholischen Kirche zuzählte, sowohl an Mitgliederanzahl als
auch an Einfluß bei weitem die stärkste Kirche des Landes.
Noch immer war die überwiegende Mehrheit der Bürger der neuen
Republik - 73,54 Prozent - katholisch, wenn auch viele von ihnen nur noch
dem Namen nach Katholiken waren. Starke antikatholische Kräfte setzten
ihren Kampf für die endgültige Trennung von Kirche und Staat und für die
obligatorische Einführung der Zivilehe fort. Sie bedienten sich dabei all
238
der Losungen, die an sich die Kennzeichen eines Kulturkampfes sind. Infolge
der weitgehenden Toleranz der neuen Republik kam es jedoch nicht zu
antikirchlichen Maßnahmen des Staates. Die Beziehungen zwischen der
katholischen Kirche und dem Staat entwickelten sich harmonisch. Die
politischen Waffen des Antikatholizismus und des Atheismus, deren sich
zahlreiche Tschechoslowaken während der österreichischen Herrschaft im
Kampf gegen das katholische Haus Habsburg und gegen den Vatikan be-
dient hatten, verloren nach der Befreiung vom Joch der Habsburger ihre
politische Bedeutung.
Der Staat verhielt sich in religiösen Angelegenheiten neutral. Seine Ver-
fassung garantierte die Freiheit des Gewissens und des religiösen Bekennt-
nisses. Alle religiösen Bekenntnisse waren vor dem Gesetz gleich, keines
konnte für sich das Recht in Anspruch nehmen, Staatsreligion zu sein. Jede
Kirche wurde nach einem bestimmten gesetzlichen Modus vom Staat aner-
kannt und erhielt daraufhin staatliche Zuschüsse. Der Staat gab damit die
Garantie, sich nicht in religiöse Angelegenheiten einzumischen, und war
daher berechtigt, als Gegenleistung von den Kirchen die Garantie zu fordern,
sich nicht in Angelegenheiten einzumischen, die in die Zuständigkeit des
Staates fielen.
Der Heilige Stuhl nahm das Fait accompli des neuen Staates zur Kenntnis
und tauschte bereits 1918 mit ihm diplomatische Vertreter aus. Zwischen
Staat und Kirche gab es also keine Streitobjekte, wenn man von der Boden-
reform absieht, die auch den Großgrundbesitz katholischer Würdenträger
und religiöser Orden betraf. Aber diese Angelegenheit wurde auf der Basis
eines Quid pro quo geregelt.
Der Vatikan hoffte, daß dem Katholizismus durch die Freiheiten, die der
Staat ihm gewährte, große politische und soziale Früchte in den Schoß fallen
würden. Der Staat war so großzügig, gewisse Vorrechte, die die Kirche auf
religiösem Gebiet verlangte, zu gewähren. Als Gegenleistung befahl der
Vatikan allen Elementen im Bereich der Kirche, die daran arbeiteten, die
österreichisch -ungarische Monarchie wiederzu errichten oder die Republik
zu unterminieren, ihre Tätigkeit einzustellen. So entwickelte sich ein Ver-
hältnis wechselseitigen Verstehens zwischen dem Vatikan und der Republik.
Der Vatikan hatte zu jener Zeit guten Grund für ein solches Verhalten.
Erstens waren die massenhaften Kirchenaustritte, die wir bereits erwähnten,
für ihn ein alarmierendes Zeichen. Zweitens war die kirchenfeindliche
Stimmung in breiten Schichten der Bevölkerung noch im Wachsen begriffen.
Drittens wiegte sich der Vatikan in der Hoffnung, daß die Kirche mit Hilfe
der ihr gewährten Freiheiten ihre frühere Stellung im Staat wiedererlangen
könne. Das war einer der Gründe dafür, daß die vatikanische Diplomatie
alles daransetzte, die Bande zwischen den östlichen und westlichen Slawen,
239
ungeachtet der religiösen Dispute in der Karpato- Ukraine, zu festigen. Dieser
Modus vivendi zwischen dem Vatikan und der jungen Republik verhieß eine
lange Periode des Friedens zwischen beiden Mächten.
Die Kirche hatte in der jungen Republik bereits mancherlei Vorteile er-
rungen. Die Trennung von Kirche und Staat hatte ihr nicht weh getan. Die
kirchliche Trauung stand in der gesamten Tschechoslowakei nach wie vor
gleichberechtigt neben der standesamtlichen Trauung. In den Volks- und
Mittelschulen wurde offiziell Religionsunterricht erteilt. Die Theologen
hatten eigene Fakultäten an den Universitäten, und kirchliche Seminare
wurden mit öffentlichen Geldern unterhalten.
In gewissem Sinn war die junge Republik sogar duldsamer und weit-
herziger als das erzkatholische Österreich-ungarische Regime. Zum Beispiel
war die Frage des Einkommens der Geistlichkeit unter den Habsburgern
dauernd eine Streitfrage zwischen Kirche und Staat gewesen. Die Republik
löste dieses Problem auf gesetzlichem Weg: Die Geistlichen erhielten Gehalt
und Alterspension vom Staat. Davon hätte im alten Österreich -Ungarn
keiner von ihnen auch nur zu träumen gewagt. Auch die staatliche Gesund-
heitsversicherung stand den Geistlichen offen. Außerdem richtete der Staat
sein besonderes Augenmerk auf die Pflege kirchlicher Kunstwerke.
Im Jahre 1920 wurde die Tausendjahrfeier des heiligen Wenzel mit
großem Pomp begangen. Bei den religiösen Zeremonien waren nicht nur
die Kirchenführer, sondern auch die höchsten Vertreter der Republik an-
wesend. Bis Ende 1927 hatte man sich über die meisten Fragen geeinigt.
Der Vatikan erklärte sich mit der Regelung einverstanden, daß die kirch-
lichen Feiertage ebenso behandelt wurden wie die nationalen. Zu den kirch-
lichen Feiertagen gehörten unter anderen das Fest des heiligen Kyrill und
des heiligen Methodios, der Schutzheiligen der tschechoslowakischen Nation,
und das Fest des heiligen Wenzel. Gleichberechtigt neben diesen Feiertagen
stand der nationale Gedenktag für Jan Hus. Dieser Gedenktag hatte zwei
Jahre zuvor, worauf wir noch zu sprechen kommen, zum Abbruch der diplo-
matischen Beziehungen zwischen Prag und dem Vatikan geführt. Am
17. Dezember 1927 wurde der Modus vivendi unterschrieben. Mit Beginn
des Jahres 1928 wurden nach fast anderthalbjähriger Unterbrechung die
diplomatischen Beziehungen in vollem Umfang wiederaufgenommen.
Die Ratifizierung des Modus vivendi wurde mit vollem Recht als ein
Ereignis von großer politischer Bedeutung gewertet. Alle Probleme, die
bisher immer wieder das Verhältnis getrübt hatten, waren gelöst, die Be-
ziehungen zwischen der Republik und dem Vatikan schienen auf sicheren
Grundlagen zu ruhen. 1935 tagte in Prag ein Eucharisti scher Kongreß.
Kardinal Verdier, der französische Erzbisch of von Paris, nahm als Vertreter
des Papstes an dem Kongreß teil. Im November 1955 wurde Erzbischof
240
Kaspar von Prag zum Kardinal ernannt. Das war die erste Ernennung
dieser Art seit Bestehen der Republik.
Die guten Beziehungen zwischen Kirche und Staat reichten bis in das
Jahr 1918 zurück. Eduard Benesch, der langjährige Außenminister der
Tschechoslowakei, erkannte sehr bald nach der Gründung der Republik die
Bedeutung des Katholizismus sowohl für das Gefüge des jungen Staats-
wesens als auch in internationalem Maßstab. Er bemühte sich daher, engere
Beziehungen mit dem Vatikan herzustellen. Die normalen diplomatischen
Beziehungen waren bereits unmittelbar nach der Proklamierung der Tsche-
choslowakischen Republik aufgenommen worden. Nun wurde beim Vatikan
eine tschechoslowakische Legation eingerichtet und in Prag ein päpstlicher
Nuntius akkreditiert.
Bald darauf (1921) trat Benesch in Verhandlungen über eine Reihe po-
litisch-kirchlicher Fragen ein. Von vatikanischer Seite nahmen Kardinal-
staatssekretär Gasparri und Kardinal Ceretti teil. Die Verhandlungen wurden
1925 anläßlich eines Besuches von Dr. Benesch in Rom fortgesetzt. Sie
entwickelten sich vielversprechend, fanden aber 1925 infolge des bereits
erwähnten Abbruchs der diplomatischen Beziehungen durch den Vatikan
ein vorläufiges Ende.
Wir zeigten bereits an einigen Beispielen, wie liberal sich die tschecho-
slowakische Regierung zu den Forderungen der Kirche verhielt, sofern diese
Forderungen nicht den Prinzipien der Republik widersprachen. Jede andere
Kirche, jede andere Konfession hätte ein solch duldsames und konziliantes
Verhalten eines Säkular Staat es freudig begrüßt und alle Anstrengungen
unternommen, diese guten Beziehungen zum Staat weiterzuentwickeln;
nicht so die katholische Kirche. Sie erhob eine Forderung nach der anderen
und legte dabei eine Borniertheit an den Tag, wie sie auch zur Zeit der
mittelalterlichen Päpste nicht schlimmer hätte sein können. Typisch in
dieser Hinsicht war das Verhalten der katholischen Kirche im Jahre 1925
anläßlich der Feiern zu Ehren des tschechischen Nationalhelden Jan Hus.
Die Kirche hatte 510 Jahre zuvor Jan Hus als Häretiker, als Ver-
breiter von Glaubensirrtümern und als Feind des Katholizismus verdammt
und verbrannt. Das war für den Vatikan Anlaß, von der tschechoslowa-
kischen Regierung die Absage der Feiern zu verlangen. Man dürfe der
Kirche und den tschechischen Katholiken nicht durch die Glorifizierung
eines Häretikers, der es gewagt habe, den Befehlen des Vatikans zu trotzen,
Ärgernis bereiten, hieß es in einer Verlautbarung des Vatikans.
Die Antwort der tschechoslowakischen Regierung fiel aus, wie sie aus-
fallen mußte: Die Feiern würden notfalls auch ohne die Zustimmung des
Vatikans stattfinden. Der Vatikan befahl darauf den tschechischen, vor allem
aber den slowakischen Katholiken, gegen die Abhaltung der Feierlichkeiten
16 M359
241
Stellung zu nehmen. Die katholische Presse und die katholische Hierarchie
kamen diesem Befehl nach und schrieben und predigten gegen die Regie-
rung und gegen Jan Hus, so daß die Angelegenheit eine prinzipielle politische
Frage wurde. Der Vatikan erkannte jedoch bald, daß alle seine Anstren-
gungen, die Feiern zu unterbinden, erfolglos waren, und wies daher den
päpstlichen Nuntius in Prag an, offiziell „gegen das Ärgernis, das man der
katholischen Kirche durch die Ehrung eines Häretikers widerfahren" ließe,
zu protestieren und nach der Überreichung des Protestschreibens Prag zu
verlassen. Der Nuntius kam diesem päpstlichen Befehl am 6. Juli nach.
Damit hatte der Vatikan die diplomatischen Beziehungen zu einem Staat
abgebrochen, der, wie kaum ein anderer, jahrelang weitgehende Duldsam-
keit gegenüber der katholischen Kirche bewiesen hatte.
Um dieses Verhalten des Vatikans richtig zu beurteilen, muß man in
Betracht ziehen, daß die Tschechoslowakische Republik, auch während sich
diese Dinge ereigneten, einer Forderung des Vatikans nach der anderen groß-
zügig nachkam, obwohl keine sieben Jahre vergangen waren, seit sich das
tschechische Volk von dem jahrhundertelang getragenen Doppeljoch des
verhaßten Hauses Habsburg und der katholischen Kirche befreit hatte. Und
die Tschechoslowakische Republik bemühte sich, auch nach den Husfeiern,
wieder ein freundschaftliches Verhältnis zum Vatikan herzustellen ; es gelang
ihr auch, anderthalb Jahre später, wie bereits erwähnt, die diplomatischen Be-
ziehungen wiederaufzunehmen. Die junge Republik verfolgte also eine Politik
der Freundschaft mit der katholischen Kirche und gewährte ihr volle Freiheit.
Im Mittelalter, und vor nicht langer Zeit noch in Hitlerdeutschland, hatte
die Kirche häufig berechtigten Anlaß, sich über die Behandlung, die ihr
widerfuhr, zu beschweren. Solche Anlässe gab es für sie in der Tschechoslowa-
kei nicht. Dafür produzierte die katholische Kirche, getreu ihren Prinzipien,
Beschwerden anderer Art, Beschwerden rein sozialen und politischen Cha-
rakters. Sehen wir uns einige der Beschwerden, die ein gewisses Gewicht
hatten, etwas näher an. So behauptete die Kirche einmal, daß die Bevölke-
rung der Slowakei, obwohl vorwiegend katholisch, nicht die Freiheiten ge-
nieße, auf die sie als katholische Bevölkerung Anspruch habe; Prag zwinge
die slowakische Bevölkerung unter ein „hussitisches" Joch. Weiter beschul-
digte die Kirche die Prager Regierung, daß die von ihr vertretenen Prin-
zipien der religiösen und politischen Freiheit die Ausbreitung des „Bol-
schewismus" begünstigten und daß sie zu enge Beziehungen zu dem
„atheistischen und bolschewistischen Rußland" unterhalte.
Der Vatikan bemühte sich jahrelang auf diplomatischem Wege oder auf
dem Wege über die katholischen Organisationen und die Hierarchie im
Lande, die Republik den „Wünschen der Kirche" gefügig zu machen. Aber
die Republik duldete, da sie sich nicht in kirchliche Angelegenheiten
242
einmischte, auch keine Bevormundung durch die Kirche und ließ sich in ihrer
Politik von dem Grundsatz leiten, alles zu tun, was dem Wohl des eigenen
Landes dient. Sie behandelte die ultrakatholischen Slowaken ebenso wie alle
anderen Bürger der Republik und gewährte der katholischen Kirche die gleiche
politische Freiheit wie den Kommunisten. Und sie pflegte die Freundschaft
mit der Sowjetunion, weil diese Freundschaft für sie eine Sicherung gegen
die Feinde der Republik, namentlich gegen Deutschland, bedeutete.
Das Freundschaftsbündnis mit der Sowjetunion war eine der wichtigsten
Grundlagen der tschechoslowakischen Außenpolitik. Die Gründe dafür
waren einleuchtend. Man brauchte sich nur die geographische Lage der
Tschechoslowakei zu Deutschland anzusehen und an die Expansionsabsich-
ten zu denken, die Hitler bereits 1924 in seinem Buch Mein Kampf ge-
äußert hatte, um zu verstehen, weshalb die Tschechen Rußlands Freund-
schaft wünschten. Trotzdem führten katholische Kreise in der Tschecho-
slowakei und in anderen Ländern immer wieder Klage über dieses Bündnis
und versuchten die tschechoslowakische Regierung als „Agentur des Bolsche-
wismus in Europa" zu diskriminieren.
Nach Ansicht des Vatikans und vieler Katholiken waren die demokra-
tischen Grundsätze der Republik und ihre Freundschaft mit der Sowjetunion
schuld, daß die Sozialisten und die Kommunisten in der Tschechoslowakei so
stark anwuchsen und eine „Gefahr" wurden. Bei den letzten Wahlen errangen
die Sozialisten und die Kommunisten zusammen mehr als 1 700 000 Stim-
men. Es kam so weit, daß reaktionäre Elemente in der Slowakei die Los-
trennung ihres Landes von der Republik forderten. Sie taten dies unter dem
Vorwand, die Slowakei sei völlig katholisch und ihre Bevölkerung wünsche
einen Staat, in dem die katholische Religion vorherrschend sei. Das sei
jedoch unter der Regierung der „hussitischen Häretiker" — wie sie die libe-
ralen Tschechen bezeichneten — nicht der Fall.
Der Vatikan übte, obwohl er nach wie vor behauptete, daß er sich niemals
in die Politik einmische, wie in anderen Ländern so auch in der Tschecho-
slowakei immer wieder heftigen politischen Druck auf die Regierung aus.
Als er aber die Zwecklosigkeit seiner Bemühungen, die Haltung der Re-
gierung zur Sowjetunion und zu den Kommunisten und Sozialisten zu ändern,
einsah, begann er die Republik zu erpressen. Er ließ die tschechoslowakische
Regierung wissen, daß die Kirche, falls die Regierung nicht unverzüglich
ihre Innen- und Außenpolitik entsprechend den Wünschen der- Kirche
ändere, die Waffe einsetzen werde, mit der sie die Regierung am empfind-
lichsten treffen könne - die separatistische Bewegung der slowakischen
Katholiken. Und der Vatikan machte seine Drohung wahr und päppelte
jahrelang die slowakische Separatistenbewegung hoch. Wie bewußt dieses
Erpressungsinstrument von der Kirche benutzt wurde, kann man daran
243
erkennen, daß sie die Dosierung ihrer Unterstützung für die Separatisten
abhängig machte von der Willfährigkeit der Regierung gegenüber den
Wünschen und Forderungen der Kirche. Wenn auch ethnische, politische
und wirtschaftliche Faktoren bei der separatistischen Agitation in der Slo-
wakei eine Rolle spielten, so war doch die religiöse Seite der Bewegung
ausschlaggebend. Nicht zufällig stand die Bewegung unter der Führung
fanatischer Katholiken. Ihr Leiter war ein katholischer Priester.
Di eser regulierte Druck, dem die Prager Regierung jahrelang ausgesetzt
wurde, hatte jedoch nur eine schwache Wirkung. Aber die Dinge spitzten
sich zu. Zum ersten Skandal kam es, als sich der päpstliche Nuntius so ekla-
tant in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei einmischte, daß sich
die Regierung genötigt sah, öffentlich Einspruch zu erheben. DerNuntius hatte
es gewagt, einen Brief zu veröffentlichen, in dem er die Ansprüche gewisser
katholischer Kreise in der Slowakei unterstützte und guthieß. Seine Auswei-
sung aus der Tschechoslowakei war nicht länger zu umgehen. Der Vatikan
protestierte und übte mit Hilfe der katholischen Gläubigen einen Druck auf
die Regierung aus. Überdies spannte er die französische Hierarchie und
selbst gewisse französische Politiker in seine Intrigen gegen die tschecho-
slowakische Regierung ein. Dies geschah in den Jahren 1954 und 1955, in
einer Zeit also - wir werden im Kapitel über Frankreich darauf zurück-
kommen — , als in Frankreich starke katholische Kräfte am Werke waren,
in Mitteleuropa ein weiteres autoritäres Regime auf katholischer und anti-
bolschewistischer Grundlage zu errichten.
Die damalige französische Regierung arbeitete mit dem Vatikan und mit
tschechischen katholischen Kreisen Hand in Hand, nahm öffentlich gegen die
tschechoslowakische Regierung Stellung und half mit, in Prag eine riesige
Demonstration zu organisieren. Der Primas von Frankreich, Kardinal Ver-
dier, nahm mit prominenten polnischen und österreichischen Katholiken als
päpstlicher Legat an der Demonstration teil. Diese vom Vatikan organisierte
Demonstration war nicht nur eine offene Herausforderung, sondern auch
eine Bedrohung der tschechoslowakischen Regierung.
Der Vatikan nahm von nun an unmittelbar Kurs auf die Zerstörung der
„Hussitenrepublik" und bediente sich hierzu der Hilfe Hitlers, polnischer
und österreichischer Katholiken und französischer Reaktionäre. Bevor wir
aber die Geschehnisse weiter beschreiben, die zur Zerstörung der Republik
führten, wollen wir uns die Elemente innerhalb des Landes etwas näher
ansehen, die hierzu beitrugen.
Eine der reaktionärsten Gruppierungen in der Tschechoslowakischen
Republik war die Agrarpartei. Sie förderte die Herausbildung der Sudeten-
deutschen Partei und unterstützte sie auf mancherlei Art. Führer der
Sudetendeutschen Partei war der Katholik Konrad Henlein. Seine Partei
244
forderte, den Verteidigungspakt mit der Sowjetunion zu kündigen und einen
Kompromiß mit dem Dritten Reich zu schließen.
Eine weitere wichtige Partei war die Tschechoslowakische Volkspartei,
eine katholische Partei, die noch zur Zeit der österreichisch -ungarischen
Herrschaft gegründet worden war. Sie hatte immer loyal zur Dynastie der
katholischen Habsburger gestanden. Erst kurz vor der Revolution entschloß
sie sich, Einfluß auf die nationale Bewegung zu nehmen, und appellierte,
unterstützt von der Geistlichkeit, mit unterschiedlichem Erfolg an die
katholischen Gefühle der Arbeiter.
Die wichtigste Partei der Slowakei war die Slowakische Volkspartei. Sie
war, ihrem Wesen nach ebenfalls eine katholische Partei. Ursprünglich
hatte sie die Absicht, mit ihrer tschechischen Schwesterpartei zusammen-
zuarbeiten, verwandelte sich aber mit der Zeit immer mehr in eine slowa-
kische nationalistische Partei. Ihr Führer war der Prälat Hlinka. Sie ver-
einte in sich alle antitschechischen Kräfte, die seit der Gründung der Re-
publik in den verschiedenen Schichten der slowakischen Bevölkerung tätig
waren, und war das Sprachrohr des Katholizismus und des Konservatismus
in der Slowakei. Sie agitierte mit der Behauptung, die Slowakei habe inner-
halb des tschechoslowakischen Staates nicht die volle Autonomie und Gleich-
berechtigung erhalten. Die slowakische Opposition wurde durch den ver-
steckten Groll des katholischen Klerus gegen den Säkularstaat verstärkt.
Dieser Groll richtete sich vor allem gegen den Aufbau eines weltlichen
Erziehungswesens in der Slowakei. Der katholische Klerus sah in den ver-
besserten Bildungsmöglichkeiten für die Bevölkerung eine „sehr ernste Be-
drohung" der privilegierten Stellung der katholischen Kirche. So entsprang
der Wunsch nach Autonomie vor allem der Forderung, die vollständige
Kontrolle über das Erziehungswesen wiederzuerlangen. Diese Haltung des
slowakischen Klerus entsprach den Lehren der Kirche. Masaryks Lehrsatz:
„Es gibt keine Demokratie ohne Erziehung", gefiel der Kirche gar nicht;
denn sie forderte nicht nur für die Slowakei, sondern für die ganze Republik
die alleinige Kontrolle über das Erziehungswesen.
Wir wiesen bereits darauf hin, daß das Erziehungswesen in der Tschecho-
slowakei weltlichen und nicht konfessionellen Charakter trug. Daran än-
derte auch die Tatsache nichts, daß die Regierung den Religionsunterricht
in den Schulen aus öffentlichen Mitteln unterstützte, und zwar unabhängig
von dem jeweiligen religiösen Bekenntnis, was von der katholischen Kirche
scharf verurteilt wurde. Die tschechoslowakische Republik hatte auf dem
Gebiet des Erziehungswesens große Fortschritte erzielt und nahm in dieser
Hinsicht eine führende Stellung in Europa ein.
Um uns ein genaues Bild von der Lage der slowakischen Bevölkerung im
tschechoslowakischen Staat zu machen, wollen wir uns einige Zahlen
245
ansehen. Im Jahre 1918 gab es für 2 Millionen Slowaken 390 slowakische
Lehrer und 276 slowakische Grundschulen. Damit endete das slowakische
Volksbildungssystem. Die Situation in der Karpato -Ukraine war noch
schlechter; dort gab es gar keine Schulen. Im Jahre 1930, also nur zwölf
Jahre nach der Gründung der Republik, hatte die Slowakei 2652 Grund-
schulen, 39 Oberschulen, 13 Fachschulen und eine Universität. Der Staat
und die örtlichen Verwaltungen errichteten durchschnittlich 100 neue
Schulgebäude in jedem Jahr, und in den ersten vierzehn Jahren seit der
Gründung der Republik wurden insgesamt 1381 neue Grundschulen gebaut.
2623 Schulen wurden vergrößert und modernisiert. In den vierzehn Jahren
schuf die Republik 2 Universitäten, 9 technische Fachschulen und 45 Ober-
schulen, So sah die Bilanz des Volksbildungswesens der jungen Republik
allein in der katholischen Slowakei aus.
Die Losung der Separatisten: „Die Slowakei den Slowaken" hatte ihren
Ursprung unter anderem in antisemitischen Stimmungen und in dem
Widerstand gegen die Rassengleichberechtigung in der Tschechoslowa-
kischen Republik. Die katholische Partei weigerte sich mehrere Male, in
die Regierung einzutreten. Außer ihr gab es in der Slowakei die „Nationale
Union", zu der die „Nationale Front" und die „Nationale Liga" gehörten.
Sie wurde 1935 gegründet und zeigte faschistische Tendenzen.
Das war die Bühne, auf der sich die Ereignisse abspielten, mit denen wir
uns jetzt befassen wollen.
In dem Kapitel über Deutschland wurden bereits Hitlers Pläne bezüglich
der Tschechoslowakei erwähnt, die er in der Zeit vor und nach dem An-
schluß Österreichs mit dem Vatikan besprach. Zur Erledigung dieses neuen
Opfers bediente sich Hitler, mit Billigung des Vatikans, wieder katholischer
Werkzeuge. Zweifellos arbeitete Hitler nicht mit dem Vatikan zusammen,
um die Sache der Religion zu fördern, und der Vatikan nicht mit Hitler,
um jene Abart des Totalitarismus, die im neuen Deutschen Reich an der
Macht war, zu unterstützen. Jeder hatte nur die eigenen Ziele im Auge.
Wir haben bereits davon gesprochen, daß der Vatikan nach der Auswei-
sung des päpstlichen Nuntius Kurs auf die Zerstörung der Tschechoslowa-
kischen Republik genommen hatte. Er erreichte dieses Ziel, indem er die
Republik durch einen Teil der katholischen Bevölkerung von innen her
erpreßte und sie gleichzeitig für ein politisches Tauschgeschäft mit Hitler
benutzte.
Die katholischen Slowaken, angeführt von dem katholischen Geistlichen
Hlinka, setzten ihre antitschechische Agitation auch dann fort, als die Re-
publik bereits unmittelbar von Nazideutschland bedroht wurde. Hitler hatte
es beim ersten Akt seines Raubzugs gegen die Republik nicht nötig, sich der
slowakischen Separatisten zu bedienen. Er brauchte lediglich einen Vorwand
246
zur Rechtfertigung seiner Invasion und behauptete deshalb, die Sudeten-
deutschen schützen zu müssen. Ein aktionsbereites Werkzeug hierzu bot
sich ihm in Gestalt der Sudetendeutschen Partei unter der Führung des
Katholiken Henlein.
Man mußte schon mit politischer Blindheit geschlagen sein, wenn man
die Lektion übersah, die Hitler wenige Monate zuvor den katholischen
Österreichern erteilt hatte. Trotzdem schlössen sich zahlreiche Katholiken
Henlein an und unterstützten dadurch Hitlers Pläne. Wohl machten viele
von ihnen gewisse Vorbehalte, aber ihr Widerstand beruhte nicht auf poli-
tischen Überlegungen, sondern auf der Befürchtung, Hitler könne der
katholischen Religion in ihrem Lande die gleiche Behandlung zuteil werden
lassen wie in Österreich. Hitler gab daher, als er von diesen Befürchtungen
Kenntnis erhielt, Henlein das Wort, daß er alle Rechte und Privilegien der
katholischen Gläubigen des Sudetengebietes achten werde.
Um die Katholiken des Sudetengebietes und vor allem die Westmächte
erfolgreicher zu täuschen, veröffentlichte Mussolini auf Hitlers Veranlas-
sung einen offenen Brief, in dem er erklärte, eine private Unterredung mit
Hitler habe ihn davon überzeugt, daß Deutschland lediglich die von Deut-
schen bewohnten Gebiete von der Tschechoslowakei abtrennen wolle. Henlein
und seine Anhänger verstärkten ihre Aktivität und erhielten mittelbare und
unmittelbare Unterstützung von den slowakischen Katholiken.
München kam mit all seinen internationalen Verwicklungen und unheil-
schwangeren Vorzeichen. Es kann nicht Aufgabe dieser Schrift sein, sich im
einzelnen damit zu befassen, wie die westlichen Demokratien vor Nazi-
deutschland kapitulierten. Wir möchten uns hier, dem Charakter des Buches
entsprechend, nur damit beschäftigen, welchen zwar indirekten, aber nicht
zu übersehenden Einfluß der Vatikan auf dieses verhängnisvolle internatio-
nale Geschehen genommen hat.
Einmal muß hier festgestellt werden, daß die katholische Kirche der
Slowakei durch die Schürung der antitschechischen Stimmung in einer Zeit,
als der Zusammenschluß aller Kräfte zur Festigung der staatlichen Einheit
von größter Wichtigkeit gewesen wäre, wesentlich zur Auflösung der Re-
publik beitrug. Zum andern verdient festgehalten zu werden, daß sich Hitler
bei seinem ersten Eingriff in den Körper der Tschechoslowakei (Abtrennung
der Sudetengebiete) eines Herrn Henlein* bediente, der ebenso wie die mei-
sten seiner Parteigänger und Mitläufer streng katholisch war.
Drittens darf nicht übersehen werden, daß die von katholischen Kräften
beherrschte Großmacht, die der Tschechoslowakischen Republik noch kurz
* Henlein stand bereits seit 1933 in Hitlers Sold (Erklärung des britischen General-
staatsanwaltes beim Internationalen Militärtribunal in Nürnberg am 3. Dezember 1945).
247
zuvor versichert hatte, daß sie ihrer vertraglichen Beistandspflicht nachkom-
men werde, ihr Wort nicht hielt. Frankreich überließ die Tschechoslowakei
ihrem Schicksal.
Dieser dritte Punkt führt uns unmittelbar in eines der umstrittensten
Kapitel der damaligen internationalen Politik, auf das wir jedoch hier nicht
näher eingehen können. Um in unserer Frage klarzusehen, brauchen wir
uns nur zu erinnern, daß in Frankreich bereits zu jener Zeit starke faschi-
stische Gruppen hinter den Kulissen tätig waren, in denen fanatische Katho-
liken aus den Kreisen der Industriebarone, Bankherren, Gutsbesitzer, Mili-
tärs und der Beamtenschaft den Ton angaben. Sie alle vereinigte die gleiche
verhängnisvolle Furcht vor der Sowjetunion und vor dem Kommunismus,
von der auch die katholische Kirche besessen war und ist. Ihr Bündnis mit
dem Vatikan diente also eindeutig antisowjetischen Zielen. (Siehe Kapi-
tel XVI, Frankreich und der Vatikan)
Die Tschechoslowakei war damals ein mitteleuropäisches Gibraltar, eine
Festung, die dem Vormarsch Nazideutschlands gegen das Land des Kommu-
nismus im Wege stand. Genau das sahen auch die katholische Kirche und
die reaktionären Kräfte Frankreichs in ihr und wünschten sie deshalb zu
liquidieren.
Während Frankreich also seinen Freund und Beistandsvertragspartner
im Stich ließ, erklärte die Sowjetunion unmißverständlich, daß sie bereit
sei, zu kämpfen, wenn Frankreich zu seinem Wort stehe. Wir werden im
Kapitel Frankreich näher darauf eingehen, welche Kräfte damals in Frank-
reich in Übereinstimmung mit dem Vatikan am Werk waren. Hier genügt die
Feststellung, daß Hitler sein Ziel erreichte, sogar trotz gegenteiliger Vor-
aussagen seiner Generale, namentlich des Generalstabschefs, Generaloberst
Beck.
Hitler wagte aber nicht, das gesamte Territorium der Tschechoslowakei auf
einmal zu besetzen. Ihm schien es ratsam, schrittweise vorzugehen. Der erste
und wichtigste Schritt, die Abtrennung der Sudetengebiete, war getan. Das
nächste Ziel war, die gesamte Tschechoslowakei zu besetzen, ohne es darüber
zu einem Krieg kommen zu lassen, auf den er noch nicht genügend vorberei-
tet war. Die Republik mußte daher weiter von innen zersetzt werden. Wer
wäre dazu besser geeignet gewesen als die katholische Slowakei? Die Kirche
zögerte keinen Augenblick, Hitler dabei weitgehend zü unterstützen.
Solange Pater Hlinka die katholische Partei in der Slowakei führte, hielt
er verschiedentlich seine Anhänger und sogar den Vatikan davon ab, die
Dinge auf die Spitze zu treiben. Er strebte lediglich eine Autonomie für die
Slowakei an und keine Lostrennung. Als der päpstliche Nuntius ihm einmal
zu verstehen gab, daß ein unabhängiger slowakischer Staat im Interesse der
Kirche liege und die Slowaken deshalb ihre Lostrennung betreiben sollten,
248
war Pater Hlinka ehrlich genug, dieses Ansinnen zurückzuweisen. Er er-
klärte, daß er eine solche Lösung nicht für vorteilhaft und nutzbringend
halte, und machte den Nuntius aufmerksam, daß er der Republik einen
Treueid geschworen habe.
Pater Hlinka starb 1938. Noch kurz zuvor hatte er seine Anhänger
ermahnt, sich mit der Forderung nach Autonomie zu begnügen und die
Republik nicht durch die Forderung nach völliger Lostrennung zu gefährden.
Sein Nachfolger wurde Tiso, ebenfalls ein Priester, einer der fanatischsten
Anhänger Hlinkas. Tiso stammte aus einer Bauernfamilie und war in
Ungarn erzogen worden. Während der Verhandlungen mit dem Vatikan, bei
denen Hlinka vom Vatikan und von den extremsten slowakischen Nationa-
listen unter Druck gesetzt wurde, erwies sich Tiso als gelehriger Schüler des
päpstlichen Nuntius und trat für die Vorschläge des Vatikans ein. Der
Vatikan wußte diesen Dienst zu schätzen und verlieh ihm kurz darauf den
Titel Monsignore.
Eine der ersten Amtshandlungen Tisos als Ministerpräsident der Slowakei
war, daß er die volle Unabhängigkeit des Landes forderte. Er tat dies in
Übereinstimmung mit Hitler und mit dem Vatikan, die beide genau wußten,
in welcher Richtung die Dinge sich entwickelten. Der Präsident der
Republik, dem Tiso kurz zuvor den Treueid geleistet hatte, enthob ihn
seines Amtes.
Was tat Tiso? Er begab sich unverzüglich nach Deutschland, in das Land
seines Freundes und Helfers Hitler, und zwar mit einem Flugzeug, das ihm
der österreichische Katholik Seyß-Inquart auf Hitlers Befehl zur Verfügung
stellte. Seyß-Inquart war bereits bei der Ausarbeitung der Verschwörer-
pläne als Mittelsmann zwischen Tiso und Hitler tätig gewesen.
In Berlin wurde Tiso mit großem Gepränge empfangen. Er verhandelte
mit Hitler und Ribbentrop und unterhielt gleichzeitig sehr enge Verbindung
zu dem Vertreter des Vatikans. Gerade zu dieser Zeit bestieg jener päpstliche
Staatssekretär, der solange am Schalthebel der vatikanischen Politik gesessen
hatte, unter dem Namen Pius XII. den Heiligen Stuhl. Der neue Papst war
in diesen Tagen vor dem Verrat an der Tschechoslowakischen Republik so
beschäftigt, daß er, nach Angaben seiner Biographie, kaum Zeit für einige
Tage Urlaub fand. Er stand zu Beginn seines Pontifikats in der Tat vor zwei
schwierigen Problemen, die beide eine sehr sorgfältige Prüfung verlangten.
Es handelte sich um Mussolinis Raubzug gegen Albanien und um Hitlers
Raubzug gegen die Tschechoslowakei.
Es gibt nur wenige Unterlagen über die Weisungen, die Tiso von dem
neuen Papst erhielt. Aber wir wissen, daß sowohl Tiso als auch Ribbentrop
mit dem Vatikan nicht nur auf dem üblichen diplomatischen Wege, sondern
auch über die faschistische Regierung in Italien verhandelten. Mehr als
249
einmal schaltete sich die italienische Regierung zugunsten Hitlers und Tisos
beim Vatikan ein.
Wenige Tage nach Tisos Ankunft in Berlin veröffentlichte die Nazipresse
Schreckensberichte über angebliche Untaten der tschechoslowakischen Re-
gierung an der slowakischen Bevölkerung. Tiso teilte seinen katholischen
Freunden in der Slowakei telephonisch mit, Hitler habe ihm versprochen,
das Anliegen der katholischen Slowakei zu unterstützen, falls sie ihre Un-
abhängigkeit erklärte. Nun begann sich auch Ungarn einzumischen. Der
ungarische Primas, der unmittelbar mit dem Vatikan in Verbindung stand
und mit Tiso enge Beziehungen unterhielt, sah die Früchte seiner Tätigkeit
reifen. Die ungarische Regierung, die Hitlers und der katholischen Kirche
Haß gegen die „bolschewistische" tschechoslowakische Republik teilte,
forderte von der Regierung die Abtretung der Karpato -Ukraine. Auch das
katholische Polen schlug sich offen auf Hitlers Seite und forderte die Auf-
lösung der „Hussitenrepublik".
Die Tragödie ging ihrem Ende zu. Hitler befahl den Präsidenten der
Tschechoslowakischen Republik zu sich. Dr.Hacha traf am 15. März 1939
um ein Uhr morgens in Berlin ein. Ihm wurde befohlen, seine Unterschrift
unter ein Dokument zu setzen, das die Auflösung seines Landes verfügte.
Im Falle seiner Weigerung würden siebenhundert Bombenflugzeuge inner-
halb von vier Stunden Prag dem Erdboden gleichmachen.
Präsident Hacha unterschrieb. Das Schicksal der Republik war besiegelt.
Die „Dämmerstunde der Freiheit in Mitteleuropa", wie es in den New York
Times hieß, war angebrochen. Nazitruppen besetzten Prag und das ganze
Land. Böhmen und Mähren wurden ein „Protektorat" der Nazis. Die katho-
lische Slowakei erhielt als Lohn für ihre Dienste von Hitler den Status eines
unabhängigen Landes. Die Tschechoslowakische Republik hatte aufgehört
zu bestehen.
Der Vatikan hatte seinem hochstrebenden Bau eines christlich -katho-
lischen, faschistischen Europas einen neuen Stein eingefügt. Eine Republik
war verschwunden, die durch ihre liberale Innen- und Außenpolitik dem
Vatikan ein Dorn im Auge gewesen war. An ihrer Stelle entstand auf einem
Teil ihres Territoriums ein neuer katholischer Staat, der ganz nach den
Grundsätzen der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo Anno aufgebaut
wurde.
Tiso begann die Slowakei entsprechend den totalitären, antidemokratischen,
antisäkularen und antisozialistischen Prinzipien Mussolinis, Hitlers und der
katholischen Kirche umzugestalten. Als erstes legte er Wert darauf , einen Wahl-
spruch für den neuen katholischen Staat zu rinden. Am besten gefiel ihm die Lo-
sung: „Für Gott und Vaterland." Dann prägte er Münzen mit den Porträts der
slawischen Heiligen Kyrill und Methodios, nahm diplomatische Beziehungen
250
mit dem Vatikan auf, erließ Gesetze gegen die Kommunisten, die Sozia-
listen, die Liberalen und andere politische Gruppierungen und unterdrückte
deren Zeitungen und Organisationen. Meinungs-, Presse- und Redefreiheit
wurden aufgehoben. Der Staat wurde entsprechend dem faschistischen Führer-
prinzip umgebaut, und die Jugend nach dem Vorbild der Hitlerjugend
organisiert. Die Schulen gerieten unter die alleinige Kontrolle der katho-
lischen Kirche. Selbst die nazistischen Sturmabteilungen wurden schablonen-
haft übernommen und später in eine Legion katholischer Freiwilliger um-
gebildet, die an der Seite der Naziarmee gegen die Sowjetunion kämpfte.
Trotz der Beanspruchung durch die zahlreichen Amtsgeschäfte fasteten
Tiso und die Mitglieder seiner Regierung in jeder Fastenzeit regelmäßig
drei Tage lang und besuchten eifrig die Gottesdienste. Monsignore Tiso
duldete nicht, daß seine Arbeit als Ministerpräsident ihn in der Erfüllung
seiner priesterlichen Pflichten hemmte. Jede Woche ließ er, ähnlich wie
Seipel, seine Amtsgeschäfte einen Tag ruhen, um in Banovce seinen Pflich-
ten als Gemeindepfarrer nachzukommen.
Der sozialen Struktur des neuen Regimes lagen, wie die Päpste es ge-
fordert hatten, die Prinzipien des Ständestaates zugrunde. Die Gewerk-
schaftsorganisationen wurden verboten, weil sie, wie Tiso sich ausdrückte,
„unter den alles vergiftenden Einfluß des Liberalismus und Individualismus
geraten waren; um diese Elemente der Zerstörung von ihrer destruktiven
Tätigkeit abzuhalten, waren wir gezwungen, unser ganzes Land auf stän-
discher Grundlage zu erneuern, wie die katholische Kirche uns lehrt"
(17. April 1943). „Die slowakischen Arbeiter können versichert sein, daß es
keineswegs nötig ist, von einem sogenannten bolschewistischen Paradies zu
träumen oder vom östlichen Ausland eine gerechtere soziale Ordnung zu
erwarten. Die Lehren der Religion werden ihnen klarmachen, was unter
einer gerechten sozialen Ordnung zu verstehen ist."
Ein weiterer wichtiger Teil des Ständesystems waren die Gesetze zum
„Schutz der Familie", sie waren eine Kopie der faschistischen Gesetzgebung.
Aufgabe der Familie sei es, der jüngeren Generation die ersten Lehren in
Religion, Gehorsamsübung und Respekt zu erteilen. „Die Regierung ist
entschlossen, ihre ganze Aufmerksamkeit der Vervollkommnung ihrer
Sozialpolitik zuzuwenden. Die Familie als die Grundzelle eines gesunden
nationalen und menschlichen Lebens wird den vollen Schutz des Staates
genießen, wie es das allgemeine Wohlergehen und die katholische Religion
fordern."
Nach dem Vorbild der Hitlerjugend schuf Tiso die Hlinkagarde und die
Hlinkajugend. Außerdem übernahm er von den Nazis den Arbeitsdienst und
die Struktur der Nazipartei für seine Slowakische Hlinka- Volkspartei Alle
Organisationen waren nach dem „Führerprinzip" aufgebaut.
251
Tisos Regierungserklärungen wurden nach Hitlerschen Vorlagen ab-
gefaßt. „Eiserne Disziplin, unbedingter Gehorsam, bewußte Pflichterfüllung,
wirksame Zusammenarbeit zwischen Behörden und Volk", waren ständig
wiederkehrende Forderungen in seinen Reden. Nur wer sich als eifriger
Katholik betätigte, konnte mit einer Anstellung im Schulwesen und in der
staatlichen Verwaltung rechnen. Wer sozialistischer oder kommunistischer
Gesinnung verdächtig war, kam in Acht und Bann. Die Gefängnisse füllten
sich mit politischen Häftlingen. Tiso gründete nach dem Vorbild der
nazistischen Ordensburgen politische Schulen, in denen die Lehren des
katholischen Totalitarismus vermittelt wurden. Außer seiner Partei waren
alle anderen Parteien verboten.
„Der Kampf um unsere Existenz und um unsere politischen Rechte war der Grund für
das Auftreten unserer Partei, die sich an ähnliche Bewegungen im faschistischen Italien
und im nationalsozialistischen Deutschland anlehnte. Unter dem Zeichen des Faschismus
erweckte Italien sein Volk zum Bewußtsein seiner Mission in der Welt und rettete
es vor hoffnungsloser Lethargie und vor der Geißel des Bolschewismus." (Tiso am 30. Ja-
nuar 1945)
Auch bezüglich der Judenverfolgung trat Tiso in die blutigen Fußtapfen
der Nazis. Einigen Katholiken, die an der Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens
zweifelten, erklärte er:
„Was die jüdische Frage anbelangt, so fragen manche, ob das, was wir tun, christlich
und human sei. Ich frage so : Ist es christlich, wenn die Slowaken sich von ihren ewigen
Feinden, den Juden, befreien wollen? Die Liebe zu unserem Nächsten ist Gottes Gebot.
Seine Liebe macht es mir zur Pflicht, alles zu beseitigen, was meinem Nächsten Böses
antun will" (Tiso am 28. August 1942)
Tiso hegte einen unversöhnlichen Haß gegen die Sowjetunion und unter-
ließ keine Anstrengung, aus den Slowaken ebenfalls fanatische Bolschewisten-
hasser zu machen. Die katholische Geistlichkeit half ihm nach Kräften, eine
slowakische Legion für die Ostfront aufzustellen.
„Die bolschewistischen Welteroberungspläne machen jedem Slowaken klar, daß er
kämpfen muß, nicht nur, um selbst zu überleben, sondern ebenso, um die europäische
Kultur und die christliche Zivilisation vor den Kräften der bolschewistischen Barbarei
und Brutalität zu retten und zu schützen." (Tiso am 25. Mai 1944)
„Der apokalyptische Bolschewismus, freigesetzt vom Kapitalismus, bringt Tod und
Zerstörung mit sich. Wir Slowaken sind Katholiken und haben immer für die Sache der
Menschheit gefochten." (Tisos Weihnachtsbotschaft 1944)
Tiso besuchte seine Legionäre an der Ostfront und verlieh deutschen
Generalen und Offizieren hohe Orden. Bei einer solchen Gelegenheit er-
klärte er: „Wir können nicht zweifeln, daß ein Sieg der Alliierten für unser
Volk die Auslieferung an die bolschewistische Tyrannei bedeuten würde.
Die Slowakei wird bis zum Endsieg an der Seite der Achsenmächte stehen."
(27. September 1944)
252
Noch am 20. Oktober 1944 nannte Tiso Nazideutschland den Retter
Europas: „Deutschland ist als Bannerträger der progressivsten sozialen
Ideen allein fähig, den sozialen Ansprüchen aller Nationen gerecht zu
werden."
Aber der Krieg verlief nicht so, wie Hitler und Tiso es gewünscht hatten.
Die Sowjetarmee überschritt die Grenzen Deutschlands und der früheren
Tschechoslowakischen Republik. Tiso rief alle katholischen Slowaken auf,
den Kampf fortzusetzen.
Als Präsident Benesch 1944 nach Moskau fuhr, um den Freundschafts-
pakt mit der Sowjetunion zu unterzeichnen, schlugen Tiso und die katho-
lischen Reaktionäre der Slowakei entsetzt die Hände über dem Kopf zu-
sammen und jammerten über das „monströse Verbrechen" des „Hussiten
Benesch", der die Slowakei an die „gottlosen Bolschewisten" verkauft habe.
Die katholischen Bischöfe und die Geistlichkeit des „Protektorats Böhmen
und Mähren" schlössen sich Tiso an. Sie predigten gegen Benesch und seine
Exilregierung in London und verfaßten sogar einen Hirtenbrief, der die
Handlungen der tschechoslowakischen Regierung in London verurteilte.
Der Brief wurde jedoch nicht veröffentlicht, denn der Vatikan arbeitete zu
dieser Zeit bereits mit den Alliierten zusammen, da er eingesehen hatte, daß
die Niederlage Nazideutschlands unausbleiblich war. Es schien geboten, die
Äußerungen der Katholiken, die nahe der sowjetischen Grenze lebten, unter
Kontrolle zu halten. Die Bischöfe bekamen Weisung, sich „nicht offiziell zu
kompromittieren", und gaben daraufhin — auch nach der Unterzeichnung
des tschechoslowakisch -sowjetischen Freundschaftspaktes - nur noch finstere
Warnungen über die „Gefahren aus dem Osten" von sich.
Der neue katholische Ständestaat der Slowakei, auf den die katholische
Kirche soviel Mühe verwandt hatte, brach mit der militärischen Niederlage
der Nazis zusammen. Aber das Scheitern ihres Planes entbindet all die
kirchlichen und politischen Institutionen und Personen, die sich an der Zer-
störung der Tschechoslowakischen Republik mitschuldig gemacht haben,
nicht von ihrer Verantwortung. Ihr Ehrgeiz, einen faschistischen totalitären
Staat zu schaffen, beschleunigte den Ausbruch des zweiten Weltkrieges und
machte die Slowakei zum Helfer und engen Partner des Nazismus, der die
Menschheit in ein Meer von Blut trieb.
Kapitel xiv Polen und der Vatikan
Religiosität und andere, durch jahrhundertelange Unterdrückung begründete Cha-
raktermerkmale des polnischen Volkes - Bündnis der reaktionären Kreise Polens mit
der katholischen Kirche - Todfeindschaft gegen die Sowjetunion - Erste Schläge des
neuen polnischen Staates gegen Sowjetrußland - Die Annexionspolitik der polnischen
Nationalisten gegen Sowjetrußland - Polens Innenpolitik - In Polen wird eine der
ersten faschistischen Diktaturen Europas errichtet - Grundlage der polnischen Außen-
politik vor dem zweiten Weltkrieg: Feindschaft gegen die Sowjetunion - Oberst Becks
späte Erkenntnisse.
D er Einmarsch der Hitlerwehrmacht in Polen am I.September 1939,
wenige Monate nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei, bedeutete den
Beginn des zweiten Weltkriegs. Die Polen kämpften tapfer, aber hoffnungs-
los gegen die gut ausgerüsteten, größtenteils motorisierten Verbände der
Nazi Wehrmacht. Sie verloren in kaum drei Wochen ihre Unabhängigkeit.
Aber polnische Armeen, Luftwaffeneinheiten und Kriegsschiffe setzten an
fast allen Fronten des zweiten Weltkriegs den Kampf gegen Nazideutschland
fort.
Die polnische Nation, die klassische Märtyrernation Europas, hatte einen
wenig beneidenswerten geschichtlichen Weg hinter sich. Hier sind wohl
auch die wesentlichen Gründe dafür zu suchen, daß die Lage Polens bei
Ausbruch des zweiten Weltkriegs längst nicht so einfach war, wie es auf den
ersten Blick scheinen mochte. Nur wenn man den Hintergrund im Auge
behält, vor dem sich Polens Innen- und Außenpolitik entwickelte, ist es
möglich, wenn auch nur oberflächlich, die Ursachen für den polnischen
Zusammenbruch zu verstehen.
Bevor wir uns aber mit diesem Hintergrund befassen, müssen wir fest-
stellen, daß hier nicht der Ort ist, die sozialen, ethnischen, territorialen und
politischen Triebkräfte zu analysieren, die vor allem in der Periode zwischen
den beiden Weltkriegen in Polen wirkten. Wir können lediglich die polnische
Tragödie hinsichtlich der Probleme untersuchen, mit denen wir uns in
diesem Buch befassen — der Probleme der katholischen Kirche. Diese
Probleme hatten in Polen ein besonderes Gewicht, denn Polen war ein
extrem katholisches Land.
Im nördlichen Teil Europas blieb jahrhundertelang nur ein Land dem
Vatikan treu — das katholische Polen. Seit im Jahre 1574 sein französischer
König nach Frankreich zurückkehrte, „die Kronjuwelen mit sich nehmend
und die Jesuiten zurücklassend", wie Michelet sich treffend ausdrückte, war
Polen ein Bollwerk des Katholizismus.
254
Schon oft wurde der berechtigte Vergleich angestellt, daß das katholische
Polen der Vergangenheit das Irland Nordosteuropas gewesen sei. Es wider-
stand den brutalen Unterdrückungsmaßnahmen der russischen Zaren und
ihren Versuchen, die Liebe des polnischen Volkes zu seiner Nation und zu
seiner Kirche auszurotten. Auf Grund des Verlustes seiner nationalen
Unabhängigkeit und auf Grund zahlreicher anderer Tatsachen war Polen
zu Beginn des ersten Weltkriegs auf allen Gebieten menschlicher Errungen-
schaften weit zurückgeblieben. Die katholische Kirche war trotz der unab-
lässigen und grausamen Verfolgungen, denen sie ausgesetzt war, in der
ganzen Zeit der Unterdrückung der vorherrschende Faktor im Leben des
Landes. Die polnischen Arbeiter gehörten zu den niedrigst bezahlten
Europas.
Ein weiteres Charaktermerkmal der Polen war ihre Frömmigkeit. Die
Polen waren so intensiv religiös, daß ihre Frömmigkeit selbst in den Städten
die der entlegensten Winkel Chiles und Perus übertraf (Revue des deuz
Mondes, Februar 1953). Dieses Merkmal des polnischen Volkes wäre nicht
wert, erwähnt zu werden, wenn sich bis heute nichts daran geändert hätte.
Wir beziehen uns nur darauf, um nachzuweisen, wie groß der Einfluß der
katholischen Kirche in der Bevölkerung gewesen ist. Diese Frömmigkeit war
ein Attribut des ganzen Volkes, auch seiner oberen Gesellschaftsschichten,
die, als Polen seine politische Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, nicht
nur in religiösen, sondern auch in sozialen und politischen Fragen zu den
ergebensten Dienern des Vatikans" gehörten.
Dies hatte seine Ursache vor allem darin, daß die polnische Oberschicht
aus den reaktionärsten Elementen des Volkes, vor allem aus Großgrund-
besitzern, bestand. Die Interessen dieser reaktionären Schichten trafen sich
mit denen der katholischen Kirche. Eine Maxime beherrschte ihre gesamte
Politik: Glühender Haß gegen Rußland als benachbartes Land und fana-
tischer Haß gegen Rußland als Zentrum des Kommunismus. Darin stimmten
die polnische Reaktion und die katholische Kirche völlig überein. Die Polen
betrieben daher auf dieser doppelten Grundlage des Nationalismus und des
Katholizismus eine Politik des unablässigen Boykotts der Sowjetunion.
Obwohl Polen allen Anlaß gehabt hätte, das Wiederaufleben des deutschen
Imperialismus zu fürchten, konzentrierte es, vom Nationalismus und Katho-
lizismus mit Blindheit geschlagen, seinen ganzen Haß auf den östlichen
Nachbarn.
Das katholische Polen und der Vatikan mußten, um eine gemeinsame
Politik betreiben zu können, vorerst ihre Positionen im Lande stärken. In
Polen gab es, wenn auch in kleinerem Maßstab, alle die Probleme, die durch
den Vatikan und durch die katholische Kirche in ganz Europa zu lösen
waren. Die Hauptziele der polnischen Innenpolitik waren: Erhaltung des
255
Status quo für die reichen Großgrundbesitzer und die Aristokratie, Poloni-
sierung der nationalen Minderheiten und Bekehrung aller, die nicht der
alleinseligmachenden Kirche angehörten. Die praktischen Ziele dieser Politik
waren: die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern und ihn
möglichst zu zerschmettern; ferner, die nationalen Minderheiten, vor
allem die Ukrainer, zu unterdrücken und zu Polen zu machen, gleich-
zeitig die orthodoxe Religion auszurotten und durch den Katholizismus
zu ersetzen.
Der Vatikan hatte sich noch weitere Ziele gesteckt. In der Kräfte -
kombination, mit der er diese Ziele erreichen wollte, war dem katholischen
Polen eine bedeutende Rolle zugedacht. Der Vatikan beabsichtigte, das
atheistische Sowjetrußland zu vernichten. Als ersten Schritt auf diesem Weg
wollte er die orthodoxe Religion durch die katholische ersetzen, um dann mit
Hilfe einer ihm unterstehenden Hierarchie die Sowjetmacht zu unterminie-
ren und zu stürzen. Wir werden noch sehen, wie der Vatikan ~ so absurd es
klingt — zeitweise sogar versuchte, die Hilfe der Sowjetregierung zur Zer-
störung der orthodoxen Kirche in Anspruch zu nehmen.
Die gegen Sowjetrußland gerichteten Pläne des Vatikans wurden von den
polnischen Nationalisten, die bereits unmittelbar nach der Wiedergeburt des
polnischen Staates von einer territorialen Ausdehnung ihres Landes auf
Kosten Sowjetrußlands träumten, auf das wärmste begrüßt. Verbündete zur
Verwirklichung dieser Träume fanden sich rasch, denn an Hassern des
Kommunismus fehlte es in der Welt nicht. Paderewski, der erste polnische
Ministerpräsident und Außenminister, brauchte wenig Mühe, um die fran-
zösische Regierung davon zu überzeugen, daß Polen als ein erbitterter Feind
Sowjetrußlands gestärkt werden müsse, wenn es seine Rolle als „Bollwerk
gegen den Kommunismus" mit Erfolg spielen solle. Mit dem Beistand der
französischen Regierung wurde während der Versailler Friedenskonferenz
beschlossen, große Gebiete Weißrußlands und der Ukraine von Sowjetruß-
land loszureißen und Polen anzugliedern. Die polnischen Nationalisten
gaben sich jedoch damit nicht zufrieden. Sie träumten davon, ein „Groß-
polen" zu errichten und die Grenzen ihres Landes bis zum Schwarzen Meer
auszudehnen. Der Vatikan sagte ihnen dafür seine Unterstützung zu.
Im Frühjahr 1919 rüsteten die polnischen Nationalisten, unter denen sich
eine Reihe hoher katholischer Würdenträger hervortat, mit Hilfe der Alliier-
ten eine starke Invasionsarmee aus und begannen ohne Kriegserklärung
sowjetisches Gebiet zu besetzen. Sie nutzten dabei den Umstand aus, daß
die Kräfte der Roten Armee zu dieser Zeit durch die Abwehr der Inter-
ventionen in anderen Gebieten des Riesenreiches gebunden waren. Im
Juni 1920 begann die Rote Armee ihre Gegenoffensive und brachte inner-
halb weniger Wochen die Großmachtpläne der polnischen Nationalisten zum
256
Scheitern. Trotz seiner militärischen Niederlage erhielt Polen im Friedens-
vertrag von Riga durch die Unterstützung der Alliierten große Teile Weiß-
rußlands und der Ukraine zugesprochen.
Gerade Polen, das jahrhundertelang am eigenen Leib ausländische Unter-
drückung zu spüren bekommen hatte, bediente sich, als es endlich frei ge-
worden war, der undemokratischsten Methoden zur Befriedigung seiner
nationalistischen und religiösen Sentiments. Die polnischen Nationalisten
begannen mit Hilfe der katholischen Hierarchie die Bevölkerung der von
ihnen annektierten sowjetischen Gebiete zu terrorisieren, um sie zur Auf-
gabe ihres orthodoxen Glaubens und ihrer Verbundenheit mit Sowjetrußland
zu zwingen.
Natürlich war nicht allein Polen auf die Vernichtung des Kommunismus
aus. Auch mächtige, von den sowjetischen Grenzen weit entfernte Kräfte
im Westen hatten die Ausrottung der „Bolschewisten" mit Waffengewalt
beschlossen.
Die westlichen Siegermächte rüsteten mehrere militärische Expeditions-
korps aus, die den Weißgardisten helfen sollten, die Sowjetmacht zu zer-
schlagen. Die Polen aber stürzten sich am leidenschaftlichsten von allen
in diesen antisowjetischen Kreuzzug. Nicht zufällig residierte zu dieser Zeit
der große Feind des Kommunismus. Achille Ratti, der spätere Papst Pius XI..
als diplomatischer Vertreter des Vatikans in Warschau.
Während das militärische Abenteuer Polen trotz westlicher Hilfe teuer
zu stehen kam und die Rote Armee die polnischen Truppen unter Marschall
Pilsudski bis vor die Tore Warschaus verfolgte, bemühte sich der Papst ver-
geblich, die Sowjetregierung für seine Pläne zu gewinnen. Als dann die
Sowjetregierung 1925 dem Vertreter des Vatikans keine Genehmigung zur
Einreise in ihr Land erteilte, ließ der Vatikan alle Hemmungen fallen und
überschwemmte die Welt mit einer Propagandaflut über „sowjetische Grau-
samkeiten gegen die Religion". Diese Propaganda berief sich auf die Tat-
sache, daß eine Reihe katholischer Priester in der Sowjetunion verhaftet
und erschossen worden war, verschwieg aber, daß diese Geistlichen nicht
wegen ihrer religiösen Überzeugung, sondern allein deshalb verurteilt wor-
den waren, weil sie als Agenten der polnischen Regierung gearbeitet hatten,
die niemals aufhörte, Komplotte gegen ihren östlichen „atheistischen Nach-
barn" zu schmieden. Diese religiöse Hetze gab dem Haß auf die Sowjet-
union, der viele historische, nationale und ethnische Wurzeln hatte, in Polen
neue Nahrung.
Nachdem die Pläne zur Zerstörung Sowjetrußlands gescheitert waren,
begann das katholische Polen im eigenen Lande alle Kräfte auszurotten,
die verdächtig waren, gleichen oder ähnlichen Ideen wie Sowjetrußland
anzuhängen. Die Kirche und die herrschenden Schichten Polens verab-
17 M359
257
scheuten jeden demokratischen Gedanken. Die polnischen Kommunisten
wurden von der Regierung mit härtestem Terror verfolgt. Die katholische
Reaktion organisierte Pogrome gegen nationale und religiöse Minder-
heiten.
Im Jahre 1923 versammelte sich vor der griechischen Kathedrale in Leo-
pol eine große Menschenmenge, um gegen die Religionsverfolgungen zu
protestieren. Sie wurde von polnischen Truppen mit Gewehrschüssen und
Säbelhieben auseinandergetrieben. Sozialistische Abgeordnete im Sejm und
im Senat erhoben, von dieser Gewalttat erschüttert, lauten Protest. Dieser
Protest war ein Alarmsignal für die katholische Reaktion und für die katho-
lische Kirche. Sie fürchteten, daß ihre Pläne durch die Kommunisten zum
Scheitern gebracht würden. Daher suchten sie nach Mitteln und Wegen, eine
solche Entwicklung zu verhindern. Im Mai 1926 löste Pilsudski, vom Vatikan
und von der polnischen Hierarchie wärmstens unterstützt, durch einen
Staatsstreich das Parlament auf und machte sich zum Diktator Polens. Er
sperrte die Kommunisten ein und beseitigte alle noch vorhandenen Reste
demokratischer Freiheiten. Das katholische Polen war also eines der ersten
Länder Europas, in dem nach dem ersten Weltkrieg eine halbfaschistische
Diktatur errichtet wurde.
Von diesem Zeitpunkt an begannen die großen Plane der katholischen
polnischen Nationalisten und Reaktionäre und der katholischen Kirche rasch
Gestalt anzunehmen.
Wir erwähnten bereits, daß nach dem ersten Weltkrieg Rußland Gebiete
an Polen abtreten mußte. In diesen Gebieten lebten etwa 7 bis 8 Millionen
Weißrussen und Ukrainer, von denen fast die Hälfte der russisch -orthodoxen
Kirche angehörte. Außerdem lebten in den Minderheitengebieten etwa
1 Million katholischer Polen, 1 Million Juden, 4 Millionen Griechisch-
Unierte (die, obwohl sie griechische Riten anwenden, die Autorität des
Papstes anerkennen) und etwa 4 Millionen antipäpstliche orthodoxe Katho-
liken.
Vor und und nach der Annexion dieser Gebiete hatten die Polen den Groß-
mächten das feierliche Versprechen gegeben, die nationalen, sozialen, poli-
tischen und religiösen Rechte dieser Minderheiten zu respektieren. Aber die
katholische Reaktion trieb von Anfang an ein rücksichtsloses Doppelspiel,
das nur zu verstehen ist, wenn man ihren nationalen und religiösen Fanatis-
mus kennt. Sie hatte nie eine andere Absicht gehabt als die, den Ukrainern
ihre völkische Eigenständigkeit zu nehmen und ihre orthodoxe Kirche zu
zerstören. Sie raubte den Ukrainern mit brutaler Gewalt eine Freiheit nach
der anderen, unterdrückte ihre Schulen und ihre Sprache und versuchte, sie
zur „einzig wahren und göttlichen Religion" zu bekehren. Der Vatikan wies
die polnische Hierarchie und die polnische Regierung an, diese „Konversion"
258
weniger durch direkte Beeinflussung der Bauern als durch Verdrängung der
orthodoxen Geistlichen herbeizuführen. In kurzer Zeit wurden daraufhin mehr
als tausend orthodoxe Priester eingesperrt; allein in einem Gefängnis befan-
den sich unter 2000 politischen Gefangenen — überwiegend Demokraten
und Kommunisten — 200 Geistliche. Die Gefängniswärter hatten Befehl,
die Geistlichen besonders schlecht zu behandeln. Tausende Ukrainer wurden
exekutiert. „Ganze Ortschaften wurden durch Massaker ausgerottet."*
Die katholische Kirche war mit den Maßnahmen einverstanden. Einer
ihrer Bischöfe saß sogar in dem Gremium, das mit ihrer Durchführung
beauftragt war. Im Jahre 1930 befanden sich etwa 200000 Ukrainer im
Gefängnis. Die katholischen Reaktionäre wandten die furchtbarsten Folter -
methoden an, Foltermethoden, die denen der Nazis in nichts nachstanden.
Die zur Bestrafung der „ukrainischen Rebellen" ausgesandten militärischen
„ Straf expeditionen" wurden von katholischen Priestern begleitet. Die
polnischen Soldaten waren sehr fromm, gingen regelmäßig zur Messe und
trugen Heiligenbilder bei sich. Das hinderte sie jedoch nicht, unter den
Augen ihrer „Seelsorger" die entsetzlichsten Verbrechen, wie Folterungen,
Plünderungen, Brandschatzungen, Kirchenschändungen und Massenerschie-
ßungen, zu begehen. „Die meisten orthodoxen Kirchen wurden von pol-
nischen Soldaten geplündert und als Pferdeställe, ja sogar als Latrinen be-
nutzt." (Atrocities in the Ukraine, Seite 25, herausgegeben von Emil Revyuk,
1931 in den USA erschienen.)
Diese Tatsachen sind vielleicht vielen Lesern neu und mögen bei manchen
Zweifel wecken. Aber es gibt über sie zahlreiche unparteiische und
dokumentarische Veröffentlichungen sowie Berichte bekannter Zeitungen.
Ich denke vor allem an den Manchester Guardian, an die Chicago Daily
News, an die New York Herald Tribüne und an das von dem französischen
katholischen Schriftsteller Rene" Martel verfaßte Buch La France et la
Pologne (1931), aus dem wir bereits zitierten.
Diese Verfolgungen dauerten länger als fünfzehn Jahre. Sie ließen erst
nach, als die Aggressionsabsichten der Nazis Europa zu beunruhigen be-
gannen.
Durch die polnische offizielle Sprachregelung wurden die Ukrainer als
„Rebellen" bezeichnet, jedoch weniger, weil sie sich weigerten, ihre nationale
Eigenständigkeit aufzugeben, als vielmehr, weil sie ihrem orthodoxen Glau-
ben die Treue hielten. Die polnische Hierarchie und der Vatikan waren viel
mehr auf die Konversion der Ukrainer versessen als die Nationalisten auf die
Polonisierung.
* Les Atrocitds polonaises en Galicie Ukrainienne von V. Tennytski und J. Bouratch
(British Museum). Die Sclirift wurde als dokumentarisches Beweismaterial für die pol-
nischen Verfolgungsmaßnahmen 1919 Glemenceau überreicht.
259
Die polnischen Bischöfe leiteten die Religionsverfolgungen. In ihrem
Auftrag schufen polnische Laien und katholische Institutionen entsprechende
Organisationen und sammelten Gelder, um die Verfolgung bis in die ent-
legensten Dörfer zu tragen. Dutzende vatikanische Visitatoren reisten durch
Polen, um sich vom Fortschritt der Konversion zu überzeugen. Kirchliche
Inspekteure pendelten ständig zwischen Rom und Warschau und über-
mittelten ausführliche Berichte und Statistiken über den Fortgang der
Aktion. Der päpstliche Nuntius in Warschau, der eng mit der polnischen
Hierarchie verbunden war und mit ihr Hand in Hand arbeitete, hielt außer-
dem Kontakt mit französischen katholischen Generalen, namentlich mit
General Weygand, der von 1920 bis 1922 die polnische Armee für ihren
Kampf gegen die Sowjetunion reorganisierte. Wir werden später, in dem
Kapitel über Frankreich, auf diese Frage zurückkommen.
Während der Vatikan unablässig gegen das atheistische Rußland und den
Kommunismus hetzte und die Welt mit Schreckensberichten über angebliche
Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten der Kommunisten gegen christliche
Gläubige überschwemmte, während er überall Haß gegen ein Regime zu
wecken versuchte, das angeblich die Religion unterdrückte, spielten sich
gleichzeitig anderthalb Jahrzehnte lang unter seiner unmittelbaren An-
leitung in Polen die schlimmsten Religionsverfolgungen ab, die die neuere
Geschichte kennt. Für jeden unparteiischen Beobachter war die polnische
Außenpolitik in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ein ungewöhnlich
delikates Problem. Die polnischen Politiker hätten gut getan, weniger
delikat zu sein, sich von allen religiösen oder ideologischen Haßgefühlen
frei zu machen und eine Außenpolitik zu betreiben, die vor allem den Inter-
essen ihres Landes diente.
Als die Nazis durch den Aufbau ihrer ungeheuren Militärmacht alle
Zweifel darüber verdrängten, welche Ziele sie verfolgten, wäre es für Polen
höchste Zeit gewesen, sich mit der Sowjetunion zu verbünden. Die Sowjet-
union war das einzige Land, das den Polen im Falle eines Angriffs unmittel-
bar hätte Hilfe leisten können. Aber Polen hielt hartnäckig und wie mit
Blindheit geschlagen an seiner antisowjetischen Politik fest, schürte den
Haß gegen die Sowjetunion und suchte Annäherung an die Nazis.
In den Anfangsjahren des Nazismus (1936) war Polen eines der wenigen
Länder, die Frankreich aufforderten, gegen die militärische Besetzung des
Rheinlandes durch Hitler einzuschreiten. Das war eine verständliche
Reaktion, denn Polen hatte erst kurz zuvor seine staatliche Selbständigkeit
errungen und fürchtete, daß Deutschland von neuem Ansprüche auf
polnisches Territorium geltend machen würde. Aber schon wenige Monate
später bestieg es selbst Hitlers Wagen, wurde im Inneren immer mehr
faschistisch und trat in der internationalen Arena als ein ergebener
260
Verbündeter Nazideutschlands auf. Es half Hitler bei der Zerschlagung der
Tschechoslowakei und war eines der ersten Länder, das einen Anteil an der
gemeinsamen Beute verlangte.
Polen entwickelte sich zu einem Nazistaat im kleinen. Es beteiligte sich an
den Hitlerschen Raubzügen, rasselte gern mit dem Säbel, gebrauchte in
Hitlers Manier große Worte und wiederholte die Schlagworte der Nazis. Es
sprach von Lebensraum, den die Polen brauchten, vorerst in Europa, später
in Afrika; es wollte Kolonien haben und sie sich nehmen, falls man sie
ihm verweigerte. Da Hitler in derselben Zeit die gleichen Worte gebrauchte,
bedeutete die Forderung Polens nichts anderes, als daß es sich, an Hitlers
Rockschößen hängend, eigene Kolonien verschaffen wollte. Man ließ durch-
blicken, daß es in Rußland genug Lebensraum für die überzählige polnische
Bevölkerung und genug Rohstoffe für die polnische Industrie gebe.
Polen hatte faktisch — der polnische Außenminister bestätigte es später —
mit Nazideutschland ein Bündnis geschlossen (Oberst Beck, Januar 1940).
Hatte es das aus eigenem Antrieb getan? Innenpolitisch lagen, wie wir
bereits zeigten, ausreichende Berührungspunkte vor; außenpolitisch wurde
das Bündnis von den westlichen Demokratien und vor allem vom Vatikan
inspiriert, die alle in der Hoffnung lebten und danach strebten, Hitlers
Aggressivität gegen die Sowjetunion zu lenken.
Über die Ereignisse, die dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges voran-
gingen, vor allem über das Verhältnis zwischen dem Vatikan, Hitler und
Polen, wurde bereits gesprochen; ebenso über das Abkommen zwischen
Pius XII. und Hitler hinsichtlich des zeitweiligen Charakters der Besetzung
Polens, über den Plan, der sich dahinter verbarg, und über die Strategie
des Vatikans, deren Ziel die Vernichtung der Sowjetunion war. Da wir in
dem Kapitel über Frankreich noch einmal auf diese Frage stoßen werden,
wollen wir uns hier begnügen, einem Mann das Wort zu erteilen, der besser
als jeder andere wußte, welche Verantwortung der Vatikan für die polnische
Tragödie trug. Oberst Beck leitete lange Jahre hindurch die polnische
Außenpolitik und steuerte sie vor dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs in
das Kielwasser der Nazis. Nach dem Zusammenbruch Polens flüchtete er,
desillusioniert und krank, ins Ausland. Seine Worte enthüllten die Rolle,
die der Vatikan bei der Festlegung der polnischen Außenpolitik gespielt
hatte:
„Einer der Hauptverantwortlichen für die Tragödie meines Landes ist der Vatikan.
Zu spat erkannte ich, daß wir eine Außenpolitik betrieben hatten, die lediglich der ego-
istischen Zielsetzung der katholischen Kirche diente. Wir hätten nicht die Unterstützung
Hitlers, sondern die Freundschaft mit der Sowjetunion suchen sollen." (Auszug aus
einem Bericht des italienischen Botschafters in Bukarest im Februar 1940 an Mussolini.
Der Botschafter stellte ausdrücklich fest, daß er selbst mit Oberst Beck gesprochen habe.)
261
Kann es ein vernichtenderes Urteil über die Einmischung der katholischen
Kirche in das Leben einer modernen Nation geben? Aber die Politiker und
die Parteien, die nach der Besetzung Polens in London eine polnische Exil-
regierung bildeten, zogen keine Lehren aus der Vergangenheit. Sie ver-
hielten sich auf Grund ihrer nationalen, sozialen, politischen und religiösen
Herkunft zum Vatikan und zur Sowjetunion nicht anders als ihre Vor-
gänger. Von 1940 bis Kriegsende spannen sie in London zahllose Intri-
gen zwischen dem Vatikan und den Alliierten und ließen keine Gelegenheit
ungenutzt, der Sowjetunion entgegenzuwirken.
Kapitel xv Belgien und der Vatikan
Die Stärke der katholischen Kirche in Belgien - Religiöse Freiheit - Kirche und Er-
ziehungswesen - Feindschaft der Kirche gegen die progressiven Kräfte - Die katholische
Kirche schafft die Grundlagen für den belgischen Faschismus - Die katholisch-faschi-
stische Partei - Der katholische Rexistenführer - Der katholische Plan, Belgien in einen
Satellitenstaat Nazideutschlands zu verwandeln. Mittel, Wege und Männer - König
Leopolds Kapitulation - Die Rolle des päpstlichen Nuntius und des Primas von Belgien -
Die privilegierte Stellung der katholischen Kirche während der Nazibesetzung - Die
Bemühungen der katholischen Kirche, die Rolle, die sie bei der Kapitulation gespielt
hatte, zu verteidigen - Weigerung der Kirche, den Nazismus zu verurteilen - Ihr Loblied
auf das autoritäre Prinzip - Die antibolschewistische Legion — Erste Proteste der katho-
lischen Kirche gegen die Nazis. Gründe der Proteste - Schlußfolgerungen.
Ais Nazideutschland im Frühjahr 1940 die militärische Macht der west-
lichen Alliierten zerschlug, wurden die kleinen Länder zwischen Deutsch-
land und den Westmächten — Norwegen, Dänemark, die Niederlande und
Belgien — überrannt und besetzt.
Wir werden uns nicht mit den nordischen Ländern befassen, deren katho-
lischer Bevölkerungsteil zahlenmäßig sehr gering ist. Auch die Niederlande
kann man nicht als ein katholisches Land bezeichnen, obwohl etwa ein Drit-
tel der Bevölkerung katholisch ist; aber diese Minderheit übte damals keinen
großen Einfluß auf die Politik des Landes aus. Es mag hier genügen, fest-
zustellen, daß sich die katholische Bevölkerung, obwohl es auch unter ihr
einige pronazistische Elemente gab, im großen und ganzen ebenso verhielt
wie die Mehrheit des Volkes, während die katholische Hierarchie in den
Niederlanden eine Politik des Gehorsams betrieb und die Aktionen der Nazis
weder öffentlich verurteilte noch öffentlich billigte. Gelegentlich waren
Proteste zu vernehmen, wenn zum Beispiel gewisse Gesetze, wie das
Zwangsarbeitergesetz, die Moral und den Glauben der katholischen Arbeiter
gefährdeten oder die Prinzipien der Kirche verletzten oder wenn das Nazi-
regime katholische Organisationen auflöste, die Gelder für die katholischen
Schulen kürzte, kirchliche Gebäude beschlagnahmte, katholische Zeitungen
unterdrückte, öffentliche Sammlungen der Kirche verbot, die Gehälter der
Religionslehrer herabsetzte, ein Meldesystem für Arbeiter und Jugendliche
einführte und so weiter.
Aus ganzem Herzen arbeitete die katholische Hierarchie der Niederlande
mit den Nazis zusammen, wenn es um die Vernichtung der Sozialisten und
Kommunisten ging. So verbot zum Beispiel die Kirche am 27. Januar 1941
allen Katholiken, Mitglied der Kommunistischen Partei zu werden oder zu
bleiben. Ungehorsam gegen dieses Gebot wurde mit der Exkommunikation
geahndet.
263
Platzmangel erlaubt es nicht, hier die Rolle der katholischen Kirche in
den Niederlanden eingehender zu behandeln. Wir wenden uns Belgien zu,
dessen Kirche einen wesentlichen Anteil an den sozialen, politischen und
selbst den militärischen Ereignissen bis in die Zeit der Naziokkupation hatte.
Wenn wir die Rolle der belgischen Kirche untersuchen, wollen wir im Auge
behalten, daß Belgien, wie andere Länder, nur einen relativ kleinen Ab-
schnitt in dem großen Plan des Vatikans darstellte, überall, wo es möglich war,
totalitäre Regime ins Leben zu rufen. Wir stellten bereits fest, daß der
Vatikan in zwei Richtungen arbeitete. Einmal förderte er die Entstehung
totalitärer politischer Bewegungen in den betreffenden Ländern und machte
sich hierbei die wirtschaftlichen, politischen, sozialen und nationalen Be-
sonderheiten dieser Länder zunutze. Zum andern war der Vatikan hinsicht-
lich der kleineren Länder bestrebt, sie schrittweise auf ihre Einverleibung in
den nazistischen oder faschistischen Machtbereich vorzubereiten.
Es wird nützlich sein, kurz die Stellung der katholischen Kirche in Bel-
gien zu umreißen, bevor wir in unserer Schilderung fortfahren; denn nur
dann können wir uns den Einfluß erklären, den die katholische Kirche nicht
nur auf religiösem Gebiet, sondern auch auf allen sozialen und politischen
Gebieten ausübte.
In Belgien ist die gesamte Bevölkerung, zumindest nominell, katholisch.
Die katholische Kirche ist als religiöse, soziale und politische Institution die
einflußreichste Organisation im ganzen Lande. Folgende Zahlen zeigen
sehr plastisch das Verhältnis der einzelnen Glaubensrichtungen in Belgien.
Im Jahre 1937 hatte die katholische Kirche in Belgien 6474 Geistliche, die
protestantische 32; für die jüdische Religionsgemeinschaft waren 17 Rabbi-
ner tätig, und die anglikanische Kirche verfügte über 9 Geistliche. Belgien
beherbergt unter allen katholischen Ländern relativ die meisten Klöster.
1937 lebten 7000 Nonnen in Belgien.
Etwa 10 Prozent aller Missionspriester in der ganzen Welt sind belgischer
Herkunft. Belgien selbst hat 33 Missionsbischöfe. Ihre größte Aktivität in
der Missionsarbeit zeigt die belgisthe Kirche in Belgisch- Kongo. Dort
arbeiten 3000 Söhne und Töchter belgischer Familien als Priester oder
Pflegeschwestern. Jede große katholische Familie sieht ihren Stolz darin,
mindestens eines der Kinder auf den geistlichen Stand oder auf eine Tätig-
keit in einem religiösen Orden vorzubereiten.
Im Jahre 1933 gab es in Belgisch-Kongo 564 000 Katholiken, 1939 war
diese Zahl auf 2 139 000 angewachsen. Hinzu kamen etwa 1 Million Kate-
cheten. In demselben Jahr wurden mehr als 200 000 Personen getauft; und
das in einem Gebiet, in dem kaum 14 Millionen Menschen leben.
In Brüssel, Antwerpen und anderen Orten des Landes gab es sogenannte
Religiosenheime für Frauen und Männer, die von religiösen Orden geleitet
264
wurden und in die sich häufig prominente Personen der Finanzwelt, des
Wirtschaftslebens, der Politik und der Literatur zurückzogen.
Die Provinzgouverneure und die örtliche Hierarchie arbeiteten eng zu-
sammen. Bei offiziellen Anlässen erschien die katholische Hierarchie als
geistliches Gegenstück zu den Provinzgouverneuren, und diese wieder traten
als akkreditierte Sprecher der Kirche in allen nationalen Fragen auf.
Die belgische Verfassung garantierte die religiöse Freiheit. Niemand
durfte gezwungen werden, an religiösen Handlungen teilzunehmen. Jedes
Bekenntnis erfreute sich der vollen Freiheit. Der Staat enthielt sich jeder
Einmischung in kirchliche Angelegenheiten und kümmerte sich weder um
die Ernennung der geistlichen Würdenträger noch um die Berufung geist-
licher Vertreter an die Universitäten.
In den staatlichen und offiziellen Schulen entschieden die Eltern selbst,
ob ihre Kinder am Religionsunterricht teilnehmen sollten oder nicht. Die
Kirche und alle anderen Vereinigungen hatten das Recht, für die Kinder
ihrer Anhänger eigene Schulen einzurichten. Der Armee waren Armee-
geistliche zugeteilt.
Diese weitgehende religiöse Freiheit in einem überwiegend katholischen
Land war die Frucht eines Kompromisses zwischen den Katholiken und den
Liberalen. Die Katholiken fürchteten den Einfluß der säkularen staatlichen
Obrigkeit auf das Gewissen des einzelnen. Und die Liberalen hätten nur zu
gern den Einfluß der katholischen Kirche aus dem öffentlichen Leben ver-
drängt, um die Gewissensfreiheit der Nichtgläubigen zu gewährleisten.
Der Kampf zwischen den Liberalen und der katholischen Kirche tobte vor
dem Kompromiß heftiger als in anderen Ländern. Zu dem Kompromiß
wurde die Kirche gezwungen. Sie wußte sehr gut, daß die Freiheit, die sie
dafür vom Staat erhielt, sie für alle Verluste, die durch diesen Kompromiß
entstanden, entschädigen würde.
Mit Hilfe eines Netzes von erzieherischen, sozialen, karitativen und politi-
schen Institutionen war die Kirche in derLage,auf das Leben der Nation star-
ken Einfluß zu nehmen. Da die Verfassung Vereins -,Erziehungs- und Presse-
freiheit gewährte, wurden die Kanäle, durch die sie ihren Einfluß leitete, von
Jahr zu Jahr zahlreicher. Die gegenseitige Toleranz ermöglichte außerdem
enge diplomatische Beziehungen zwischen Belgien und dem Vatikan.
Seit Belgien seine Unabhängigkeit errungen hatte (1830), war das Er-
ziehungswesen das wichtigste Streitobjekt zwischen der Kirche und den
Anhängern der staatlichen Schulen gewesen. La Lutte Scolaire, wie man
diesen Kampf nannte, der Kampf um die Kontrolle über die Jugend, war
im wesentlichen auch im Mai 1940 noch ungelöst, obschon eine Einigung
über gewisse praktische Fragen erzielt worden war. Die Verfassung sagte, daß
die Erziehung frei sein und der Staat die Kosten der Schulunterhaltung
265
tragen sollte. Aber das Prinzip der Erziehungsfreiheit gestattete, daß auch
private Organisationen und Einzelpersonen Schulen gründeten. Die katho-
lische Kirche machte von diesem Recht ausgiebig Gebrauch. Da erhob sich
die Frage, ob der Staat auch für die finanzielle Unterhaltung dieser privaten
Schulen verantwortlich sei oder nicht. Die katholische Kirche erhob die an-
maßende Forderung, daß der Staat einen Teil der Unterhaltkosten ihrer
Schulen übernehme.
Zu einem schwierigen Problem entwickelte sich der Religionsunterricht
in den Schulen. Die Katholiken setzten in ihren eigenen Schulen durch, daß
die Kinder entsprechend den katholischen Lehren erzogen wurden. In den
Schulen, die den Vertretern der Öffentlichkeit unterstanden, erreichten die
Liberalen und später die Sozialisten, daß die Erziehung auf weltlicher
Grundlage erfolgte. Sie vertraten die Auffassung, der Religionsunterricht
dürfe nur außerhalb der Schulstunden und nur mit Zustimmung der Eltern
erteilt werden. Die Kirche bekämpfte diese Auffassung aufs schärfste und
forderte, daß der Unterricht in allen Schulen auf Staatskosten und nach
katholischen Grundsätzen erfolge und alle Kinder ohne Rücksicht auf die
Wünsche ihrer Eltern katholisch erzogen würden.
Trotz seiner Toleranz wurde der Staat häufig beschuldigt, antikatholisch,
ja sogar atheistisch eingestellt zu sein. Vor allem in den Gemeinden tobte
ein heftiger Kampf, denn sie waren für die Grundschulen verantwortlich.
Um zu zeigen, wie intolerant die Kirche selbst in einem Staat war, in dem
man, oberflächlich gesehen, eine Einigung zwischen Staat und Kirche er-
reicht hatte, sei hier ein anschauliches Beispiel angeführt. Der belgische
Staat hatte aus seiner liberalen und demokratischen Grundeinstellung heraus
beschlossen, in den Schulen, in denen die Mehrzahl der Schüler katholisch
war, katholischen Religionsunterricht zu erteilen. Als der Staat aber dann
eine Verordnung herausgab, daß in den Schulen, in denen die Katholiken
in der Minderheit waren, kein katholischer Religionsunterricht erteilt wer-
den sollte, protestierte die Kirche heftig und beschuldigte den Staat der
Intoleranz und der Kirchenfeindlichkeit.
Die berühmte Universität von Louvain unterstand der Kirche unmittel-
bar. Sie wurde vom Vatikan überwacht, ihr Rector magnificus wurde von
Rom berufen.
Wie in vielen anderen Ländern, so herrschte auch in Belgien ein scharfer
Antagonismus zwischen der Kirche und den progressiven Parteien, den Libe-
ralen und den Sozialisten. Die Kirche opponierte ständig gegen alles, was dar-
auf zielte, den Staat und das Leben der Nation dem kirchlichen Einfluß zu
entziehen, und begann in Belgien die gleiche Kampagne gegen den Säkular-
staat und den Liberalismus wie in Deutschland, Italien, Österreich, in der
Tschechoslowakei und in anderen Ländern. Während der ersten fünfzig
266
Jahre der belgischen Unabhängigkeit richtete sich ihr Kampf vor allem
gegen die Liberalen. Es ging dabei im wesentlichen um den Einfluß der
Kirche auf das Erziehungswesen und auf das politische Leben des Landes.
Am Ende des 19. Jahrhunderts entstand mit dem Anwachsen der Indu-
strie die Arbeiterbewegung. Im Jahre 1885 wurde die Arbeiterpartei ge-
gründet. Wenige Jahre später bildete sich innerhalb der katholischen Partei
ein christlich -demokratischer Flügel, der die Interessen der arbeitenden
Schichten vertreten und den Sozialisten den Wind aus den Segeln nehmen
sollte. Die sozialen Theorien dieses Flügels entstammten den Enzykliken,
die die Päpste über dieses Thema herausgegeben hatten. Von 1884 bis 1914
regierten die Katholiken auf Grund von Umständen, die hier nicht näher
untersucht zu werden brauchen, das Land allein.
Nach dem ersten Weltkrieg waren die Katholiken und die Sozialisten
ungefähr gleich stark. Die katholische Partei und der katholisch gelenkte
Flügel der Arbeiterbewegung traten zum Angriff auf die Sozialisten an. Der
Kampf entzündete sich vor allem an den sozialen Fragen.
Sehr zum Mißvergnügen der belgischen oberen Gesellschaftsschichten
gewannen trotz allem die Sozialisten ebenso wie in anderen Ländern weiter
an Boden. 1925 erschienen sogar die ersten zwei Kommunisten in der bel-
gischen Abgeordnetenkammer. Der Kampf gegen Sozialisten und Kommu-
nisten nahm die verschiedensten Formen an und wurde mit unterschied-
lichem Erfolg geführt. Ihn näher zu beschreiben, würde den Rahmen dieser
Arbeit sprengen. Hitlers Machtergreifung gab auch der belgischen Reaktion
neuen Auftrieb. Zwei Jahre später entstand in Belgien die erste faschistische
Bewegung. Sie bediente sich der Programme, Ideen und Schlagworte Hitlers
und Mussolinis, entsprechend den Erfordernissen des belgischen Lebens
modifiziert.
Wo waren die Quellen des belgischen Faschismus? Wer waren die Hinter-
männer dieser antidemokratischen Kraft? Die Gründer der Bewegung waren
fanatische Anhänger der katholischen Kirche und repräsentierten in ihren
Tätigkeitsbereichen die katholische Prominenz des Landes. So war zum Bei-
spiel der Führer der Gruppe zugleich der Direktor des bedeutendsten katho-
lischen Verlagsunternehmens. Die Bewegung war auf Gedeih und Verderb
mit der katholischen Kirche verbunden. Ihre Führer brüsteten sich außerdem
offen ihres Einflusses auf die katholischen Schichten der belgischen Bevöl-
kerung und ihres engen Bündnisses mit den reaktionären Herren der
Industrie und des Finanzkapitals.
Die belgische faschistische Partei wurde 1935 gegründet. Ihr Führer hieß
Leon Degrelle. Er war Direktor des katholischen Verlagsunternehmens Rex
(ursprünglich Christus Rex) und begann seine politische Karriere als Propa-
gandist der katholischen Partei. In dieser Stellung war seine Hauptaufgabe,
267
Belgien mit katholischen Publikationen, wie Die Kindesseele im Katho-
lizismus und Die Erscheinung der Heiligen Jungfrau zu Beauraing, zu
überschwemmen.
Die jungen Katholiken führten ihren Kampf nach Gründung der Partei
an zwei Fronten. Einmal wandten sie sich gegen die hochgestellten Finan-
ziers und Industriebarone in den Reihen der katholischen Partei und gegen
den ungerechtfertigt großen Einfluß dieser Gruppe innerhalb der Partei.
Zum andern versprachen sie feierlich, unnachsichtig gegen alles zu kämp-
fen, was nach Demokratie und Sozialismus roch und der katholischen Kirche
feindlich gesinnt war. Ihr Kampf richtete sich also in erster Linie gegen die
Sozialisten, gegen die Kommunisten und gegen den Säkularstaat und in
zweiter Linie gegen die einflußreiche Führungsgruppe des katholischen
Belgiens — gegen die Führer der katholischen Partei.
Ist die Ähnlichkeit dieser Situation mit der Lage, die in zahlreichen an-
deren Ländern geschaffen wurde, nicht frappierend? Entsprach nicht die
Bildung einer katholisch-faschistischen Partei in Belgien der allgemeinen
Politik der Kirche in jener Zeit? War nicht ein wesentlicher Bestandteil
dieser Politik die Ablösung der alten katholischen Parteien, ja selbst ihre
völlige Auflösung? Sollte nicht an ihre Stelle eine neue, skrupellosere
Gruppe treten?
Die Gründung der faschistischen Partei fiel in eine Zeit, in der die Sozia-
listen und namentlich die Kommunisten in Belgien an Stärke und Einfluß
erheblich gewannen. Das beunruhigte die Mittelschichten, die in den ande-
ren Ländern die Massenbasis für den Faschismus abgaben. Die Kirche ent-
schloß sich also zum richtigen Zeitpunkt, eine weitere faschistische Partei
in den Kampf zu werfen.
Auch von einem anderen Gesichtspunkt aus war dieser Schritt zeitlich
sehr klug gewählt. In den führenden Kreisen der Katholiken war es zu gro-
ßen Skandalaffären gekommen. Auch die Kirche war „in schmutzige Spe-
kulationen verwickelt", um „ihre Macht zu vergrößern und einige ihrer
Mitglieder zu bereichern* 4 . (Revue de Deux Mondes vom 15. Juni 1936)
Auf Grund dieser Tatsachen verfügte die katholische faschistische Partei
über alle Vorteile, die für einen erfolgreichen Start nötig waren. Der Fa-
schistenführer Degrelle ließ seine früheren Freunde von der alten katho-
lischen Partei im Dreck sitzen und sicherte auf diese Weise den Vormarsch
seiner eigenen Gruppe. Bei den Wahlen im Jahre 1956 erhielt die faschisti-
sche Partei, die sich inzwischen den Namen Rexisten zugelegt hatte, 21 Sitze
in der Abgeordnetenkammer. Das war ein guter Anfang. Die Kommunisten
erkämpften 9 Sitze gegenüber 2 Sitzen im Jahre 1925.
Die faschistische Partei war jedoch zu gewalttätig und zu unbeherrscht
und begann sich über die Weisungen des Vatikans hinsichtlich ihrer
268
Beziehungen zur alten katholischen Partei hinwegzusetzen. Degrelle war zu
impulsiv und unerfahren. Die Öffentlichkeit erhielt außerdem Kenntnis von
geheimen Abmachungen der Rexisten mit dem faschistischen Italien und
mit Nazideutschland. Aus all diesen Gründen verlor die Bewegung bald
merklich an Popularität. Die alte katholische Partei gab dem Papst zu ver-
stehen, daß sie einen zu großen Einfluß auf das Leben der Nation hätte, als
daß sie sich eine so hochmütige Behandlung durch die Rexisten gefallen
lassen dürfe. Sie verlangte vom Vatikan, die Rexisten in ihre Schranken
zurückzuweisen, und versicherte ihm gleichzeitig, daß sie bei entsprechendem
Verhalten aller Beteiligten in der Lage sei, den Sozialismus und Kommunis-
mus zur gegebenen Zeit zu „liquidieren".
Im Jahre 1937 kam es zu einem interessanten Test. Brüssel hatte be-
schlossen, Degrelle als Gegenkandidaten gegen den damaligen Premier-
minister van Zeeland, einen unabhängigen Katholiken, aufzustellen. De-
grelle genoß die Unterstützung seiner Partei und der katholischen flämischen
Nationalisten. Die katholische Kirche benutzte diese Gelegenheit, die Dok-
trin des Rexismus als „unvereinbar mit einem guten Katholizismus" zu ver-
werfen. Das Ergebnis war: Degrelle erhielt nur 60 000 Stimmen, van Zee-
land dagegen 275 000.
Die alte katholische Partei konnte so zwar durch ihre Bemühungen beim
Vatikan einen Erfolg buchen, aber der Rexismus überlebte die Niederlage.
Er bediente sich aller Schlagworte und Methoden des Faschismus. Seit der
Vatikan ihm aber die kalte Schulter gezeigt hatte, konnte er sich nicht
länger auf die katholische Bevölkerung stützen. Bei den Wahlen von 1939
erhielt er nur noch 4 Sitze im Parlament.
Vielleicht ist es angebracht, hier die Ergebnisse der Parlamentswahlen
von 1939, der letzten vor dem Krieg, anzuführen. Es wurden gewählt:
73 Abgeordnete der katholischen Partei, 17 flämische Nationalisten und
und 4 Rexisten, und von der antiklerikalen Seite 61 Sozialisten, 33 Liberale,
9 Radikale und 9 Kommunisten. Im Senat waren unter 150 Senatsmitglie-
dern nur 6 1 Katholiken.
Der Krieg brach aus, und die Intrigen, die zwischen den reaktionären
Kreisen Frankreichs, dem Vatikan und Hitler gesponnen wurden, griffen
nach Belgien über. Eine einflußreiche katholische Schicht in Belgien, die
sich im wesentlichen aus Industrieherren und Finanziers zusammensetzte,
versuchte zu bestimmten Abmachungen mit Hitler zu gelangen.
Der Vatikan war bei all diesen Plänen und Verhandlungen einer der
wichtigsten Drahtzieher. Das soll aber nicht heißen, daß er als einziger an
diesen Plänen interessiert war. Mächtige wirtschaftliche und finanzielle
Interessengruppen verschiedener Länder waren ebenso wie er am Werke.
Einzelheiten darüber werden wir im Kapitel Frankreich kennenlernen. An
269
dieser Stelle genügt es, festzustellen, daß ein französischer General bel-
gischer Herkunft, ein ergebener Katholik, die Verbindung zwischen den
französischen Verschwörern und der belgischen Gruppe hielt, die „mit Hit-
ler zu einem Übereinkommen gelangen wollte". Der General hieß Weygand.
Der päpstliche Vertreter in Belgien stand in enger Beziehung zu einfluß-
reichen Persönlichkeiten in der Umgebung des Königs. Er hatte, wohl-
gemerkt, auch mit den flämischen Nationalisten Kontakt aufgenommen, die
einen unabhängigen flämisch -katholischen Staat forderten und in Hitlers
geplanter Intervention eine von Gott gesandte Gelegenheit erblickten, ihre
Pläne zu verwirklichen. Die flämischen Katholiken wünschten die Trennung
von Belgien vor allem aus ethnischen und historischen Gründen, aber man
darf nicht übersehen, daß sie alle fanatische Katholiken waren und ihr innen-
politisches Ziel in der Schaffung eines autoritären Ständestaates nach faschi-
stischem Vorbild erblickten.
Nach Hitlers Einmarsch in Polen trat die strategische Gefährdung Bel-
giens durch Nazideutschland klar zutage. Trotzdem spannen die Verschwörer
ihre Intrigen weiter. Das führte unter anderem dazu, daß König Leopold es
so lange strikt ablehnte, sich mit französischen und britischen Experten über
bestimmte Sicherheitsmaßnahmen zu beraten, bis es zu spät war. König Leo-
pold schob dabei sogar die Bedenken seiner militärischen Ratgeber beiseite.
Die Ursachen für diese Verzögerungstaktik waren darin zu suchen, daß
die in die Verschwörung verwickelten belgischen Katholiken die vatika-
nischen Pläne hinsichtlich Polens, Belgiens und Frankreichs durchschaut
hatten. Sie wußten, um die Dinge klar beim Namen zu nennen, daß der
Vatikan Hitler die Unterstützung der katholischen Kirche als Gegenleistung
für den versprochenen Angriff auf den großen Feind im Osten zugesagt
hatte. Sie wußten ferner, daß Hitler zugesichert hatte, die „Rechte der
Kirche zu respektieren", wo immer seine Armeen „gezwungenermaßen"
operieren müßten, daß er zugesichert hatte, „alle Sozialisten und Kommu-
nisten in diesen Ländern zu zerschmettern" und, war das geschehen, sich
„gegen den Osten zu wenden".
König Leopold stand völlig unter dem Einfluß der Geistlichkeit. Da er
nicht über große politische Einsichten verfügte, mag dahingestellt bleiben,
ob er sich der Tragweite seines Handelns bewußt war. Außer ihm waren
der päpstliche Legat und der Primas der katholischen Kirche hauptverant-
wortlich für das nachlässige Verhalten gegenüber der heraufziehenden Gefahr.
Beide standen in Geheimverhandlungen mit gewissen führenden katho-
lischen Industrieherren und Politikern und hatten mit König Leopold mehr
als einmal sehr vertrauliche Unterredungen.
König Leopold und seine Umgebung waren ferner dem Druck der fa-
schistischen Regierung in Rom ausgesetzt, die von Hitler aufgefordert
270
worden war, den König zu einer ganz bestimmten Politik zu bewegen. Diese
Aufgabe übernahm ein Vertreter des Hauses Savoyen, genauer gesagt, die
Frau des italienischen Kronprinzen Umberto und Schwester König Leopolds.
Der Plan selbst wird im nächsten Kapitel eingehender behandelt werden.
Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß man Belgien einen Platz in dem
französisch-vatikanisch-deutschen Plan zugedacht hatte, dem die Clique
katholischer Industriebarone, der König und andere zugestimmt hatten.
Entsprechend diesem Plan hinderte der König, wie bereits erwähnt wurde,
die Alliierten, in Belgien Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Die nazi-
stischen Armeen konnten daher, als sie in Belgien eingefallen waren, geraden-
wegs zur Küste vorstoßen. König Leopold wurde von seinen katholischen
Ratgebern, vor allem von dem päpstlichen Legaten und dem belgischen Pri-
mas, aufgefordert, zu kapitulieren. Eine solche Entscheidung stand im
Widerspruch zu dem Willen der Regierung. Der Katholik Leopold schob
jedoch die Verfassung, der er seinen königlichen Eid geleistet hatte, beiseite
und vollzog selbst die Kapitulation der belgischen Armee. Später erklärte
er, er habe die Alliierten vorher davon verständigt. Die Alliierten erhielten
aber nie eine solche Warnung und hatten daher keine Möglichkeit, der durch
den plötzlichen Ausfall der belgischen Armee entstandenen Gefahr recht-
zeitig zu begegnen.
Dem Entschluß des Königs zur Kapitulation war eine Unterredung mit
dem päpstlichen Legaten vorausgegangen. Unmittelbar nach der Kapitula-
tion, noch bevor das Land von der Entscheidung erfuhr, hatte Kardinal van
Roey eine vertrauliche Besprechung mit dem König, die länger als andert-
halb Stunden dauerte. Was damals zwischen dem König und dem Kardinal
besprochen wurde, ist nicht bekannt. Man weiß lediglich, daß beide über
die Botschaft debattierten, durch die dem belgischen Volk, das in seiner
Mehrheit zu kämpfen bereit war, die Kapitulation bekannt und verständlich
gemacht werden sollte. Der König hatte nur unwillig der Kapitulation zu-
gestimmt, da er eigentlich in Übereinstimmung mit dem Kabinett handeln
wollte. Nach der Kapitulation lag ihm deshalb viel am Urteil der Bevölke-
rung. Der Kardinal übernahm es, die Handlungsweise des Königs vor den
Belgiern zu rechtfertigen. Er veröffentlichte auch den Text der Briefe, die
der König aus diesem Anlaß an Präsident Roosevelt und — an den Papst
gerichtet hatte. Belgien wurde ein besetztes Land, ein Satellit der nazisti-
schen Neuen Ordnung.
Die Besetzung Belgiens hatte, innenpolitisch gesehen, einen zwiespältigen
Charakter. Auf der einen Seite wurden die Liberalen, die Sozialisten, die
Kommunisten und alle demokratischen Institutionen, die der katholischen
Kirche und „zufällig" auch dem Naziregime feindlich gesinnt waren,
unterdrückt, aufgelöst oder auf andere Weise unschädlich gemacht. Auf der
271
anderen Seite erfreuten sich die Organisationen der katholischen Kirche einer
beispiellosen Freiheit, und die Kirche übte dank der Macht, die ihr von den
Nazis eingeräumt wurde, einen bislang ungekannten Einfluß im ganzen
Lande aus.
Alle politischen Parteien wurden aufgelöst, ausgenommen zwei: die
ultrakatholische faschistische Rexistenpartei und die ultrakatholische
flämische Nationalpartei (Vlaamsch National Verbond). Die sozialistischen
und kommunistischen Zeitungen wurden verboten, allein die katholischen
Zeitungen durften weiter erscheinen und genossen, abgesehen von der
militärischen Zensur, jede nur denkbare Freiheit.
Alle anderen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Grup-
pierungen und Organisationen wurden entweder unterdrückt oder von den
belgischen Faschisten und den Nazis „gleichgeschaltet". Nur katholische
Institutionen, Gesellschaften und Organisationen blieben unbehelligt. Die
katholische Geistlichkeit behielt ihren Einfluß und ihre Autorität. Der
Kardinal wurde die mächtigste politische Persönlichkeit des Landes.
Wir sahen bereits, daß Hitler den Katholizismus und den Vatikan haßte
und verachtete und daß er nur dann mit ihnen zu Tauschgeschäften bereit
war, wenn er sich davon wichtige Vorteile versprach. Wie läßt sich dann
erklären, daß er die katholische faschistische Partei und die katholische
Kirche in Belgien allmächtig machte?
Die katholische Kirche hatte kaum Nachteile durch die Besetzung. Die
katholischen höheren Beamten blieben in ihren Funktionen, und die gesamte
Skala der katholischen Organisationen und Institutionen religiöser, sozialer
und erzieherischer Art war nicht weniger, meistens sogar intensiver tätig als
in der Vergangenheit.
Zweifellos verfolgten die Deutschen lange Zeit hindurch hinsichtlich der
Kirche eine Politik großzügiger Kooperation. Darüber hatte man sich bereits
vor der Invasion geeinigt. Gottesdienste fanden regelmäßig statt, und die
katholischen Schulen unterstanden nicht wie die kommunalen Schulen einer
zentralen Überwachung. Die Anzahl der Schüler in den katholischen Schu-
len stieg daher an. Die katholischen Sozialorganisationen konnten, im
Gegensatz zu den sozialistischen oder anderen, ihre Arbeit ungestört fort-
setzen. Die katholische Partei und die katholischen Gewerkschaften hatten
allerdings, gemäß den Weisungen des Vatikans und auf Hitlers Befehl, ihre
„Tätigkeit eingestellt". Die nazistische Neue Ordnung erforderte eine neue
katholische Partei; der Rexismus entsprach diesen Forderungen, und das
Ständesystem ersetzte unter anderem die katholischen Gewerkschaften.
Alle anderen wichtigen, ihrem Wesen nach unpolitischen Organisationen
der katholischen Kirche, wie die katholische Jugendorganisation, die katho-
lischen Pfadfinder, die Bauerngilde und die Frauenorganisationen, blieben
272
nicht nur unbehelligt, sondern gediehen angesichts ihrer Protektion durch
Nazideutschland und durch die allmächtige hohe Geistlichkeit mehr denn je.
Während die Brüsseler Universität geschlossen wurde, arbeitete die vom
Vatikan kontrollierte Löwener Universität weiter. Alle belgischen Studenten
wurden aufgefordert, dort ihr Studium fortzusetzen.
In der höheren Geistlichkeit Belgiens kam es trotz der Besetzung des Lan-
des nicht zu wesentlichen Veränderungen. Die belgische Hierarchie enthielt
sich in all ihren offiziellen Dokumenten mit einer Hartnäckigkeit, die einer
besseren Sache wert gewesen wäre, jeglicher Verurteilung des Nazismus
und seiner belgischen Schüler. Die Bischöfe verurteilten nicht ein einziges
Mal offiziell die Kollaborateure, wenn sie auch den Gläubigen bei der
Kommunion das Tragen politischer Uniformen untersagten. Die Kirche
bestand auf ihren christlichen Prinzipien des sozialen und familiären Lebens.
Vor allem aber wiederholte sie die päpstlichen Verurteilungen des Sozialis-
mus und Kommunismus und wies auf die Gefahren hin, die der Kirche aus
diesen Lehren erwüchsen.
Die Handlungsweise des Königs stieß bei der Mehrheit des belgischen
Volkes zumindest auf große Skepsis. Diese Skepsis richtete sich aber zugleich
und in weit größerem Maße gegen die katholische Kirche. Der Kardinal und
seine Bischöfe geschlossen daher, die belgische Bevölkerung durch eine Pro-
pagandakampagne von der Weisheit und der Richtigkeit der königlichen
Handlungsweise zu überzeugen. Man hoffte dadurch die Loyalität zum
Thron auch für die Zukunft zu erhalten. Die Loyalität der Bevölkerung zum
König lag den belgischen Bischöfen ganz besonders am Herzen. Sie forderten
sie wiederholt in ihren Hirtenbriefen. In einem dieser mahnenden Briefe
hieß es zum Beispiel: „Enthalte Dich der unangebrachten und oftmals ver-
leumderischen Kritik gegenüber jenen, die auf Deine Ehrerbietung An-
spruch haben."
Der Kardinal und die Bischöfe äußerten sich niemals feindselig gegen
den Faschismus. Wenn sie das Regime kritisierten, so bezog sich ihre Kritik
lediglich auf Angelegenheiten, in denen „der totalitäre Staat die katholische
Kirche bedrohen" könnte. Und sie forderten von den Belgiern klar und ein-
deutig, sich dem Nazismus zu fügen: „Unter den gegenwärtigen Umständen
solltet Ihr die Autorität der Besatzungsmacht anerkennen und ihr gehorchen,
wie es uns das Völkerrecht gebietet" (erster gemeinsamer Hirtenbrief der
belgischen Bischöfe vom 7. Oktober 1940). Später, als sich das Kriegsglück
gegen die Nazis kehrte, und erst recht nach der Befreiung Belgiens, begann
sich die belgische Hierarchie ihrer angeblichen Proteste gegen die Nazis zu
rühmen.
Was aber hatte es mit diesen Protesten in Wirklichkeit auf sich? Es trifft
zu, daß die Bischöfe und der Kardinal nach zwei oder drei Jahren Besetzung
18 M 359
273
einigemal gegen Maßnahmen der Nazis Protest erhoben. Was waren aber
die Anlässe zu diesen Protesten? Waren es die Unmenschlichkeiten der
Nazis, war es das Blutbad, in das sie die Welt stürzten? Nein, nicht im
geringsten! Die Kardinäle und Bischöfe protestierten, weil die Nazis die
belgischen Bergarbeiter zwangen, auch sonntags zu arbeiten, und sie da-
durch am Kirchgang hinderten. Kardinal van Roey bezeichnete in einem
Schreiben an den Nazimilitärbefehlshaber von Falkenhausen vom 1 . Mai 1 942
diese Maßnahme als im Widerspruch zum Artikel 46 der Haager Konven-
tion stehend. Die Konvention verpflichtete die Besatzungsmacht, „die reli-
giöse Überzeugung und Praxis" des besetzten Landes zu respektieren.
Falkenhausen schloß seine Antwort an van Roey mit dem bezeichnenden
Satz: „Schließlich drängt es mich, Eurer Eminenz von ganzem Herzen für
die Sorge zu danken, die Sie in so selbstloser Weise der Sache, die ich ver-
trete, entgegengebracht haben."
Andere Beschwerden betrafen die Entfernung von Kirchenglocken durch
die Nazis, das Verbot von Kollekten bei Begräbnissen und ähnliche Fragen.
Unterdessen organisierten die faschistisch-katholischen Gruppen eine
wilde antisowjetische Propaganda und stellten Legionen zum Kampf an der
Ostfront auf. Fast alle Freiwilligen dieser Legionen waren eifrige Katho-
liken. Die berüchtigste unter ihnen war die flämische antibolschewistische
Legion, die der SS-Division Flandern zugeteilt war. Degrelle ging selbst
an die Ostfront.
Die rexistische Partei stieß auf immer größere Feindschaft in der Be-
völkerung und schrumpfte trotz stärkster Förderung durch die Nazis zu einer
bedeutungslosen Gruppe zusammen. Wie unpopulär die Rexisten geworden
waren, geht aus einem Zwischenfall hervor, der sich mit dem Rexisten-
führer Degrelle ereignete. Degrelle hatte in Bouillon einen Zusammenstoß
mit dem Ortsgeistlichen und sperrte ihn darauf im Keller seines Hauses ein.
Deutsche Soldaten befreiten den Pfarrer aus der Haft. Der Bischof von
Namur exkommunizierte Degrelle wegen dieses Vergehens an einem Geist-
lichen. Degrelle wurde wieder an die Ostfront geschickt. Die Exkommuni-
kation des Führers einer katholischen Partei wurde vom Vatikan nicht ge-
billigt. Degrelle erhielt Absolution und die Erlaubnis, in den Schoß der
Kirche zurückzukehren. Eiri deutscher Bischof regelte dies, wahrend Degrelle
sich an der Ostfront befand. Der Bischof von Namur, der die Exkommuni-
kation in Übereinstimmung mit dem kanonischen Recht ausgesprochen hatte,
wurde im Dezember 1943 gezwungen, die Aufhebung der Exkommunikation
anzuerkennen. Das kanonische Recht besagt, daß jeder katholische Laie, der
Hand an einen Priester legt, sich selbst (ipso facto) exkommuniziert.
Die niedere katholische Geistlichkeit hielt sich auch in Belgien nicht allzu
sklavisch an die Weisungen ihrer Hierarchie und rebellierte ziemlich häufig.
274
Überdies gab es zahlreiche gläubige Katholiken, unter ihnen sogar Ange-
hörige der niederen Geistlichkeit, die aktiv in der Widerstandsbewegung
mitarbeiteten und tapfer gegen die Nazis kämpften.
Nach der Befreiung Belgiens durch die Alliierten behaupteten der Kardinal
und seine Bischöfe, sie hätten gegen die Nazis gekämpft. Wir wissen aber,
was es mit ihren Protesten in Wirklichkeit auf sich hatte. Bei all seinen
Versuchen, die Bevölkerung von seinem angeblichen Widerstand gegen die
Nazis zu überzeugen, konnte der Kardinal doch nicht die wahren Ursachen
seiner Proteste verheimlichen. Er erklärte, um seine angebliche Freude über
die endgültige Niederlage der Nazis zu begründen: „Wenn der Nazismus in
Belgien gesiegt hätte, wäre es zur völligen Erwürgung der katholischen
Religion gekommen." Er verschwieg dabei geflissentlich, daß er und die
Kirche aus ganzem Herzen mit den Nazis zusammengearbeitet und dafür
von ihnen weitgehende Freiheit erhalten hatten. Der Kardinal gab dies bei
einer anderen Gelegenheit selbst zu, als er erklärte: „Während der Okku-
pation ist das religiöse Gefühl gewachsen, und die kulturellen, philanthro-
pischen und sozialen Organisationen der Kirche blühten wie nie zuvor."
Trotzdem hatten der Kardinal und seine Bischöfe die Stirn, zu behaupten,
sie hätten die Nazis „Tag für Tag um unserer Prinzipien willen bekämpft".
Um welche Prinzipien es sich dabei handelte, wurde nicht näher er-
läutert oder vielleicht allzu verschleiert ausgedrückt. Welche Prinzipien
meinte denn der Kardinal, wenn er laut Catholic Herald im Dezember 1 944
zu einem Reuterkorrespondenten sagte: „Wir hatten Anlaß, die Deutschen
zu bekämpfen und zu verurteilen, denn sie entwendeten aus den Kirchen
neben gesegneten und geheiligten Gegenständen mehr als 32000 Tonnen
bronzener Kirchenglocken, um sie als Kriegsmaterial zu verwenden."
Man sagt nicht zuviel, wenn man feststellt, daß diese Äußerung des
Kardinals van Roey der einzige ernsthafte und ehrliche Protest der katho-
lischen Kirche Belgiens gegen die Nazis war. Keine noch so umfangreiche
Erklärung über die Beziehungen zwischen dem Vatikan und Belgien kann
jemals die katholische Kirche von ihrer Schuld an den tragischen Ereignissen
in Belgien rein waschen. Folgende Tatsachen sprechen für sich: Die katho-
lische Kirche war bereits vor der nazistischen Invasion in Belgien eifrig am
Werke, dem Nazismus durch die Gründung einer faschistischen Partei
innerhalb des Landes den Weg zu ebnen; sie setzte während der Feind-
seligkeiten alles daran, Belgien zu einer baldigen Kapitulation zu bewegen ;
sie verurteilte während der Okkupation nicht ein einziges Mal den Nazismus
als solchen, sondern arbeitete mit ihm zusammen; schließlich war der
Vatikan selbst unablässig bemüht, Belgien seine Rolle in dem großen Plan
spielen zu lassen, der in Rom mit dem Ziel ausgeheckt worden war, den
Faschismus über die ganze Erde zu verbreiten.
275
kapitel xvi Frankreich und der Vatikan
Die katholische Kirche und die Napoleonische Diktatur - Die katholische Kirche
und die Dritte Republik - Erster katholischer Kreuzzug gegen die „Roten" - Schwin-
dende Macht der katholischen Kirche - Haß der Katholiken auf die Republik - Ge-
spannte Beziehungen zwischen dem Vatikan und dem republikanischen Frankreich -
Zwischen den beiden Weltkriegen - Wachsender Einfluß der katholischen Kirche -
Organisationen der katholischen Kirche - Eingriffe des Vatikans in die französische
Innen- und Außenpolitik - Politischer Druck des Vatikans auf die französische Regie-
rung mit Hilfe Elsaß-Lothringens - Der Alptraum des Vatikans: ein „rotes" Frankreich -
Bündnis des Vatikans mit den reaktionären Elementen gegen eine Ausbreitung des Kom-
munismus - Die katholische Reaktion. Katholische faschistische Parteien - Die katho-
lische Reaktion wird politisch aktiv - Bündnis der katholischen Reaktion mit den anderen
reaktionären Schichten der französischen Gesellschaft - Potain und die Offizierskaste -
Der katholische Plan, in Frankreich einen katholischen Ständestaat zu errichten - Petain,
Laval, der Vatikan, General Franco - Komplikationen mit Mussolini und Hitler - Pitain:
„Sie werden mich in der zweiten Maihälfte noch brauchen." Pitain kommt an die Macht -
Freude im Vatikan über die Kapitulation Frankreichs - Das Pitainregime, ein Stände-
staat auf der Grundlage der Soziallehren der katholischen Kirche - Das Ständesystem.
Die Arbeitsgesetzgebung nach italienischem Vorbild - Die Familie - Einheitliche katho-
lisch-faschistische Jugendorganisationen - Das Erziehungswesen - Privilegien für die
katholische Kirche — Die katholische Kirche begrüßt das neue Regime und arbeitet mit
den Nazis zusammen — Unterschiedliches Verhalten der höheren und der niederen Geist-
lichkeit zu Potain und den Nazis — Die katholische -Kirche drängt die Franzosen zur
Kollaboration - Die Verantwortung des Vatikans — Der große Plan eines katholisch"
romanischen Staatenblocks — Schlußfolgerung.
D ie Geschichte der diplomatischen, politischen und sozialen Beziehungen
zwischen Frankreich und dem Vatikan ist sehr aufschlußreich/Jeder Leser,
der sich mit dem Einfluß des Vatikans in unserer Zeit beschäftigt, sollte an
ihr nicht vorübergehen. Nur in wenigen Ländern war die Kirche so mächtig
und zugleich so schwach; nur in wenigen Ländern mußte sie zu solch
raffinierten und skrupellosen Mitteln greifen, um ihre Autorität zu wahren,
und trotzdem erleben, daß ihr Einfluß unter der Bevölkerung des Landes von
Jahr zu Jahr zurückging.
Die Machenschaften des Vatikans in Frankreich erreichten ihren Höhe-
punkt in dem Jahrzehnt, das der Niederlage Frankreichs im zweiten Welt-
krieg vorausging, und in den anschließenden Jahren der Besetzung
des Landes durch Hitlerdeutschland. Bevor wir aber die bedeutsame Rolle
untersuchen, die der Vatikan beim Niedergang der Dritten Republik
und bei der Errichtung eines halbfaschistischen autoritären Staatswesens
spielte, müssen wir uns, wenn auch nur kurz, mit dem geschichtlichen
Hintergrund der Beziehungen zwischen Frankreich und dem Vatikan
276
befassen, damit wir die Ereignisse, die uns später beschäftigen werden, im
richtigen Licht zu sehen vermögen.
Die katholische Kirche übte jahrhundertelang einen starken Einfluß auf
das politische und soziale Leben Frankreichs aus. Sie erfreute sich bis zur
Französischen Revolution einer privilegierten Stellung. Seit dem frühen
Mittelalter stand sie in einem engen Bündnis mit der Monarchie. Als
Gegenleistung gewährte die Krone ihr Vorrechte aller Art. Die Geistlichkeit
gehörte zu dem ersten der drei führenden Stände des Reiches. Riesigen
Landbesitz und andere ungeheure Reichtümer nannte die Kirche ihr eigen.
Das Erziehungswesen lag völlig in ihren Händen. Aber diese Herrlichkeit
endete mit dem Ausbruch der Französischen Revolution. Die neuen Mächte
versetzten der Kirche schwere Schläge. Kirche und Staat wurden getrennt,
die religiösen Orden unterdrückt, die Privilegien der Geistlichkeit aufge-
hoben, die kirchlichen Ländereien nationalisiert. Die Kontrolle über das
Erziehungswesen ging in die Hände des Staates über.
Die katholische Kirche war ein erbitterter Feind der Revolution. Sie hatte
nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa mit aller Macht gegen die
revolutionären Lehren gekämpft. Als Napoleon seine Diktatur zu errichten
begann, besserten sich die Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Obwohl
es im Laufe der Jahre zu schweren Auseinandersetzungen zwischen dem
Kaiser und dem Papst kam, normalisierten sich im allgemeinen die Be-
ziehungen wieder. Napoleon schloß sogar, von sozialen und politischen
Überlegungen ausgehend, ein Konkordat mit der Kurie, ähnlich wie es
später zwei andere Diktatoren, Hitler und Mussolini, taten. Napoleons
Konkordat blieb bis 1905 in Kraft.
Mit der Errichtung der Dritten Republik im September 1870 ging die in
den Tagen Napoleons begonnene Zusammenarbeit zwischen Staat und
Kirche ihrem Ende zu. Die Republik war entschlossen, die Privilegien der
Kirche aufzuheben und ihren Einfluß aus dem sozialen, politischen und
wirtschaftlichen Leben der Nation zu verdrängen. Die Kirche bekämpfte die
Dritte Republik mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln. Sie forderte alle
Katholiken und alle interessierten Schichten der Gesellschaft auf, die Repu-
blik in jeder nur möglichen Weise zu boykottieren und zu unterminieren.
Der Vatikan wollte „sich der Dritten Republik entledigen".
Wir wissen bereits, weshalb die katholische Kirche alle diktatorischen
Staatsformen begrüßte und unterstützte und allen Formen einer Volks -
regierung den schärfsten Kampf ansagte. Das Aufkommen der Arbeiter-
bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veranlaßte sie zu dieser
Haltung. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Erschreckend und erschütternd war in dieser Periode die Reaktion der
Kirche auf die Ausrufung der Pariser Kommune, auf dieses Ereignis, das so
277
eng mit dem Geschehen unserer Tage verknüpft ist. Die Pariser Kommune
von 1871 war ein Keim, ein Vorbote der Sowjetmacht des 20. Jahrhunderts.
Beide forderten die katholische Kirche und alle anderen reaktionären Schich-
ten der Gesellschaft in die Schranken.
Die Pariser Kommune gab der Welt einen Vorgeschmack, wie sich die
katholische Kirche verhalten würde, falls sich ein ähnliches Geschehen
wiederholen sollte. Die Kirche unternahm alles, was in ihrer Macht stand,
um die Kommune zu zerschlagen. Die französische Geistlichkeit und alle
Katholiken wurden aufgerufen, sie zu vernichten. Der Vatikan schleuderte
Bannflüche gegen den Geist und die Lehren der Kommune und verfolgte
ihre Führer zeit ihres Lebens und über ihren Tod hinaus. Der Vatikan nahm
außerdem die Gelegenheit wahr, einen moralischen Kreuzzug gegen die
Ideen einzuleiten, von denen die Pariser Kommune beseelt war. Dabei
ging es ihm vor allem darum, den Mittelschichten und allen reaktionären
Schichten der Gesellschaft Angst und Schrecken vor den Communards ein-
zuflößen.
Nach der blutigen Niederschlagung der Kommune rühmten sich die
Katholiken ihrer überwältigenden Mehrheit in der Kammer (1877). Aber
seit dieser Zeit vermochten sie nicht einen einzigen Staatsmann und nicht
eine einzige parlamentarische Gruppe hervorzubringen, die politisch von
Bedeutung gewesen wären.
Trotz aller Anstrengungen hielt der Rückgang des religiösen Einflusses
der Kirche an. Man sagte von Frankreich bereits, es sei das religionslose
Land Europas geworden. Gleichzeitig wurde die sinkende politische Macht
der Kirche offenbar. In den wenigen Jahren von 1877 bis 1880 schmolz die
Zahl der katholischen Kammerdeputierten von 500 auf 80 zusammen.
Seit 1880 wurde die Tätigkeit der religiösen Orden in Frankreich durch
zahlreiche Bestimmungen erheblich eingeschränkt. Eine der ersten Maß-
nahmen war die erneute Auflösung der französischen Jesuitenorganisation.
Im Jahre 1882 wurde die Grundschulausbildung säkularisiert; 1884 wurde
obligatorisch die Zivilehe eingeführt; 1886 wurden die Mitglieder religiöser
Orden von allen Lehrämtern an staatlichen Schulen ausgeschlossen.
Auf jede dieser Maßnahmen beschworen die Kirche und der Vatikan den
Zorn Gottes herab. Sie riefen alle Katholiken auf, ihnen bei der Zerstörung
der Republik zu helfen, die es gewagt hatte, die kostenlose Schulbildung
einzuführen, auf der Zivilehe zu bestehen und die Lehrtätigkeit an den
staatlichen Schulen den staatlich geprüften Lehrkräften vorzubehalten.
Beinahe jede Woche wurden neue Bannflüche durch den Vatikan, die
Kardinäle und die Geistlichkeit verkündet. Man scheute keine Mittel, die
Gläubigen gegen die Regierung und gegen alle republikanischen Institu-
tionen zu hetzen, um den Zusammenbruch der Republik herbeizuführen. Der
278
Vatikan lag der französischen Bevölkerung unablässig mit der Forderung
in den Ohren, die von ihr gewählte Regierung zu beseitigen, wenn sie ihr
Seelenheil retten wolle. Zwanzig Jahre lang weigerte sich der Vatikan hart-
näckig, die Existenz des republikanischen Systems in Frankreich offiziell
zur Kenntnis zu nehmen.
In jener Zeit bekannte sich jeder Franzose, der Wert darauf legte, als
guter Katholik zu gelten, zu einer der von der Kirche geförderten Bewe-
gungen, seien es die Monarchisten, die Legitimisten, die Orleanisten, die
Bonapartistcn oder selbst die Solutionisten (darunter verstand man all jene,
die jedes andere Regime dem republikanischen vorzogen). Im Jahre 1885 ver-
einigte die Union Conservative diese zersplitterten Kräfte und hielt mit einer
starken Streitmacht von 200 Abgeordneten Einzug in das Parlament. Die
Radikalen hatten 180, die Opportunisten ebenfalls 200 Sitze. Die Union
Conservative weigerte sich, mit der Republik selbst den kleinsten Kom-
promiß zu schließen, und scheute sich nicht, sogar mit den Oopportunisten
und ähnlichen Gruppen zusammenzuarbeiten, um die Radikalen bekämpfen
zu können.
Als der Vatikan schließlich nach zwanzigjährigem fruchtlosem Kampf
einsehen mußte, daß sich seine Bemühungen und Hoffnungen auf eine Zer-
störung der Republik nicht erfüllten und die Republik alle Aussicht hatte,
weiterzubestehen, wechselte er plötzlich seine Taktik und zog es vor, anzu-
erkennen, daß Frankreich eine Republik war. Diese radikale Wendung
war nicht die letzte ihrer Art in unserem Jahrhundert. Die Päpste mußten
solche Entscheidungen immer dann fällen, wenn die katholische Partei
des jeweiligen Landes die ihr vom Vatikan zugedachte Aufgabe nicht
erfüllte.
Nachdem sich der Vatikan für diesen neuen Kurs entschieden hatte,
wandte er alle für seine Politik charakteristischen Kniffe an, um das Schiff
auf den neuen Kurs zu bringen.
Eines Tages im Jahre 1890 rief Leo XIII. den Kardinal Lavigerie zu sich
und eröffnete ihm seinen Entschluß, die Politik der „Zerschlagung der alten
Parteifassade** zu beginnen - eine Politik, die Pius XI. fünfunddreißig Jahre
später in anderen Ländern Wiederaufleben ließ. Kurze Zeit später rief der
Kardinal anläßlich eines Trinkspruchs „mit dem sicheren Gefühl, daß keine
Stimme von Autorität seine Haltung mißbilligen werde'*, die französischen
Katholiken auf, sich um die republikanische Verfassung zu scharen, und
befahl als Zeichen seines guten Willens dem Orchester, die Marseillaise zu
spielen.
Der „neue Geist** brachte der Kirche auf dem Gebiet der Legislative und
der Exekutive einige Früchte, aber die Einheit der katholischen Reihen, die
zur Erreichung weiterer Erfolge unumgänglich war, kam nicht zustande;
279
der engstirnige Fanatismus der Katholiken verhinderte sie. Als ein weit-
sichtiger Katholik, Jacques Piou, im Jahre 1902 die Action Liberale schuf,
war es zu spät; die Trennung zwischen Kirche und Staat war bereits vollzogen.
Im ersten Weltkrieg zeigte die Gründung der Union Sacrie des Herrn
Poincare, wie ein wirklich dauerhafter „neuer Geist" beschaffen sein mußte.
Nach dem Krieg entdeckten einige katholische Parlamentarier ihr „soziales
Gewissen'*. Sie entschlossen sich, dem Katholizismus einen neuen, weniger
reaktionären Mantel zu geben, und suchten Anschluß bei der Linken. Aber
die Kirche erhob wieder Einspruch, der Plan wurde nicht verwirklicht. Auch
eine andere Konzeption war gescheitert, die nach deutschem Vorbild eine
Koalition mit den Sozialisten vorsah. Cornilleau hatte diesen Plan unter-
stützt und eine Bewegung unter der Losung Pourquoi pas? ins Leben ge-
rufen. Aber die französischen Katholiken weigerten sich hartnäckig, ein
Bündnis mit den Sozialisten einzugehen, und gaben diese Haltung bis zum
Zusammenbruch Frankreichs im Frühjahr 1940 nicht auf. Viele von ihnen
organisierten sich aus Verzweiflung, daß ihre Bemühungen, auf demo-
kratischem Wege ans Ziel zu gelangen, keinen Erfolg hatten, in halb-
faschistischen und faschistischen Gruppen, um die Republik zu zerstören und
auf diese Weise die Herrschaft der Kirche wiederaufzurichten.
Die französische Republik verhielt sich im Unterschied zu anderen Län-
dern mit katholischen Regierungen oder katholischen Führern ihren
Gegnern und vor allem der Kirche gegenüber außerordentlich tolerant. Sie
blieb tolerant trotz des Hasses, mit dem die Kirche sie fortwährend verfolgte.
Ihre Duldsamkeit ging so weit, daß sie mehr als einmal beschlossene Gesetze,
die der Kirche Nachteile brachten, nicht durchführte und nicht einschritt,
wenn die Kirche sich mit ihrer Propaganda in ökonomische, soziale und
politische Fragen des Landes einmischte.
An dieser Toleranz des Staates liegt es auch, daß die religiösen Orden,
trotz der Gesetze aus den achtziger Jahren, zu Beginn des Jahrhunderts noch
ungewöhnlich starken Einfluß hatten. Nach wie vor wurden mehr als die
Hälfte aller Schüler der Mittelschulen von Priestern und Ordensbrüdern
unterrichtet. Einige dieser Orden setzten ihre politische Tätigkeit fort, und
in den Tagen der Dreyfusaffäre mußten staatliche Stellen gegen den von
diesen Orden geschürten Antisemitismus einschreiten.
Die französische Republik begab sich durch ihre demokratische und
tolerante Haltung zur Kirche der Möglichkeit, schärfere Maßnahmen gegen
die restaurativen Kräfte unter den Katholiken zu ergreifen. Man hätte zu
diesem Zweck das Vereinigungsrecht beschneiden müssen, aber das wäre zu
Lasten der Gewerkschaften gegangen. Die Lösung dieser Schwierigkeit fand
man im Vereinigungsgesetz von 1901, das die Ausübung des Vereinigungs-
rechtes davon abhängig machte, daß die Gründung oder Auflösung einer
280
Vereinigung durch einen besonderen parlamentarischen Akt gebilligt wer-
den mußte. Die Kirche sah in dem Vereinigungsgesetz eine schwerwiegende
Beschränkung ihrer Rechte. Das Parlament genehmigte fünf Ordens-
gemeinschaften. Viele Ordensbrüder verließen das Land, unter ihnen die
Benediktiner, die Karmeliter und vor allem die Jesuiten, die trotz des
Gesetzes von 1880 wieder in Frankreich eingesickert waren.
Das Gesetz von 1901 verbot jedem Angehörigen eines vom Parlament
nicht zugelassenen Ordens, in Frankreich eine Lehrtätigkeit auszuüben. Im
Jahre 1902 schloß ein antiklerikales Kabinett mehr als 14000 konfessionelle
Schulen. Diese Zahl zeigt, wie groß die Toleranz der „atheistischen Repu-
blik" bis dahin gewesen war. Als sich dann die feindselige Haltung der
Kirche gegen den Staat verstärkte, verbot der Staat im Jahre 1904 allgemein
der Geistlichkeit, Schulen zu unterhalten.
Der Kampf zwischen der Republik und dem Vatikan nahm an Heftigkeit
zu und blieb, wie in anderen Ländern, nicht auf das Gebiet der Religion
beschränkt. Gerade durch seine Ausweitung auf das soziale und politische
Gebiet zeigte sich seine wahre Natur. Im Juli 1904 wurden die diplomati-
schen Beziehungen zwischen Frankreich und dem Vatikan abgebrochen. Das
Separationsgesetz von 1905 (Trennung von Kirche und Staat) trieb die Aus-
einandersetzung auf die Spitze. Das Gesetz garantierte die Freiheit des Ge-
wissens und die freie Ausübung des Gottesdienstes, bevorzugte keine be-
stimmte Religion und untersagte künftig finanzielle Zuwendungen des
Staates an die Kirche. Damit war das Konkordat von 1801 außer Kraft gesetzt.
Der Vatikan schleuderte abermals einen Bannfluch nach dem anderen
gegen die Republik, die es gewagt hatte, die Vorherrschaft der katholischen
Kirche anzuzweifeln und alle anderen religiösen Bekenntnisse mit ihr auf
eine Stufe zu stellen. Die Republik ließ sich aber dadurch nicht einschüch-
tern. Nachdem sie dem Vatikan das Religionsmonopol verweigert hatte,
ordnete sie an, die Gebäude aller religiösen Körperschaften, gleich welcher
Konfession, den Associations Cultuelles zu unterstellen. Darunter verstand
man Vereinigungen, die sich mit öffentlicher Wohltätigkeit befaßten und
die sich selbst finanzieren mußten.
Der Vatikan befahl unter Berufung auf besondere Rechtsansprüche der
katholischen Kirche allen französischen Katholiken, der Republik den Gehor-
sam zu verweigern. Er mischte sich dadurch von neuem in das innere Leben
der Nation ein. Der Papst verbot den französischen Gläubigen bei Strafe der
ewigen Verdammnis in der kommenden Welt, sich an Vereinigungen dieser
Art zu beteiligen. Erst 1907 gelangte man in dieser Frage zu einem Kom-
promiß. In einem Gesetz wurde festgelegt, daß die kirchlichen Gebäude,
falls man sich weiter weigerte, solche Associations Cultuelles zu bilden, in
das Eigentum des Staates oder der Gemeinde übergehen sollten. Das
281
bedeutete, daß die Geistlichkeit und die Kongregationen weiter über diese
Gebäude verfügen konnten.
Im ersten Weltkrieg und unmittelbar danach besserten sich auf Grund
zahlreicher Faktoren die Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Zwei die-
ser Faktoren waren die Dienstleistungen der Geistlichkeit im Kriege und
die Rückkehr Elsaß -Lothringens mit seiner überwiegend katholischen Be-
völkerung.
Das Separationsgesetz hatte für die Kirche noch eine andere, höchst un-
erwünschte Folge: Die durch den Wegfall der staatlichen Unterstützungen
eingetretene Verarmung des niederen Klerus brachte ihn denen näher, für
die er eigentlich tätig war. Je stärker die Arbeiterbewegung wurde, um so
mehr beschränkte sich der Antiklerikalismus auf die Linksparteien. Im
Parlament erschien um diese Zeit unter dem Namen Parti Dimocrate
Populaire eine katholische Linke.
Im Jahre 1921 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen der
französischen Republik und dem Vatikan wiederaufgenommen, und 1924
kam es zu einer beide Seiten zufriedenstellenden Lösung der Probleme, die
im Zusammenhang mit den Associations Cultuelles entstanden waren. Die
Association* Diocisaines unter der Leitung des jeweiligen Bischofs wurden
wiedereingeführt.
Zu dieser Zeit kehrten viele Mitglieder religiöser Orden nach Frankreich
zurück und nahmen mit Zustimmung der Republik von neuem ihre Tätig-
keit auf. Es war aber auch eine beachtliche Anzahl Ordensgeistlicher in
Frankreich geblieben, nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Durch-
führung der Gesetze von 1901 und 1905 nicht einfach war und der Staat sich
außerordentlich tolerant zeigte. Versuche des Staates, diese Gesetze zumin-
dest hinsichtlich der Lehrorden durchzusetzen, hatten wenig Erfolg, weil
man nicht die entsprechende Anzahl weltlicher Lehrkräfte zur Verfügung
hatte. Ähnlich verhielt es sich mit den Pflegeorden. Nach 1918 wurden die
Gesetze gegen die Geistlichkeit, obwohl sie noch in Kraft waren, sehr weit-
herzig ausgelegt, wenn man sich ihrer überhaupt bediente. Die Geistlichkeit
durfte Schulen unterhalten, wenn sie in ihnen nicht selbst unterrichtete.
Auch die Jesuiten durften seit 1919 wieder in Frankreich tätig sein. Einer
der letzten Beschlüsse der Dritten Republik war, den Kartäusern die Rück-
kehr in ihr Kloster Grande Chartreuse zu gestatten. Der Orden hielt dort
nach sieb enunddreißigj ährigem Exil am 21. Juni 1940, also wenige Tage
vor dem Waffenstillstand, seinen Einzug.
Bevor wir uns mit den Beziehungen zwischen dem Vatikan und der Repu-
blik im zweiten Weltkrieg befassen, ist es notwendig, die Stärke der katho-
lischen Kirche Frankreichs in der Zeit zwischen den beiden Kriegen zu
untersuchen.
282
Frankreich war, wie bereits erwähnt, trotz seiner vorherrschend anti-
katholischen und antiklerikalen Geisteshaltung ein traditionell katholisches
Land. 1936 schätzte man, daß etwa 34 Millionen Franzosen, das heißt
80 Prozent der Bevölkerung, nominell katholisch waren. Ungefähr drei
Viertel dieser Gläubigen beschränkten sich in der praktischen Religions-
ausübung auf Taufe, Hochzeit und Begräbnis, viele von diesen nominellen
Katholiken waren sogar kirchenfeindlich eingestellt. Amtliche katholische
Stellen schätzten die Anzahl der Katholiken, die mehr oder weniger regel-
mäßig die Messe und die Beichte besuchten, auf etwa 20 bis 23 Prozent
der Bevölkerung Frankreichs.*
Klassenzugehörigkeit und Wohnsitz beeinflussen die Proportion zwischen
aktiven und nominellen Katholiken beträchtlich. Das müssen wir beachten,
wenn wir die Vorgänge untersuchen, die zum Zusammenbruch Frankreichs
und zur -Bildung einer Kollaborationsregierung führten. Die fanatischsten
Katholiken sind in den Reihen der Aristokratie, der Gutsbesitzer, der Militär-
kaste und allgemein in den Reihen der wohlhabenden Schichten zu finden.
Im Kleinbürgertum sind nur etwa ein Drittel aktive Katholiken; die
meisten sind religiös indifferent, eine Minderheit verhält sich aktiv anti-
klerikal.
Wie in allen anderen katholischen Ländern, so findet man auch in Frank-
reich in der Arbeiterklasse die wenigsten aktiven Katholiken. Nur an einigen
Orten, so in Lille, gibt es unter den Arbeitern der Schwerindustrie, der
Textilindustrie und der Eisenbahnen eine Minderheit, die aktiv katholisch ist.
Unter den Angestellten und Arbeitern der Leichtindustrie und unter den
kleinen Gewerbetreibenden ist der Anteil der aktiven Katholiken höher. Daß
die Kirche in den zurückgebliebenen ländlichen Bezirken tiefer verwurzelt ist
als in der Stadt, bedarf keiner besonderen Begründung. Etwa die Hälfte der
französischen Bevölkerung ist weder besonders fromm noch aktiv anti-
klerikal. Allerdings stellen die Frauen aus Gründen, deren Untersuchung
hier zu weit führen würde, einen größeren Anteil aktiver Katholiken als die
Männer. Viele von ihnen gehören auch dann frommen Zirkeln an, wenn ihre
Männer sich offen antiklerikal oder indifferent verhalten.**
Diese Analyse war deshalb wichtig, weil sie uns Aufschluß über die poli-
tische Haltung der französischen Kirchgänger gibt. Außerdem sollte man
* Das französische Institut zur Erforschung der öffentlichen Meinung ermittelte 1946
folgendes Ergebnis: 33 Prozent der Befragten gaben an, daß sie sonntags die Messe
besuchten; 55 Prozent erklärten, daß sie das nicht täten; 4 Prozent antworteten, sie seien
nicht katholisch; 8 Prozent verweigerten die Auskunft.
** Als die Frauen in Frankreich nach dem zweiten Weltkrieg das Wahlrecht erhielten,
verpflichtete die Hierarchie sie, zur Wahl zu gehen und für die katholische Partei zu
stimmen. Das führte zu einer wesentlichen Stärkung der neuen katholischen Partei.
283
in den englisch sprechenden Ländern und anderswo nicht vergessen, daß
ein Franzose, der antiklerikal eingestellt ist, deswegen durchaus nicht Atheist
oder Ungläubiger zu sein braucht. Er kann im Gegenteil sogar ein frommer
Katholik sein. Sein Antiklerikalismus richtet sich nicht gegen die Religion,
sondern vor allem gegen den Einfluß der Kirche auf die politischen Angele-
genheiten seines Landes.
Die Kirche unterhält trotz der verbreiteten Indifferenz der Bevölkerung
in ganz Frankreich ein weitverzweigtes Netz von Organisationen. Diese
durchdachte Organisationsmaschinerie der Kirche überdeckt gewissermaßen
die wahren Gefühle der Nation.
Vor 1940 schätzte man die Anzahl der niederen Geistlichen auf etwa
52 000, unter ihnen ungefähr 12 000 Ordenspriester. Über diese Armee
einfacher Geistlicher gebieten annähernd 70 Bischöfe, nicht eingerechnet
die 26 Bischöfe ohne Diözese.
Die Bischöfe unterstehen den Erzbischöfen. Je vier oder fünf Diözesen
bilden ein Erzbistum.
Die ErzbischÖf e von Paris und Lyon und der Bischof von Lille sind Kardi-
näle. Die ErzbischÖf e und Bischöfe sind die Gehilfen des Papstes. Eine Reihe
französischer Bistümer von hoher politischer Bedeutung, zum Beispiel Straß -
bürg und Metz, unterstehen dem Papst unmittelbar. Die Bischöfe sind auch
für das kirchliche Erziehungswesen im Bereich ihrer Diözese verantwort-
lich; jede Diözese hat einen Directeur, dem die Kontrolle der kirchlichen
Schulen obliegt.
Alle Bischöfe und ErzbischÖf e sind unmittelbar dem päpstlichen Nuntius
als dem Vertreter des Papstes in Frankreich verantwortlich. Solange der
Nuntius bei der französischen Regierung akkreditiert ist, ist die Kirche
Frankreichs seiner Autorität unterworfen. Trotzdem liegen die Haupt-
aufgaben des Nuntius auf diplomatischem Gebiet.
In Frankreich gibt es viele Hunderte religiöser Orden; es ist daher un-
möglich, einen genauen Überblick über ihre Organisation zu geben. Jeder
Mönchs-, Laien- oder Nonnenorden hat seine eigene Verwaltung und seine
speziellen Beziehungen zum Episkopat. Einige Orden sind in wesentlichen
Fragen von den Bischöfen unabhängig und nur dem Heiligen Stuhl ver-
antwortlich. Andere arbeiten eng mit den Bischöfen zusammen. Dies gilt
namentlich für die Lehrorden. Auch die Nonnenorden unterliegen gewöhn-
lich den bischöflichen Entscheidungen. Die wichtigsten Orden sind die Jesui-
ten, die Dominikaner, die Franziskaner, die Benediktiner, die Oratorianer,
die Zisterzienser und einige andere.
Die Gesellschaft Jesu nennt sich in Frankreich Compagnie de Jteus. Die
französischen Jesuiten bilden innerhalb ihrer Organisation eine eigene
Assistenz. Der Assistenzgeneral für Frankreich residiert gewöhnlich in Rom,
284
um, wie die Assistenzgenerale von Polen, Deutschland und anderen wich-
tigen Ländern, dem Papst nahe zu sein. Der Assistenzgeneral des jeweiligen
Landes hat keine Exekutivvollmachten; er ist dem Jesuitengeneral unterstellt,
der den gesamten Orden befehligt und allein dem Papst verantwortlich ist.
Der General ernennt für jede der vier Provinzen, in die Frankreich im Rah-
men der jesuitischen Verwaltung aufgeteilt ist, einen Provinzialen. Jede der
französischen Jesuitenprovinzen umfaßt etwa ein Viertel des Landes. Die
Provinzialhauptquartiere befinden sich in Lille, Paris, Toulouse und Lyon.
In den letzten Jahren der Dritten Republik gehörten zu jeder Provinz 700
bis 1000 Jesuiten.
Die französischen Jesuiten sind vor allem im Erziehungswesen und in
der Auslandsmission tätig. Sie unterhalten zahlreiche Seminare, sind Lehrer
an der Katholischen Fakultät der Pariser Universität und betreiben in Paris
ein Zentrum für soziale Studien, die Action Populaire, die regelmäßig die
Dossiers d'Action Populaire und andere Arbeiten auf sozialem Gebiet ver-
öffentlicht. Die wichtigsten Gebiete der jesuitischen Missionsarbeit sind
oder waren Madagaskar, China, Syrien, der Libanon und Indien.
Die Jesuiten waren jahrhundertelang trotz aller Verfolgungen der mäch-
tigste Orden in Frankreich. Ihr großer Einfluß vor dem Kriege und im
Kriege beruhte vor allem darauf, daß sie als Lehrorden Wert auf ein sehr
hohes kulturelles und intellektuelles Niveau legten. Sie faßten dadurch, daß
sie sich auf das Erziehungswesen spezialisierten, festen Fuß in der Aristo-
kratie, in der Armee und allgemein in den führenden Schichten des Landes.
Sie unterrichteten an der ßcole Sainte Genevieve in Versailles, der Vor-
bereitungsschule für Saint Cyr, Tausende von Offizieren, die später hohe
Posten bekleideten. Die obere und mittlere Bourgeoisie schickte ihre Spröß-
linge ebenfalls in Jesuitenkollegien. Außerdem bildeten die Jesuiten Jugend -
leiter für führende Stellungen in der katholischen Jugendbewegung aus.
Trotz ihrer weitverzweigten Organisation verlor die Kirche in Frankreich
zahlreiche Anhänger — im 19. Jahrhundert an den Säkularismus und den
Liberalismus und im 20. Jahrhundert an den Sozialismus und Kommunis-
mus. Im vergangenen Jahrhundert büßte sie in Frankreich nahezu ein Vier-
tel ihrer Anhänger ein, und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an-
nähernd fünf Sechstel.
Aber der Einfluß der Kirche in Frankreich ging längst nicht in dem glei-
chen Maße zurück Wie die Anzahl ihrer Anhänger, er wurde im Gegenteil
in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen von Jahr zu Jahr stärker. Wie
war das zu erklären? Der Grund dafür lag darin, daß die Kirche in Frank-
reich, ebenso wie in anderen Ländern, zur Mehrung ihres Einflusses nicht
länger unbedingt auf die Bekehrung der Massen angewiesen war; für sie
hing weit mehr davon ab, über welche Kräfte sie hinter den Kulissen des
285
politischen Spiels verfügte. Das zeigte sich bereits nach dem ersten Welt-
krieg, als die Republik, die nach wie vor von liberalem Geist erfüllt war, der
Kirche nicht nur Zugeständnisse machte, sondern mit ihr auch bei mancher
Gelegenheit zusammenarbeitete. Diese Haltung war keineswegs auf einen
Gesinnungswechsel der Republik zurückzuführen, sondern hatte solide soziale
und politische Ursachen, die der Vatikan klug zu seinen Gunsten auszunutzen
wußte. Sicherlich waren auch andere Faktoren für diese Volte-face verant-
wortlich, aber den entscheidenden Faktor stellte das Bemühen des Vatikans
dar, das Land von oben her unter seine Kontrolle zu bringen, um auf diese
Weise dem Massenabfall Einhalt zu gebieten.
So pflegte der Vatikan auf einmal, obwohl er auf dem besten Wege war,
die Schlacht gegen den Sozialismus, den Kommunismus und andere ihm
feindlich gesinnte Kräfte zu verlieren, die Freundschaft zur Republik. Diese
neue Politik trat in den zwei Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen
immer schärfer zutage. Im ersten Jahrzehnt gelang es der Kirche, sich die
Regierung mit Hilfe politischer und nationaler Fragen dienstbar zu machen.
Im zweiten Jahrzehnt unterstützte, förderte und segnete sie die faschistischen
Parteien und Organisationen, deren erklärtes Ziel darin bestand, ein faschi-
stisches Frankreich zu errichten, den Sozialismus zu zerschmettern und der
Kirche alle Macht in die Hände zu legen.
Hier ist nicht der Platz, eine ins einzelne gehende Untersuchung der
inneren Lage Frankreichs in der Zeit zwischen den Kriegen anzustellen. Es
genügt, einige Beispiele dafür anzuführen, wie die Kirche ihren Einfluß zu
verstärken suchte; im ersten Jahrzehnt durch Ausnutzung der französischen
Empfindlichkeit in Fragen des nationalen Prestiges, im zweiten Jahrzehnt
durch Ermunterung aller faschistischen Bestrebungen in den reaktionären
Schichten der französischen Gesellschaft.
Nachdem auf der Konferenz von Versailles die Grenzen Nachkriegs -
europas festgelegt waren, stieg der Einfluß des Vatikans in Frankreich stark
an, da er es verstanden hatte, die französischen nationalistischen Ressenti-
ments in seine Rechnung einzubeziehen. Die beste Gelegenheit hierzu bot
die Frage der Rückkehr Elsaß -Lothringens. Sie war für die Republik eine
ständige Quelle der Besorgnis, da es aussah, als wollten sich die zurück-
gekehrten Provinzen durchaus nicht mit ihrem Schicksal, wieder unter
französische Herrschaft geraten zu sein, abfinden. Die Einfügung Elsaß-
Lothringens in die Republik war für Frankreich eine Frage des nationalen
Prestiges, des Nationalstolzes und des Nationalgefühls.
Und hier trat der Vatikan auf den Plan. Elsaß -Lothringen war ein streng
katholisches Land. Der Vatikan erklärte durch den Mund der französischen
Hierarchie, daß er in der Lage gewesen wäre, „durch seinen nicht un-
beträchtlichen Einfluß auf das katholische Elsaß -Lothringen für ein besseres
286
Verstehen zwischen den neuen Provinzen und der Republik zu sorgen, wenn
die Regierung mehr Verständnis für die Situation der Katholiken in der
Republik an den Tag gelegt hätte". Der Vatikan befolgte wieder einmal
seine alte, seit Jahrhunderten erprobte Taktik, die Napoleon so scharfsinnig
charakterisierte, als er die Hierarchie eine „Gendarmerie des Geistes"
nannte.
Diese Taktik läßt sich auf einen Nenner bringen: Wenn eine bestimmte
Provinz, deren Bevölkerung katholisch ist, im Laufe der Eingliederung in
ein Staatswesen zum Separatismus neigt, so versucht der Vatikan mit dem
betreffenden Staat einen Handel abzuschließen. In der offiziellen Biographie
Leos XIII. findet man eine Reihe von Beispielen für diese Taktik der Kirche
im 19. Jahrhundert: in Großbritannien bezüglich Irlands, in Deutschland
bezüglich Polens, in Österreich hinsichtlich Kroatiens und in einigen ande-
ren Fällen.
In Elsaß -Lothringen rührten sich sehr bald nach dem ersten Weltkrieg
(1919) starke antifranzösische Kräfte, die der Republik Sorge machten.
Zudem entsandten die neuen Provinzen eine so große Anzahl katholischer
Deputierter in das Parlament, wie Frankreich sie seit 1880 nicht erlebt hatte.
Der Vatikan setzte, ohne zu zögern, seine mächtige Waffe gegen die Re-
publik ein, um die eigenen politischen und religiösen Interessen zu fördern.
Der Handel kam zustande. Der Vatikan übernahm es, die elsässischen Se-
paratisten zu zügeln, indem er der örtlichen Geistlichkeit und den katho-
lischen Organisationen einen bestimmten politischen Kurs vorschrieb. Als
Gegenleistung stellte die französische Regierung ihre Feindseligkeiten
gegen die Kirche ein, nahm die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan
wieder auf und gewährte der Kirche eine Reihe von Privilegien. Frankreich,
das am wenigsten katholische Land Europas, dessen Bevölkerung sich gegen
die Kirche indifferent oder feindselig verhielt, dessen Staatsmänner Un-
gläubige waren, warf seinen antiklerikalen Mantel der Vergangenheit ab.
Die antiklerikalen Gesetze wurden aufgehoben oder nicht durchgeführt. Die
des Landes verwiesenen religiösen Orden, namentlich die Jesuiten, kehrten
zurück.
Aber damit nicht genug. Der Vatikan bestand auf der Entsendung eines
französischen Botschafters zur Kurie und eines päpstlichen Nuntius zum
Quai d'Orsay. Soweit war es mit der französischen Republik gekommen, die
seit mehr als vierzig Jahren vom Vatikan als „eine Regierung von Atheisten,
Juden und Freimaurern" beschimpft worden war. Ein französischer Staats-
mann - Pierre Laval - stattete dem Vatikan einen Besuch ab. Das hatte es,
soweit die Erinnerung der Franzosen reichte, nicht gegeben.
Um den Handel komplett zu machen, sprach der Papst die Jungfrau von
Orleans heilig. Das war ein geschickter Schachzug des Vatikans, darauf
287
berechnet, die französischen patriotischen Gefühle für seine Zwecke aus-
zunutzen. Einige Vertreter der Regierung nahmen an der religiösen Zere-
monie teil. Die Linkskräfte Frankreichs protestierten erbittert gegen diesen
Verrat am liberalen republikanischen Geist und gegen den feierlichen
Empfang, der dem päpstlichen Nuntius bereitet wurde. Sie entfesselten im
Parlament einen Sturm. Es fehlte nicht viel, und das Hohe Haus hätte den
Anträgen der Linken zugestimmt. Der Vatikan instruierte die elsässische
Hierarchie, die katholischen Deputierten auf ihre Pflicht, im Parlament
„die Hoheitsinteressen der Kirche zu garantieren", hinzuweisen. Die elsäs-
sischen Deputierten sollten, deutlicher gesagt, der Regierung mit der Los-
trennung drohen, falls die diplomatischen Beziehungen mit dem Vatikan
abgebrochen werden würden. Die Regierung war gezwungen, klein bei-
zugeben.
Auch die Außenpolitik der Regierung geriet bei mehr als einer Gelegen-
heit unter den Einfluß des Vatikans. Wir werden diese Behauptung an Hand
einiger Beispiele bestätigt finden.
Im Jahre 1922 brachte die Türkei Griechenland eine schwere militärische
Niederlage bei. Die Türkei verdankte ihren Erfolg vor allem der Tatsache,
daß Frankreich sie von Syrien aus mit Geschützen und Munition versorgte
und ihr militärische Berater zur Verfügung stellte. Die Niederlage machte
die Hoffnungen der Griechen, sich in Konstantinopel festzusetzen, zunichte.
Die Stadt blieb türkisch. Einige Jahre später kamen Dokumente ans Tages-
licht, die unwiderleglich bewiesen, daß der Vatikan, wenn auch nicht als
einzige Macht, so doch maßgeblich die Hilfe Frankreichs angeregt und ge-
fordert hatte, weil er nicht wollte, daß das orthodoxe Griechenland in den
Besitz Konstantinopels käme. Er fürchtete, daß ihm in der griechisch-ortho-
doxen Kirche, falls sie sich im alten Zentrum der östlichen Christenheit
festsetzte, ein ernster Rivale erwachsen könne. Man muß sich erinnern, daß
der Vatikan zu dieser Zeit sogar Sowjetrußland hofierte, in der Hoffnung,
die orthodoxe Kirche in Rußland unter die Fittiche des Katholizismus zu
bringen.
Als der Vatikan in den ersten Jahren der Sowjetmacht die Illusion hegte,
mit der Sowjetregierung politische Geschäfte zu machen, benutzte er für
die Annäherungsversuche die französische Regierung als diplomatisches
Instrument. Als diese Versuche aber fehlschlugen (die Ursachen werden wir
im nächsten Kapitel kennenlernen), unterstützte der Vatikan die in Frank-
reich lebenden Weißgardisten in ihrem Kampf gegen die Sowjetmacht und
gab der weltweiten antibolschewistischen Kampagne seinen apostolischen
Segen.
In dem Kapitel über die Tschechoslowakei hatten wir bereits erfahren,
daß die tschechoslowakische Regierung im Jahre 1935 den päpstlichen
288
Nuntius des Landes verwies, weil er Öffentlich die Lostrennung der Slowakei
gefordert hatte. Die französische Kirche und die französische Regierung
mischten sich in diesen Konflikt ein und verlangten von der tschechoslowa-
kischen Regierung, sich mit dem Vatikan auszusöhnen. Zu dieser Zeit be-
stand zwischen der Tschechoslowakei und Frankreich ein Militärbündnis.
Als aber Frankreich drei Jahre später Anlaß hatte, seinen Bündnispflichten
nachzukommen und der Tschechoslowakei gegen die Bedrohung durch Hitler
militärischen Beistand zu leisten, taten die katholischen Kreise in Frankreich
und der Vatikan alles, die Erfüllung dieser Verpflichtung zu hintertreiben.
Auch beim erstmaligen Abschluß einer Allianz mit dem Kaiserreich Japan
leistete die französische Regierung dem Vatikan große Hilfe.
Eine weitere wichtige Ursache für den wachsenden Einfluß des Vatikans
auf die französische Politik war die Drohung mit dem bolschewistischen
Schreckgespenst. Die Politik in Elsaß -Lothringen hatte dort bereits die
Bischöfe mit den Bankiers und Industrieherren zusammengeführt. Diese
Kombination erwies sich für beide Seiten als äußerst nutzbringend.
Man darf nicht übersehen, daß in Lothringen das zweitgrößte Eisenerz-
vorkommen Europas liegt und daß Elsaß, abgesehen von seiner intensiven
und ergiebigen Landwirtschaft, über einen großen Reichtum an Kalisalzen
verfügt.
Das Bündnis zwischen der Kirche und allen reaktionären Kräften der
französischen Gesellschaft wurde immer enger; es war ein Bund auf Leben
und Tod, denn alle Beteiligten sahen im Kommunismus eine tödliche Ge-
fahr für ihre Welt. Nichts hätte die bereits bestehende Bindung zwischen
der Kirche und der sozialen, ökonomischen und politischen Reaktion mehr
verstärken können als diese gemeinsame Angst. Das berühmte Wort Hen-
ris IV.: „Paris ist eine Messe wert", wurde zur politischen Losung einer
einflußreichen Gruppe französischer Antiklerikaler, die aus Angst vor dem
Kommunismus ins Joch des Vatikans flüchtete. Zahlreiche liberale Franzo-
sen setzten angesichts der neuen Lage an die Stelle der Losung Gambettas:
„Der Klerikalismus ist der Feind!", die Frankreich vierzig Jahre lang er-
füllt hatte, den Ruf: „Die Kirche ist unser Verbündeter."
Die französischen Bankiers und Großindustriellen verbündeten sich mit
dem Vatikan nicht um des Katholizismus willen. Sie hatten zwei Ziele im
Auge : ihre Privatinteressen, und dann erst und nur, solange dies mit ihren
Privatinteressen zu vereinbaren war, die Interessen der Kirche. Die berüch-
tigten „zweihundert Familien", die Frankreich dank ihrer riesigen Reich-
tümer auch damals schon beherrschten, waren — in diesem Sinne - zum
größten Teil gläubige, ergebene Katholiken.
Eine organisierte antibolschewistische Kampagne nach der anderen rollte
im Laufe der Jahre wie Flut und Ebbe über das Land. Ihr Einpeitscher war
19 M359
289
diese unheilige Allianz. Die Kampagnen hatten zwei Stoßrichtungen. Die
eine Richtung verfolgte das Ziel, immer neue sogenannte Volksbewegungen
zu entfachen. Die andere, für die Öffentlichkeit weniger sichtbare Richtung
hatte die Aufgabe, die finanziellen, politischen und sozialen Pläne auf höch-
ster Ebene zu entwerfen ; 'hierbei erzielte der Vatikan beachtliche Erfolge.
Etwa zehn Jahre nach dem ersten Weltkrieg, zur Zeit der großen Welt-
wirtschaftskrise, tauphten die ersten antibolschewistischen Organisationen
auf. Sie wuchsen rasch an. Es gab eine Zeit, in der es durchaus im Bereich
des Möglichen lag, daß diese Gruppen einen Bürgerkrieg entfesselten, um
die Macht an sich zu reißen. Das gemeinsame Ziel dieser Gruppen war, den
Sozialismus und den Kommunismus auszurotten, wo immer er ihnen entgegen-
trat, und den Einfluß der Sowjetunion in der internationalen Politik zurück-
zudrängen. Sie waren nach faschistischen Vorbildern aufgebaut, trugen
ähnliche Uniformen und benutzten beinahe die gleichen Schlagworte.
Es handelte sich durchweg um bewaffnete Formationen, deren wichtigste
politische Methoden Gewalt und Terror waren. Sie strebten nach der Dik-
tatur. Ihr Weg zur Macht konnte also nur über die Zerstörung der demokra-
tischen und politischen Freiheiten des Volkes führen. Wie nicht anders zu
erwarten, waren ihre Führer und Mitglieder fanatische Katholiken. Natio-
nalismus und beschränkte Klasseninteressen begünstigten das Aufkommen
dieser Bewegungen, die alle durch die Religion miteinander verbunden
waren.
Die berüchtigtsten katholisch -faschistischen Organisationen waren La
Croix de Feu, Les Camelots du Roi und Les Cagoulards. Die meisten Grup-
pen besaßen „geheime" Waffenlager und wurden durch „geheime" Kanäle
finanziert. Sie marschierten durch die Straßen von Paris und versuchten
sozialistische und kommunistische Versammlungen zu sprengen; sie organi-
sierten bewaffnete Demonstrationen und fielen über ihre Gegner her; kurz,
sie handelten so, wie ihre Vorbilder in Italien und Deutschland es ihnen mit
so großem Erfolg vorexerziert hatten.
Aber das Ringen der faschistischen Bewegungen um die Macht hatte aus
vielerlei Gründen keinen Erfolg. Frankreich befand sich weder in der glei-
chen finanziellen Notlage wie Italien, noch hatte es, wie Deutschland, die
Demütigungen und Lasten einer Niederlage hinnehmen müssen. Die Haupt -
Ursache war jedoch, daß sich die Mehrheit der Franzosen um die Linke
scharte und zu demokratisch gesinnt war, als daß sie sich unter das Joch
eines Diktators beugte.
Als die faschistischen Kräfte bei ihrem Griff nach der Macht gescheitert
waren, verdoppelten sie ihre Anstrengungen hinter den Kulissen. Dort war
ihr Einfluß groß. Sie standen in enger Verbindung mit der katholischen
Kirche und erhielten von ihr jede Unterstützung. Auch der Vatikan
290
konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das Spiel hinter den Kulissen,
nachdem er im offenen politischen Kampf eine Niederlage hatte einstecken
müssen.
Während Frankreich durch heftige Kämpfe zwischen den einzelnen
Kräftegruppen innerlich zerrissen wurde, marschierte Nazideutschland von
Erfolg zu Erfolg. Da es hier nicht unsere Aufgabe ist, die französische
Politik jener Jahre zu analysieren, mag es genügen, auf einige wichtige
Punkte dieser Politik zu verweisen, die sich sehr deutlich von dem allgemei-
nen Hintergrund abheben. In Frankreich finanzierten und ermunterten
offensichtlich dieselben Klassen und Schichten den Faschismus wie in Italien
und Deutschland; ebenso offensichtlich spielte auch in Frankreich die katho-
lische Kirche bei der Ermutigung dieser Bewegungen eine bedeutende Rolle.
Daß die Zerschlagung des Kommunismus und des Sozialismus das Hauptziel
dieser Bewegungen war, bedarf keiner besonderen Begründung. Die An-
strengungen in dieser Richtung beschränkten sich nicht auf die Innenpolitik,
sondern bildeten auch einen Bestandteil der französischen Außenpolitik. So
zeigte sich der Antikommunismus des französischen Faschismus in dem un-
ablässigen Bemühen, die Bestrebungen der Republik nach einer engen
Allianz mit der Sowjetunion zu sabotieren.
Die französischen Reaktionäre beschränkten sich nicht auf Störmanöver
gegen die Politik der Republik, sondern verfolgten weiter ihre eigene poli-
tische Konzeption der Errichtung eines faschistischen Regimes. Sie sahen
jedoch auf Grund der Lage in Frankreich keine Möglichkeit mehr, dieses
Ziel ohne Hilfe von außen zu erreichen. Diese Hilfe konnte nur von Nazi-
deutschland kommen. Wenn sich auch der Nationalstolz der Franzosen gegen
eine solche Politik aufbäumte, so setzte sich doch die Losung der Reaktionäre:
„Alles andere, nur kein rotes Frankreich", durch. Dabei spielte die Über-
legung eine Rolle, daß die Linken bei einem möglichen Sieg Frankreichs über
das faschistische Deutschland ihre Stellungen im Lande erheblich verbessern
würden. Dieses Risiko aber durften die Kapitalisten, die Möchtegern -
faschisten und die katholische Kirche nicht eingehen. So blieb ihnen als ein-
ziger Weg die Niederlage ihres Landes und die Opferung ihres National-
stolzes. Nur so konnten sie das wichtigste Ziel ihrer Klassenpolitik, die Ver-
nichtung der „Roten", erreichen.
Der katholische politische Hintergrund Frankreichs sah also in dem Jahr-
zehnt vor dem zweiten Weltkrieg - wir fassen zusammen - folgendermaßen
aus: Die Mehrheit der Bevölkerung verhielt sich zur katholischen Kirche
indifferent oder gar feindselig; die Kirche verfügte über eine gewaltige
Maschinerie, die zwar ganz Frankreich überzog, aber keinen Halt in den
Massen hatte, und deshalb wie in einem Vakuum arbeitete: das Land stand
ununterbrochen im Zeichen einer von der katholischen Kirche und ihren
291
Hilfsorganen betriebenen Hetzkampagne gegen den Kommunismus und die
Sowjetunion; im Laufe dieses Jahrzehnts bildeten sich, zumeist auf Initiative
der Kirche, zahlreiche Bewegungen, die den Faschismus imitierten.
In enger Verbindung mit diesen Agenturen des Faschismus standen
kleine, aber einflußreiche Gruppen, die von dem gleichen Haß gegen den
Kommunismus erfüllt waren wie die katholische Kirche. Sie wurden von
dem Alptraum verfolgt, daß ihre soziale und finanzielle Welt verschwinden
würde, wenn es weiter gestattet wäre, sozialistische und kommunistische
Ideen ungehindert zu verbreiten. Sie wollten dem Kommunismus Einhalt
gebieten - anfangs im eigenen Lande, später im Ausland — und organisierten
und finanzierten deshalb die Parteien, die in Frankreich als Gegengewicht
zum Kommunismus den Faschismus errichten sollten.
Diese beiden mächtigen Faktoren in Frankreich - die katholisch -faschi-
stischen Bewegungen und die katholischen Finanziers — vereinigten sich, um
ihr gemeinsames Ziel — die Errichtung einer faschistischen Diktatur und
die Zerschmetterung des kommunistischen Feindes — zu erreichen; aber
ihnen gelang nicht, was Mussolini in Italien und Hitler in Deutschland
gelungen war. Schwankend zwischen Furcht und Hoffnung, verfolgten sie
die Ausbreitung des Atheismus und des Kommunismus einerseits und die
Geburt neuer faschistischer Regime andererseits.
Typisch für dieses Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung war das
Verhalten des französischen Außenministers Bonnet in der Zeit von „Mün-
chen". Er unternahm alles nur Mögliche, um Hitler zu beschwichtigen,
und war fest überzeugt, daß die Zusicherung der Sowjetunion, der Tsche-
choslowakei beizustehen, nur ein „bolschewistischer Trick" sei, durch den die
„Roten" Europa in den Krieg stürzen und den gesamten Kontinent „bolsche-
wisieren" wollten. Oder ein anderes Beispiel: Der frühere französische Mi-
nisterpräsident Flandin rief im September 1938 den britischen Botschafter
Phipps an, um ihm mitzuteilen, daß „die kommunistischen Führer, die am
aktivsten zum Kriege hetzen, ihre Leute bereits angewiesen haben, im Fall
eines schweren Luftangriffs zu erklären, Frankreich sei von seiner Regie-
rung betrogen worden, und dann ein kommunistisches Regime zu errichten".
(Sir E. Phipps an Lord Halifax, Paris, 24. September 1938)
Ein französischer Schriftsteller schrieb über die damalige Situation :
„Die besitzenden Klassen, getrieben von ihrer Furcht vor dem Kommunismus, bewun-
derten und umschmeichelten Mussolini. Aber noch mehr waren sie von dem neuen Herr-
scher Deutschlands begeistert . . . Die Sicherung der Macht durch Gewalt wurde von den
alten französischen Parteien, die sich niemals mit der Republik ausgesöhnt hatten, allen
Ernstes erwogen. Dieser Gedanke weckte in ihnen einen nahezu religiösen Enthusiasmus.
Die Seuche breitete sich rasch aus . .
Eine besondere Gruppe unter diesen von der Furcht vor dem Kommunis-
mus besessenen Schichten war das aktive Offizierkorps. Es war für seine
292
reaktionäre Haltung in fast allen Fragen und für seine kirchenergebene
Einstellung bekannt. Viele hohe Offiziere waren wegen ihres Hasses gegen
die Kommunisten, wegen ihrer Verachtung der Demokratie und wegen ihrer
Vorliebe für „starke Regierungsformen" berüchtigt. Zu ihnen gehörten
Potain, Weygand und Giraud. Wir nennen nur diese drei, da sie später eine
bedeutsame Rolle spielen sollten.
Diese Offiziere waren treue Katholiken und fühlten sich mit den Inter-
essen der Kirche, nicht nur als einer religiösen Institution, sondern auch als
eines Instruments der vatikanischen Politik, in sozialen und politischen Fragen
eng verbunden. Sie waren stark von der 1951 veröffentlichten Enzyklika
Quadragesimo Anno beeinflußt worden. In dieser Enzyklika hatte sich der
Papst, wie bereits mehrfach erwähnt, dafür ausgesprochen, als Gegen-
gewicht gegen Kommunismus und Sozialismus einen Ständestaat nach dem
Vorbild des italienischen Faschismus zu errichten.
Die Forderungen der Enzyklika Quadragesimo Anno waren für diese
Offiziere das Gebot des Tages. Als ergebene Mitglieder der Kirche, als Be-
auftragte ihrer Klasse und ihrer Kaste, die sich Frankreich nur auf den
alten, bewährten Grundlagen vorstellen konnten, begannen sie zu handeln.
Sehr bald wurden die politischen Wirkungen der Enzyklika in Frankreich
und in einer Reihe anderer katholischer Länder sichtbar, zumal auch andere
Kräfte und Interessen, die wenig oder nichts mit den Interessen der Kirche
zu tun hatten, in gleicher Richtung am Werke waren. Aber die vorwärts -
treibende Kraft der Kirche gab diesen Elementen großen Auftrieb. 1934
waren die bewaffneten Einheiten der französischen faschistischen Parteien
bereits so weit formiert, daß es zu blutigen Ausschreitungen in den Straßen
von Paris kam. Die „Feuerkreuzler", die „Kapuzenmänner" und die anderen
faschistischen Gruppen forderten, entsprechend den Richtlinien der Enzy-
klika, den Ständestaat, die Gewährung von Privilegien für die Kirche und
die Diktatur.
Zu jener Zeit entschloß sich Potain, getrieben von den Worten des Papstes
und von seinem Haß gegen die Kommunisten politisch aktiv zu werden und
sich nicht länger „auf Worte zu beschränken". Er hatte trotz seines Ehr-
geizes mehrere Jahre zurückgezogen gelebt. Die Machtergreifung Musso-
linis, Hitlers und anderer Faschisten hatte in ihm und seinen Freunden
„neue Hoffnungen" geweckt. (Potain an einen Freund am 30. Septem-
ber 1933)
Potain sammelte eine Clique politischer Freunde, Führer reaktionärer
Gruppen, um sich. Als ersten Schritt veröffentlichten sie ein Pamphlet unter
dem Titel: „Wir wollen Potain!" Was planten sie? Vor allem die „Vernich-
tung des revolutionären Geistes, der Frankreich an den Rand des Abgrundes
gebracht hat, und die Errichtung eines autoritären Regimes, das mit allen
293
destruktiven Elementen aufräumt, die dabei sind, das Land, die Familie,
die Kirche und alles, was Frankreich groß gemacht hat, zu zerstören".
Aber Potain und seine Freunde begnügten sich nicht mit der Veröffent-
lichung von Pamphleten; sie nahmen unmittelbar Kurs auf die Macht-
ergreifung und trafen Vorbereitungen für einen Bürgerkrieg. Petain hielt
zu diesem Zweck im geheimen enge Verbindungen zu den bereits erwähnten
terroristischen Bewegungen. Er beobachtete „den Siegeszug der Nazis mit
großer Sympathie"« Die Zeit verging, der Nazismus konsolidierte sich, und
der Marschall verbrüderte sich in Berlin mit deutschen Nazis, namentlich
mit Göring.
Potain erkannte bald, daß der Faschismus in Frankreich nicht durch innen-
politische Maßnahmen allein an die Macht gebracht werden konnte. Alle
reaktionären Führer schlössen sich dieser Meinung an. Sie begannen sich
im Ausland umzuschauen, um den Faschismus bei der ersten besten Gelegen-
heit nach Frankreich zu importieren. Petain veranlaßte zu diesem Zweck
seine Ernennung zum Botschafter in Madrid in einer Zeit, als faschistische
Waffen sowie englische und französische Nichteinmischer emsig dabei waren,
dem Faschisten Franco zum Sieg über die vom Volk gewählte republikanische
Regierung zu verhelfen.
Zur gleichen Zeit nahm ein anderer prominenter katholischer Politiker
Verbindung mit Potain auf: Pierre Laval. Gemeinsam steuerten sie im
verborgenen ihrem Ziel zu. Petain stellte von Madrid aus geheime Kontakte
zu den Mächten her, auf deren Hilfe er für das Gelingen seiner Pläne vor
allem rechnen konnte. Seine Fäden zum Vatikan liefen über Franco und
über den päpstlichen Vertreter in Spanien, die Verbindung zu Hitler ging
über Herrn von Stohrer bei der deutschen Botschaft in Madrid. Laval festigte
unterdessen in Frankreich das Bündnis mit den militärischen Kreisen, den
Finanzherren und den Industriemagnaten.
Was sahen die Pläne Potains vor? „Schaffung günstiger Voraussetzungen
für die Errichtung des Faschismus in Frankreich und damit für die Heraus-
bildung eines europäischen faschistischen Blocks, der die Vorherrschaft über
den ganzen Kontinent ausüben wird. Der Erfolg des Unternehmens hängt
allein davon ab, ob es gelingt, sowohl im Inneren Frankreichs als auch in
seinen äußeren Beziehungen eine Zusammenarbeit mit dem Bolschewismus
zu verhindern" (Aus einem Brief des italienischen Botschafters in Madrid
an Mussolini vom 29. März 1939). Mit anderen Worten: Der Einfluß, den
die Sowjetunion auf gewisse europäische Staaten, vor allem auf die Tsche-
choslowakei und auf Frankreich, ausübte, sollte paralysiert werden.
Hitler war bereit, Potain und allen faschistischen Gruppen in Frankreich
bei dem Versuch einer Machtergreifung dieselbe Hilfe angedeihen zu las-
sen, die er Franco in Spanien gewährte, und sie auch auf dem Gebiet der
294
internationalen Politik zu unterstützen, wenn es zu ernsthaften Kompli-
kationen käme. Potain und seine Freunde waren bereit, im Falle eines
europäischen Krieges „alles zu unternehmen, um Frankreich abzuhalten,
denen beizustehen, die sich Deutschlands Forderungen widersetzen". In den
letzten Jahren vor Kriegsausbruch sah die Petaingruppe eine ihrer Haupt-
aufgaben darin, das Bündnis mit der Sowjetunion zu unterminieren. Wäh-
rend der sogenannten Tschechenkrise war ihnen das bereits gelungen. Falls
zu dieser Zeit ein Krieg ausgebrochen wäre und Petain nicht hätte verhin-
dern können, daß Frankreich in diesen Krieg hineingezogen wurde, dann
hätten er und seine Freunde dafür gesorgt, daß „die Macht des bewaffneten
Frankreichs nicht gegen das Dritte Reich zum Einsatz kommt".
Papst Pius XI. und sein Staatssekretär erteilten Potains Plan ihren Segen.
Pacelli ließ jedoch Hitler wissen, der Vatikan sähe es lieber, daß „die natio-
nalen und internationalen Probleme ohne das Risiko eines neuen großen
Krieges gelöst würden". Er bat Hitler, Mittel und Wege zu finden, um
Frankreich „bei der Errichtung einer gesunden und friedlichen Regierung,
die mit Deutschland beim Wiederaufbau eines christlichen Europas zu-
sammenarbeitet, zu helfen" (Kardinal Seredi am 6. April 1940).
Von der Verschwörertätigkeit Potains und seiner Freunde und von ihren
Verbindungen mit dem Vatikan und mit Hitler erhielt die französische
Regierung Kenntnis. Über die wichtigsten Schritte Potains wurde Minister-
präsident Daladier schriftlich unterrichtet. Aber zur Verwunderung derer,
die ihm regelmäßig darüber Vortrag hielten, erklärte Daladier, er wisse
sehr wohl, was vorgehe, könne jedoch „nichts dagegen unternehmen".
Der Krieg brach aus. Potain und seine Freunde trieben ihr verräterisches
Spiel weiter und verstärkten ihre Aktivität. In dem Kapitel über Deutsch-
land befaßten wir uns bereits mit den Zusicherungen, die der Vatikan kurz
vor Kriegsausbruch Hitler über die voraussichtliche Haltung Frankreichs
machte. Sie stammten aus dieser Quelle. Petain erhielt seinerseits über Stoh-
rer und den päpstlichen Legaten so weitgehende Informationen, daß er dies
mit Recht für eine indirekte Bestätigung seiner Zuverlässigkeit durch
Deutschland halten konnte. Aber bei aller Entschlossenheit, seinen Plan zu
verwirklichen, war er sich noch immer nicht ganz klar, ob nicht „die deut-
sche Unterstützung mit der eigenen militärischen Niederlage zu hoch be-
zahlt" sei.
Die landesverräterische Aktivität Petains, Lavais, Weygands und ihrer
Mitverschworenen vervielfachte sich nach Frankreichs Kriegseintritt. Seit
Jahren hatten sie daran gearbeitet, alle Schlüsselpositionen in der Armee mit
ergebenen Offizieren zu besetzen. Potain selbst kehrte, um in diesen ent-
scheidenden Tagen engere Fühlung mit denen zu haben, die seine Wünsche
teilten, nach Paris zurück. Hier warb er einige Regierungsmitglieder für
295
seine Pläne und bat sie, ihm die Genehmigung zu verschaffen, die Hälfte
seiner Zeit in Madrid — wo er die internationalen Kontakte unterhielt - und
die andere Hälfte in Frankreich zu verbringen, wo er mit Hilfe seiner
Agenten die Verwirklichung seiner militärischen und politischen Pläne lei-
tete. Aber diese Genehmigung erhielt er nicht; er hatte beim Minister-
präsidenten und bei anderen Politikern bereits zuviel Verdacht erregt. In
seiner Verbitterung über diese Ablehnung sprach er Worte, die mehr als alles
andere enthüllten, was sich hinter den Kulissen abspielte. Er sagte: „Sie
werden mich in der zweiten Maihälfte noch brauchen." In der zweiten Mai-
hälfte wollte Deutschland seine Offensive im Westen beginnen. Hitler hatte
seine Pläne mit dem Papst und Potain abgestimmt. (Siehe Ci-devant 1941
von dem damaligen französischen Minister Anatole de Monzie)
Am 19. Mai 1940 wurde Potain nach Paris gerufen und zum stellvertre-
tenden Ministerpräsidenten ernannt. Wir können hier nicht im einzelnen
untersuchen, wie es dazu kam. War es bloß ein Schnitzer des Ministerpräsi-
denten Reynaud? War es auf die Intrigen zurückzuführen, die um Reynaud
gesponnen wurden? War es das Werk Lavais, des unermüdlichen Verschwö-
rers? Ob so oder so, Tatsache bleibt, daß sich Petains „Prophezeiung"
bewahrheitete. Petain nutzte seinen neugewonnenen Einfluß und setzte die
Ernennung seines Mitverschworenen, des ultrakatholischen und reaktio-
nären Generals Weygand, zum Oberkommandierenden und die Aufnahme
zweier katholischer Führer, Baudouin und Prouvost, in das neue Kabinett
durch.
Weygand stand in enger Verbindung mit dem päpstlichen Nuntius in
Paris und stattete ihm vor allem in den letzten Wochen vor dem Angriff auf
Frankreich auffällig viele „höchst private" Besuche ab. „Ebenso wie Mar-
schall Petain war Weygand ein bigotter Klerikaler und ein Feind der repu-
blikanischen Verfassung", heißt es im Annual Register. Weygand stammte
aus dem belgischen Adel. Er war berüchtigt wegen seines Hasses gegen das
republikanische Regime und die „gottlosen Sozialisten und Bolschewisten".
Seine erste Amtshandlung bestand darin, das französische Kabinett offiziell
zu informieren, daß die Verteidigung Frankreichs aussichtslos sei. Petain
unterstützte diese Meinung Weygands.
Auf politischem Gebiet griff Laval das Stichwort seiner Freunde auf.
Einflußreiche Kreise, die an der sofortigen Einstellung der Feindseligkeiten
interessiert waren, unterstützten seine Behauptung, daß alle, die den Kampf
fortzusetzen wünschten, obwohl Weygand und Potain die Niederlage als
unvermeidlich bezeichneten, schuld seien, wenn noch viele Franzosen sterben
müßten.
Laval war Katholik von Geburt und, ähnlich wie Franz von Papen,
Kammerherr am päpstlichen Hof. Man kann ihn in gewissem Sinne als den
296
führenden katholischen Politiker Frankreichs bezeichnen. Er war der erste
Minister der Dritten Republik, der dem Vatikan einen Besuch abstattete
(1935). Mit großer Gewandtheit verstand es Laval, hohe Würdenträger der
katholischen Kirche bei bestimmten Stellen hinter den Kulissen des fran-
zösischen politischen Lebens einzuführen, um den Einfluß der Kirche zu
stärken. Seine engen Verbindungen mit dem Vatikan knüpfte Laval im
Jahre 1935, als er mit Mussolini besprach, wie Italien vorgehen müßte,
wenn es Abessinien angreifen wollte, ohne auf ernsthafte internationale
Schwierigkeiten zu stoßen. Über Lavais Besuch beim Papst schrieb Le Temps
am 11. 1. 1935:
„Seine Heiligkeit der Papst sprach seine Freude aus, daß nach siebzig Jahren zum
erstenmal wieder ein Repräsentant der französischen Regierung gekommen sei, nicht nur
um einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, sondern um die Huldigung der französischen
Nation zu überbringen. Herr Laval trug den Orden Pius' IX., der ihm von Pius XI.
verliehen worden war. Der Papst überreichte Herrn Lavais Tochter einen goldenen
Rosenkranz und eine Koralle. Als Gegengeschenk übergab Herr Laval Seiner Heiligkeit
drei Bücher in kostbarem Einband."
Laval stand ebenso wie Weygand in enger Verbindung mit dem päpst-
lichen Nuntius. Als die französische Krise ihren Höhepunkt erreichte (Mai
und Juni 1940), war er fast täglich zu geheimen Unterredungen bei ihm.
Petain und seine Anhänger liefen durch Paris und erklärten jedem, der
es hören wollte:
„Frankreich braucht eine Niederlage. Ohne Niederlage kann Frankreich nicht genesen.
Ein Sieg würde lediglich das Regime stärken, das Frankreich in den moralischen Ruin
geführt hat. Was auch kommen mag, alles ist besser als die Fortdauer eines so verah-
scheuungswürdigen Regimes. Eine Niederlage, der ein rascher Friedensschluß folgt,
wird Frankreich vielleicht eine Provinz, ein paar Häfen und einige Kolonien kosten. Was
ist das im Vergleich mit der Wiedererstehung des französischen Imperiums ?" (Elie Bois
in Truth on the Tragedy of France)
Als die Verschwörer um Petain mit ihrem Plan gut vorangekommen
waren, tauchten auf einmal unerwartete Schwierigkeiten auf. Mussolini
stellte plötzlich höhere Forderungen an Frankreich. Er verlangte nicht nur
die Abtretung von Nizza, Savoyen und Tunis, sondern wünschte darüber
hinaus in den Krieg einzugreifen und mit seinen Truppen in Paris einzu-
marschieren, um zu demonstrieren, daß seine faschistische Armee Anteil
hatte an der Vernichtung der „durch Freimaurer, Juden und Bolschewisten
zersetzten französischen Plutokratie".
Der Wunsch Mussolinis, sich am Kriege zu beteiligen, wurde Anfang
1940 bekannt. Er wurde am 29. Februar 1940 durch Graf Ciano in einer
Erklärung gegenüber dem päpstlichen Nuntius in Italien, Erzbischof Bor-
gongini-Duca, bestätigt:
297
„Ich habe den Eindruck, daß bald eine große Offensive ander französischen Front aus-
brechen wird, und für diesen Fall sehe ich voraus, daß Deutschland alle Anstrengungen
machen wird, uns in den Krieg hineinzuziehen."
Petain, Weygand und Laval wurden darauf beim Papst vorstellig und
baten ihn, alles zu tun, Italien vom Kriegseintritt abzuhalten, damit „Frank-
reich nicht noch größere Schwierigkeiten hat, aus der Sackgasse heraus-
zukommen".
Der Papst nahm in dieser Frage mehrmals mit Mussolini Verbindung auf.
Er bediente sich dabei des Fraters Tacchi Venturi, der als eine Art Mittels-
mann zwischen dem Papst und Mussolini tätig war. Aber Mussolini ließ
sich von seinem Wunsch nicht abbringen. Der Papst bat darauf Hitler, zu
intervenieren. Hitler versprach, sein Bestes zu tun, äußerte aber, er könne
Italien „nicht abhalten, den Weg einzuschlagen, den Mussolini im Interesse
des neuen Europas für richtig hält".
Als Ribbentrop schließlich im März beim Papst vorsprach, um sicher-
zustellen, daß die Verabredungen hinsichtlich Frankreichs Kapitulation
eingehalten würden, hatten seine Unterredungen mit dem'Papst und mit
den Franzosen einen solchen Erfolg, daß der Naziminister in einem Anfall
von Optimismus erklärte:
„Frankreich und Deutschland werden noch innerhalb dieses Jahres Frieden suchen
und finden. Ein neues Frankreich wird der große Partner des Dritten Reiches beim
Aufbau eines neuen Europas werden. Dies ist die feste Überzeugung aller Deutschen."
(12. März 1940)
Unterdessen erklärten Petain und seine Komplicen dem Papst, daß
„Frankreichs Ehre und seine nationalen Interessen die entwürdigende Tat-
sache einer italienischen Besetzung französischen Territoriums" nicht zu-
ließen und der „ganze . . . Plan zur Annäherung zwischen Frankreich und
Deutschland außerordentlich gefährdet" sei, wenn Mussolini Frankreich den
Krieg erkläre.
Da Mussolini auf die Beschwichtigungsversuche des Papstes nicht einging,
begann der Papst in Italien eine Friedenskampagne.*
Der faschistische Botschafter beim Heiligen Stuhl, Alfieri, protestierte in
Mussolinis Auftrag beim Papst gegen solche kirchlichen Demonstrationen
für den Frieden „in Italien".
Inzwischen nahte der Zeitpunkt, in dem Hitler den Angriff auf Frank-
reich beginnen wollte. Da die französischen Verschwörer nach wie vor Zu-
sicherungen verlangten, daß Mussolini ihr Land nicht angreife, sandte der
Papst ein Handschreiben an Mussolini, das mit den Worten schloß :
* Weitere Einzelheiten darüber sind in den Erklärungen des früheren französischen
Botschafters beim Heiligen Stuhl, Francois Charles-Roux, zu finden. (Revue de Paris,
August 1946)
298
„Mögen Europa weitere Ruinen und weitere Tranen erspart bleiben, möge aber vor
allem unser geliebtes Land von einer Katastrophe verschont werden."
Mussolini schrieb in seiner Antwort :
„Ich möchte Ihnen, Heiligster Vater, versichern: Falls Italien morgen in den Krieg
eintritt, so bedeutet dies unmißverständlich, daß die Ehre, die Interessen und die Zukunft
unseres Landes diesen Schritt notwendig gemacht haben."
Mussolini beauftragte den Unterstaatssekretär Guidi, dem Erzbisch of
Borgongini-Duca mitzuteilen, daß sich Italien endgültig entschlossen habe,
in den Krieg einzutreten (22. Mai 1940). Graf Ciano eröffnete dies dem
Papst am 28. Mai.
Petain und Weygand baten Hitler, Mussolini umzustimmen. Aber Hitler
antwortete, er sehe sich nicht in der Lage, Mussolini von der Beteiligung
am Kampf „zurückzuhalten".
In ihrer Verzweiflung wandten sich Petain und Laval ein weiteres Mal
über den päpstlichen Vertreter in Madrid an den Papst. „Die gesamte
Zukunft Frankreichs als katholisches Land wurde durch Mussolinis Ent-
scheidung gefährdet", erklärten sie.
Der Papst antwortete, er habe feststellen müssen, daß Mussolini fest ent-
schlossen sei, in den Krieg einzutreten; er habe daraufhin versucht, den italie-
nischen Diktator von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich „zu diesem
kritischen Zeitpunkt maßvoll zu verhalten", und ihm ferner zu verstehen
gegeben, daß seine Forderungen nur erfüllt würden, wenn er mit dem am
Boden liegenden Frankreich taktvoll umginge. (Aus einer Note des Kardinal-
staatssekretärs Maglione an Senor Lequerica, der als Mittelsmann zwischen
dem Vatikan und der Gruppe Petain- Laval tätig war.)
Laval riet Petain und Weygand, nachzugeben. Als er keinen Erfolg hatte,
bat er den Papst um Beistand. Der Papst richtete eine persönliche Botschaft
an Petain, in der er Frankreich aufforderte, sich „mit innerer Stärke und
mit Realismus der Situation zu beugen". Er versicherte Petain, daß er in der
Zwischenzeit weiter an Hitler und Mussolini appellieren werde, in ihren
Bedingungen Maß zu halten und sich nicht von Rachegefühlen leiten zu
lassen.
Die Armeen der Nazis hatten Belgien und die Niederlande besetzt. König
Leopold hatte auf Geheiß Weygands und anderer katholischer Ratgeber
sowie auf unmittelbare Anweisung des Vatikans kapituliert. Die Nazi-
truppen näherten sich unaufhaltsam Paris.
Während all das geschah, führten der Papst und sein Staatssekretär meh-
rere streng geheime Unterredungen mit dem französischen Botschafter. Die
letzte dieser Unterredungen fand am 9. Juni 1940, einen Tag vor Mussolinis
„Dolchstoß in den Rücken", statt. Was die beiden bei diesem Gespräch
299
einander zu sagen hatten, ist bisher nicht bekannt geworden. Aber das Datum
der Unterredung ist bemerkenswert. Man sollte es angesichts der Folgen, die
daraus erwuchsen, nicht aus dem Auge verlieren.
Am Tag darauf erklärte das faschistische Italien Frankreich und Groß-
britannien den Krieg. Faschistische Truppen überschritten die französische
Grenze und erreichten nach geringfügigen Kämpfen ihre ersten Ziele, Men-
tone und Nizza.
Für die Verschwörer war es jetzt an der Zeit, ihre Karten auf den Tisch zu
legen, um endlich ans Ziel zu kommen. Potain sandte an den Ministerpräsi-
denten Reynaud einen Brief, der unter anderem die ominösen Zeilen ent-
hielt:
„Der Ernst der Situation überzeugt mich, daß die Feindseligkeiten sofort eingestellt
werden müssen. Dies ist der einzige Schritt, der unser Land retten kann." (Dieser Brief
fand sich unter den Papieren, die der Marschall nach seiner Verhaftung im Frühjahr
1945 aus Deutschland mitbrachte.)
Als Petain diese Worte schrieb, trafen andere Mitglieder des Kabinetts
alle Vorbereitungen, den Kampf von Nordafrika aus fortzusetzen. Präsident.
Lebrun und Ministerpräsident Reynaud versuchten vergebens, Petain von
der Notwendigkeit zu überzeugen, weiterzukämpfen. Sie baten ihn, von
seiner Absicht, zurückzutreten, Abstand zu nehmen und auf eine Antwort
Englands zu warten. Wie später bekannt wurde, stammte dieser Brief nicht
einmal von dem Marschall selbst, sondern war von jemand anderem geschrie-
ben und dem Ministerpräsidenten zugestellt worden. Potain erklärte dazu
vor dem Hohen Gericht im Juni 1945: „Ich war nicht dabei, als der Brief
entworfen wurde. Es wurden darin lediglich meine Gedanken dargelegt."
Von wem? Von seinen Komplicen Weygand und Laval. Sie schrieben den
Brief, um die Regierung zu stürzen und sich selbst an die Macht zu bringen.
Das war nur eine der vielen Intrigen, Bestechungen und Betrügereien, die
sie verübten, um ihr Ziel zu erreichen.
Petain war bereits zur Kapitulation Frankreichs entschlossen gewesen,
bevor die Naziarmeen Paris erreicht hatten. Als Winston Churchill Anfang
Juni kurze Zeit in Frankreich weilte, um sich mit der französischen Regie-
rung zu beraten, sagte er, bemüht, Optimismus zu wecken, zu Petain: „Wir
hatten 1918 schwierige Tage und wir sind durchgekommen. Auch diesmal
werden wir es schaffen." Darauf erwiderte Potain schroff: „1918 gab ich
vierzig französische Divisionen, um die britische Armee zu retten. Wo sind
Ihre vierzig Divisionen, die uns heute retten könnten?"
Während der Kabinettsitzung an demselben Abend verstärkte sich die
defätistische Stimmung. Das war vor allem auf die Bemühungen zweier
Personen zurückzuführen, die den Ministerpräsidenten zur Kapitulation zu
überreden suchten - auf Helen de Portes und auf den Unterstaatssekretär
300
Reynauds, Paul Baudouin, einen fanatischen Katholiken und Komplicen
Petains.
Marschall Petain und General Weygand erschienen täglich um 1 1 Uhr bei
Reynaud. Am 10. Juni, an dem Tage, an dem Mussolini in den Krieg ein-
trat, kam Weygand unangemeldet und verlas sofort eine Erklärung, in der
er die französische Regierung aufforderte, zu kapitulieren. Reynaud wies
Weygands Ansinnen zurück und verließ in der Nacht, begleitet von General
de Gaulle, Paris in Richtung Orleans.
Am nächsten Morgen setzte sich General Weygand telephonisch mit Rey-
naud in Verbindung und teilte ihm mit, daß er Churchill gebeten habe, in
sein Hauptquartier nach Briare zu kommen, um sich selbst von der Hoff-
nungslosigkeit der Lage zu überzeugen.
Im Gegensatz hierzu waren viele Regierungsmitglieder entschlossen,
weiterzukämpfen, und drängten den Ministerpräsidenten, den Forderungen
Petains und Weygands nicht nachzugeben.
Am 12. Juni überzeugten der Innenminister George Mandel, der Prä-
sident der Nationalversammlung Edouard Herriot, der Senatspräsident Jules
Jeanneney und General de Gaulle den Ministerpräsidenten, daß es not-
wendig sei, den Krieg von Nordafrika aus weiterzuführen. Pläne wurden
entworfen, die es ermöglicht hätten, ungefähr ein halbe Million Soldaten
von allen zur Verfügung stehenden Häfen aus nach Afrika zu transportieren.
Der Ministerpräsident befahl General Weygand schriftlich, diesen Plan
durchzuführen. Weygand fürchtete jedoch, daß die Chance, auf die er und
seine katholischen Freunde solange hingearbeitet hatten, verspielt würde,
und führte den Befehl nicht aus. General de Gaulle äußerte sich dazu am
18. Juni 1945:
„Am 12. Juni versuchten wir, Herrn Reynaud zu ermutigen. Ich erreichte, daß er mir
einen schriftlichen Befehl an General Weygand aushändigte. Der Befehl sah Maß-
nahmen vor wie den Abzug zweier Reservistenjahrgänge, die sich noch in der Ausbildung
befanden, einiger motorisierter Divisionen aus Belgien, einiger Alpen jagerdi Visionen,
bestimmter Spezialisten und so weiter - insgesamt etwa 500000 Mann. Die Pläne hierfür
waren bereits ausgearbeitet. Diese Kräfte sollten über alle Häfen von Brest bis Nizza
evakuiert werden. Aber General Weygand führte den Befehl nicht aus."
Die Verschwörer machten sich inzwischen ernste Sorgen über das Ver-
halten Großbritanniens. Sie wollten erreichen, daß Großbritannien eben-
falls kapitulierte. Als Churchill am 13. Juni in Tours eintraf, versuchte
Baudouin ihn — allerdings ohne Erfolg — zur Kapitulation zu bewegen. Rey-
naud erklärte, daß er telephonisch mit Präsident Roosevelt sprechen müsse,
bevor er eine Entscheidung treffe.
Als die Verschwörer erkannten, daß die französische Regierung nicht
bereit war, zu kapitulieren, und sich weigerte, einem von Petain geführten
301
Kabinett den Weg freizugeben, entwickelten sie einen neuen Plan, der dar-
auf abzielte, die französische Regierung und vor allem das konservative
England zu schrecken. Sie führten wieder einmal das von den Katholiken
und den Nazis bereits zuschanden gerittene Gespenst des Kommunismus ins
Feld.
Potain sollte versuchen, die französische Regierung durch einen offenen
Angriff zu stürzen. Falls die Attacke keinen Erfolg hatte, wollte Weygand
die Nachricht verbreiten, daß die Kommunisten von Paris Besitz ergriffen
und in der Stadt ein Schreckensregiment errichtet hätten. General de Gaulle
berichtete darüber am 18. Juni 1945:
„Potain ging an demselben Tag auf einer Kabinettsitzung im Chateau de Cange zum
offenen Angriff gegen Herrn Reynaud über. General Weygand gab bekannt, Paris be-
fände sich in den Händen der Kommunisten. Wir sprachen telephonisch mit Herrn Roger
Langeron, demPräfekten der Pariser Polizei. Langeron erklärte den Bericht für unwahr."
Die französische Regierung verlegte ihren Sitz von Tours nach Bordeaux.
Dort war ein prominenter Katholik und Freund Lavais, Marquet, Bürger-
meister. Laval war noch nicht in der Regierung, aber er war hinter den Ku-
lissen emsig am Werk, im Parlament durch Drohungen und Versprechungen
eine Mehrheit für die Kapitulation zusammenzubringen.
Ministerpräsident Reynaud erteilte den Parlamentariern abermals den
Rat, den Kampf, falls notwendig, von Nordafrika aus fortzusetzen. Die Prä-
sidenten Herriot und Jeanneney unterstützten ihn. Daladier, Mandel und
andere Kabinettsmitglieder wollten sich in Bordeaux bereits einschiffen, um die
Regierungsarheit in Nordafrika fortzusetzen. Aber Laval verhinderte das
Auslaufen. Potain befahl, die Schiffe anzuhalten. Alle, die zu fliehen ver-
suchten, wurden verhaftet.
Unterdessen war de Gaulle in England eingetroffen und bemühte sich um
die Beschaffung des Schiffsraumes, mit dem die französische Regierung und
ihre Truppen nach Nordafrika transportiert werden sollten. Aber Reynaud
trat zurück, Petain wurde Ministerpräsident. Am 17. Juni 1940 um 1 Uhr
nachts erfuhren Churchill und de Gaulle, daß Potain um Waffenstillstand
gebeten hatte.
Ob Laval bei der Ernennung Petains zum Ministerpräsidenten die Hand
im Spiel hatte und über französische, deutsche und päpstliche Gelder ver-
fügte, ist noch nicht geklärt, aber sehr wahrscheinlich. Einige Wochen später
hatte er jedenfalls durch seine Machenschaften erreicht, daß dem Marschall
die höchste Macht im Staat übertragen wurde. Auf einer gemeinsamen
Sitzung der beiden französischen Kammern, die am 10. Juli 1940 in Vichy
stattfand, erhielt Petain die entsprechenden Vollmachten. Als Petain vor
dem Hohen Gericht gefragt wurde, wie er denn zu der Möglichkeit gekom-
men sei, die Macht zu ergreifen, antwortete er: „Die ganze Angelegenheit
302
war von Laval arrangiert worden, ich war nicht einmal anwesend" (nämlich
in der Nationalversammlung am 10. Juli 1940).
Als Potain auf diesem Wege „Staatschef" geworden war, bestand seine
erste Amtshandlung darin, das Waffenstillstandsdokument zu unterzeichnen.
Danach entledigte er sich aller Freunde, die den Kampf gegen die Nazis
fortsetzen wollten. Er verhaftete sie, sperrte sie ein und verfolgte sie. Die
neue katholische, reaktionäre Diktatur nahm sofort den Kampf gegen die
Kommunisten auf.
Zu dieser Zeit hatten die Nazis Paris und halb Frankreich besetzt. Die
französische Armee, Marine und Luftwaffe hatten kapituliert. Die Mit-
glieder der alten Regierung befanden sich entweder auf der Flucht oder in
Haft. Die Verfassung war außer Kraft gesetzt, das Parlament hatte sich
selbst aufgelöst. Petain hatte sein Ziel durch die militärische Niederlage
seines Landes erreicht: Er war Chef eines klerikal -faschistischen Staates ge-
worden. So endete die Dritte Republik.
Der Papst erteilte Petain, Weygand, Laval und ihren Helfershelfern
seinen Segen und scheute sich nicht, seine Befriedigung darüber zu äußern,
daß sich die Dinge in dieser Richtung entwickelt hatten. Im Juli 1940
richtete er einen Brief an die französischen Bischöfe. Wer annimmt, daß er
in diesem Brief die Bischöfe aufforderte, den Invasoren Widerstand zu
leisten und ihren Befehlen den Gehorsam zu verweigern, oder daß er den
Bischöfen befahl, ihren Gläubigen Rebellion zu predigen, wie er einige Jahre
zuvor die spanischen und mexikanischen Bischöfe aufgefordert hatte,
Rebellion gegen ihre demokratischen Regierungen zu predigen - wer das
annimmt, der irrt. Nichts lag dem Papst ferner als das. Er ermahnte die
Bischöfe, angestrengter als bisher zu arbeiten, denn „die schlimmen Schick-
salsschläge, mit denen Gott heute Euer Volk heimgesucht hat, geben Uns
die sichere Gewißheit, daß die Voraussetzungen für eine verstärkte geist-
liche Tätigkeit, für die Wiedererweckung der gesamten Nation günstig
sind".
Als d er neue französische Botschafter beim Heiligen Stuhl sein Beglau-
bigungsschreiben überreichte, versprach Pius XII., daß die Kirche bei dem
Werk der „moralischen Wiedergeburt", das Frankreich auf sich genommen
habe, mitarbeiten und es warmherzig unterstützen werde.
Das offizielle Organ des Vatikans, der Osservatore Romano, veröffent-
lichte am 9. Juli 1940 einen Artikel, in dem Marschall Petain gerühmt und
seine Bemühungen um die „Rettung Frankreichs" in den Himmel gehoben
wurden. Der Artikel sprach von dem „guten Marschall, der mehr als ein
anderer Mann die besten Traditionen seiner Nation verkörpert". Der Artikel
endete mit einem Hinweis auf den „Anbruch eines neuen, strahlenden Tages
nicht nur für Frankreich, sondern für Europa und die ganze Welt".
303
Diese Lobreden riefen überall, namentlich in England und in den USA,
heftige Proteste hervor. Der Vatikan sah sich gezwungen, einen Kardinal
vorzuschicken. Kardinal Hinsley, der als britischer Kirchenfürst das Ohr
der englisch sprechenden Katholiken besaß, erhielt den Auftrag, die Briten
und Amerikaner über die offene Unterstützung der faschistischen Regime
Petains und Hitlers durch den Vatikan zu beruhigen. Hinsley erklärte als
„vatikanische Autorität", daß der Artikel weder offiziell inspiriert noch
offiziell gebilligt worden sei; er stelle lediglich eine Antwort auf eine An-
frage der französischen katholischen Jugendorganisation dar, die sich Öffent-
lich für die Unterstützung Potains und seiner neuen Regierung ausge-
sprochen habe.
Eine der ersten Taten des neuen französischen „Staatschefs" war, die revo-
lutionäre Devise Frankreichs „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ab-
zuschaffen und an ihre Stelle die Devise „Arbeit, Familie, Vaterland" zu
setzen, die den Interessen der Kirche entsprach. In seinen Aufrufen und
Appellen an die französische Bevölkerung wiederholten sich ständig die
Begriffe „Disziplin und Gehorsam". Er erklärte, das neue Frankreich
werde sich von allen traditionellen Freundschaften (mit Großbritannien)
und Feindschaften (mit Deutschland und Italien) lossagen. Gleichzeitig gab
er bekannt, daß er Hitler gebeten habe, gleichberechtigt an seiner Seite bei
der Schaffung der Neuen Ordnung in Europa mitwirken zu dürfen.
Potain und die Kirche verfolgten in Frankreich zwei Ziele: den Staat in
seinem Innern nach den Grundsätzen des Ständesystems aufzubauen und ihn
nach außen zum Kern eines katholischen Staatenblocks zu machen.
Zunächst zum inneren Ziel. Potain war entschlossen, den Sozialismus und
den Kommunismus in Frankreich auszurotten. Er beabsichtigte, einen
Ständestaat entsprechend den Richtlinien der Enzyklika Quadragesimo Anno
zu errichten. Wir wissen bereits, daß darunter ein faschistisches Staatswesen
ähnlich dem in Italien zu verstehen war, in dem die Gewerkschaften durch
staatlich geleitete Ständeorganisationen ersetzt wurden.
In der Industrie wurden alle sozialen Fragen nach den päpstlichen Enzy-
kliken und der faschistischen Ideologie geregelt.
Petain stellte ebenso wie Hitler und Mussolini die kinderreiche Familie
als Ideal hin. Er organisierte die französische Jugend in halbmilitärischen
Formationen nach dem Muster der Hitlerjugend. Er hob alle Gesetze auf,
die in der Dritten Republik den Machtbereich der Kirche eingeschränkt
hatten, führte den obligatorischen Religionsunterricht an allen französischen
Schulen ein und erlaubte den Priestern, in den staatlichen Schulen wieder
Unterricht zu erteilen. Kurz, Potain imitierte Hitler und Mussolini in jeder
Beziehung, nur bezüglich des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche ging
er „eigene Wege" und räumte der Kirche weit größere Rechte ein.
304
Im Oktober 1941 verkündete Petain nach dem Vorbild Italiens ein großes
Gesetzeswerk, La Charte du Travail. Dieses Arbeitsgesetz stützte sich vor
allem auf die Lehren von La Tour Du Pin und Le Mun, die Ende des
19. Jahrhunderts als Pioniere einer sozialen Reformbewegung aufgetreten
waren. Gemäß diesen Lehren forderte das Arbeitsgesetz friedliche Bezie-
hungen zwischen gutwilligen und freigebigen Unternehmern und zu-
friedenen und ehrerbietigen Arbeitern. Das Gesetz fußte auch auf der
Soziallehre der katholischen Kirche, die in den Enzykliken Leos XIII; und
Pius* XL dargelegt war und die Wiedererrichtung der mittelalterlichen
Gilden und Stände vorsah.
Die Arbeitsgesetzgebung Petains ähnelte vor allem der entsprechenden
Gesetzgebung der autoritären Regime in Portugal, Spanien und Italien. Alle
Handels- und Industrieunternehmen wurden in sogenannte Familles Pro-
fessionelles unterteilt. Diese bildeten den Rahmen des Ständewesens und
hatten die Aufgabe, alle Angehörigen des betreffenden Berufes oder Wirt-
schaftszweiges in sich zu vereinen.
Auch die Bauern erhielten ihre gesetzliche Standesorganisation, die
Corporation Paysanne. Petain versuchte gemäß den Lehren des Katho-
lizismus Frankreich wieder in ein Agrarland zu verwandeln. Die Kirche
lehrte, daß die Massenapostasie der modernen Welt wesentlich auf die
„Seuche der Industrie" zurückzuführen sei. In den Industriebezirken gebe
es Millionen abtrünniger Katholiken, in den ländlichen Bezirken dagegen
halte die Bevölkerung im allgemeinen treu zur Kirche.
In enger Verbindung mit all diesen Maßnahmen stand Petains Politik
zur „Sicherung der Familie". Ebenso wie Mussolini und Hitler forderte
Potain alle Männer und Frauen Frankreichs auf, soviel Kinder wie möglich
in die Welt zu setzen. Den fruchtbarsten Familien winkten Preise und
Prämien. Potain ließ sich, nach der Manier Mussolinis, umgeben von
Familien mit zehn, zwölf und vierzehn Kindern, photographieren. Er schenkte
den Müttern dieser Familien sein Bild und stellte sie in seinen Reden als
Vorbild hin. Die Gesetzgebung sicherte den großen Familien weitgehende
Vorteile. Arbeiter mit großen Familien erhielten Lohnzulagen. Die Frauen-
arbeit wurde eingeschränkt, im öffentlichen Dienst, im Kolonialdienst und
im Verkehrswesen durften keine verheirateten Frauen beschäftigt werden.
Die Aufgabe der verheirateten Frau hatte darin zu bestehen, der Nation die
Kinder großzuziehen. Die Scheidung wurde außergewöhnlich erschwert,
wenn nicht unmöglich gemacht. Für Abtreibung wurde die Todesstrafe ein-
geführt. Im März 1942 machte Petain nach dem Vorbild der Nazis Haus-
wirtschaft und Kindererziehung zu Pflichtfächern für Mädchen. Allen
Schülern an den Grundschulen mußte bevölkerungspolitischer Unterricht
erteilt werden.
20 M359
305
Bei allen Rundfunksendern wurden besondere Abteilungen für die Pro-
pagierung des Familienschutzes eingerichtet. Ausstellungen über die Pflege
des Familienlebens und über die Arbeit der Vereinigung zum Schutz der
Familie wanderten durch das ganze Land. Kinderreiche Familien erhielten
als Auszeichnung einen Familienorden.
Die Organisierung und Erziehung der französischen Jugend erfolgte, wie
bereits erwähnt, nach dem Vorbild der Hitlerjugend, aber unter starker
Betonung des katholischen Gedankenguts. Die Jugendorganisationen waren
totalitär, erfaßten in ihrer Mehrzahl das ganze Land und wurden vom Staat
kontrolliert. Eine von ihnen, die sich mit der Ausbildung der Landjugend
befaßte, nannte sich Service Civique Rurale; sie war ein Zweig der Corpo-
ration Paysanne.
Die wichtigste dieser Organisationen, die sowohl die ländliche als auch
die städtische Jugend umfaßte, nannte sich Chantier de la Jeunesse. Alle
Jugendlichen im Alter von 18 bis 22 Jahren mußten in dieser dem nazi-
stischen Arbeitsdienst ähnlichen Organisation einen sogenannten nationalen
Pflichtdienst leisten. Sie wurden in Lagern zusammengefaßt, in denen
militärische Disziplin herrschte. Die Löhnung betrug pro Tag 1 Franc
50 Centimes*. Die Jugendlichen mußten als billige Arbeitskräfte für den
Staat und für große Industrieunternehmen arbeiten.
Ferner gab es die Organisation der sogenannten Compagnons de France.
Sie mußten sich verpflichten, für wenig Geld schwere Arbeiten zu ver-
richten, sich einer strengen Disziplin zu unterwerfen und regelmäßig am
katholischen Gottesdienst teilzunehmen.
Die besondere Sorge des Marschalls galt dem Jugendverband Les Jeunes
du Marichal) einer Nachahmung der Schutzstaffeln und Leibwachen Hitlers
und Mussolinis. Voraussetzungen für den Eintritt in diese Organisation
waren Treue zum Katholizismus und fanatischer Haß gegen den Sozialismus
und den Kommunismus. Viele Mitglieder dieser Organisation kämpften in
der französischen antibolschewistischen Legion an der „Ostfront".
Die Association Catholique de la Jeunesse Frangaise, der vor allem Studen-
ten angehörten, befaßte sich mit der religiösen Erziehung der Kinder.
Die Jeunesse Ouvriire Chritienne orientierte sich hauptsächlich auf die
Arbeiterjugend. Außerdem gab es die Studentenorganisation Jeunesse
titudiante Chritienne und schließlich die Scouts de France^ die französischen
Pfadfinder. Sie standen völlig unter kirchlicher Kontrolle und wurden von
einem Dominikaner geleitet, der Petain unmittelbar verantwortlich war.
Um die französische Jugend mit faschistischem Geist zu durchdringen,
befaßte sich Petain vordringlich mit den Aufgaben des französischen
* 77* Pfennig.
306
Erziehungswesens. Vor der Französischen Revolution hatte die Kirche das
unumschränkte Erziehungsmonopol inne. Das Erziehungswesen der franzö-
sischen Republik war jedoch dafür bekannt, daß es in scharfem Gegensatz
zu den Lehren und Ansprüchen der Kirche stand. Napoleon hatte die mitt-
leren und höheren Ausbildungsstufen der staatlichen Kontrolle unterstellt
und das Erziehungswesen in hohem Maße zentralisiert. Sein Erziehungs-
minister entwarf einen ausführlichen Lehrplan, der den Kindern einen
umfangreichen Überblick über die Kultur und das Wissen ihrer Zeit gab.
Das napoleonische Erziehungswesen arbeitete auch mit der Kirche zu-
sammen, aber die Kirche hatte sich dem Staat unterzuordnen. Die Grund-
schulen blieben unabhängige, private Einrichtungen vorwiegend religiösen
Charakters, aber auch sie unterstanden der Kontrolle des Staates.
Im Jahre 1833 bezog König Louis Philippe auch die Grundschulen in das
staatliche Schulsystem ein, gestattete aber gleichzeitig den privaten Grund-
schulen weiter zu unterrichten. Dadurch sicherte er sich, wie später Napo-
leon III., die politische Unterstützung der Kirche. Um 1854 unterhielt die
Kirche 1081 private Lehranstalten.
In der Dritten Republik triumphierte der Antiklerikalismus. Der Religions-
unterricht wurde durch Gesetz an allen staatlichen Schulen abgeschafft.
Allen Angehörigen religiöser Orden, die keine staatlichen Examen bestanden
hatten, wurde das Recht zur Lehrtätigkeit aberkannt. 1934 besuchten
80 Prozent der grundschulpflichtigen Kinder und 50 Prozent der Mittel -
und Oberschüler staatliche Schulen. An den religiösen Erziehungsstätten
stellten die Mädchen den größten Anteil der Schüler. Als 1936 der Besuch
der staatlichen Schulen kostenlos wurde, erlitten die katholischen Schulen,
von denen die meisten durch die Schulgelder ihrer Schüler unterhalten
wurden, erhebliche Verluste. Die staatliche Erziehung hatte einen weiteren
Sieg errungen.
So sah das französische Erziehungswesen vor dem Zusammenbruch der
Dritten Republik aus. Der Staat gewährte seinen Kindern eine kostenlose,
weltliche und äußerst liberale Erziehung, frei von jeder kirchlichen Ein-
mischung. Die Kirche protestierte zwar immer wieder heftig dagegen, ohne
aber etwas Wesentliches daran ändern zu können.
Als Potain an die Macht kam, änderte sich die Situation grundlegend.
Der katholischen Kirche wurde Zug um Zug die Kontrolle über das Erzie-
hungswesen übertragen.
Petain setzte durch eine Verordnung das Gesetz vom 7. Juli 1904 außer
Kraft, das die Angehörigen religiöser Kongregationen von der Lehrtätigkeit
an Schulen und Universitäten ausschloß.
Am 29. Juli 1940 gab der neue Erziehungsminister Mireaux, früher
Herausgeber der Zeitung Le Temps, die Abschaffung der beratenden
307
Lehrerkollegien an den höheren Schulen bekannt. Dieses Gremium war be-
rechtigt gewesen, über die Zusammensetzung des Lehrkörpers zu entscheiden.
Die tiColes Normales <T Instituteurs, die Lehrerbildungsanstalten, wurden
aufgelöst. An ihre Stelle traten Spezialkurse für Lehranwärter der höheren
Schulen.
Die katholischen Schulen wurden den staatlichen Schulen gleichgestellt
und von nun an ebenfalls vom Staat finanziert. Die Schulbücher wurden
unter der persönlichen Überwachung Potains neu geschrieben. Viele Schul-
bücher der Dritten Republik fielen dem Verdammungsurteil der katho-
lischen Kirche zum Opfer, weil sie angeblich antireligiöse und antikatho-
lische Propaganda enthielten.
Petain versprach dem Vatikan und der französischen Hierarchie, der
Kirche in Erziehungsfragen weitgehende Privilegien zu gewähren. Der
Vatikan übermittelte Petain durch den Kardinal Suhard, er erwarte, daß
Petain die Erziehungsgesetzgebung dem kanonischen Recht anpasse, in dem
es im 1. Abschnitt des Kanon 1372 heißt:
„Die Gläubigen sind von Jugend an derart zu erziehen, daß ihnen nichts beigebracht
wird, was der katholischen Religion und den ehrbaren Sitten widerstrebt ; die Erziehung
muß somit vor allem eine religiös-sittliche sein." (Zitiert nach Das kirchliche Gesetzbuch
von Prälat Dr. Anton Pera thoner, em. Auditor der römischen Rota, Bressanone, 1926)
Und im Kanon 1375: „Die Kirche hat das Recht, nicht nur Elementar-, sondern auch
Mittel- und Hochschulen zu errichten." (ebenda)
Petain behielt zwar die zentralisierte Organisation des Erziehungswesens
bei, unterstellte es aber unmittelbar den Jesuiten.
Alle diese Maßnahmen stießen auf den heftigsten Widerstand der Grund -
schullehrer, die wegen ihres republikanischen Geistes bekannt waren. Petain
gelang es trotz zahlreicher Repressivmaßnahmen nicht, die Opposition der
Grundschullehrer zu brechen.
Die Dritte Republik hatte an ihren Schulen keinen obligatorischen Reli-
gionsunterricht gekannt. Es gab wahlfreien Religionsunterricht, der aber
oft nur so gering besucht wurde, daß die Schuldirektoren ihn nach Rück-
sprache mit dem Recteur d'Acade'mie vom Lehrplan absetzten. Potain war
es vorbehalten, den obligatorischen Religionsunterricht an den Schulen ein-
zuführen. Er schuf außerdem eine spezielle Kommission zur Überwachung
der Bücher, die in den höheren Schulen benutzt wurden. Vor allem der
Geschichtsunterricht wurde gründlich geändert; der Schwerpunkt des Unter-
richts wurde auf das vorrevolutionäre Frankreich gelegt. In den Kapiteln
über die Gegenwart wurden eingehend die Mängel der Dritten Republik
behandelt und die Vorzüge eines Staates gerühmt, der auf den Grundlagen
der Disziplin, des Gehorsams und des Respektes vor der Autorität der Kirche
beruhte.
308
Petains Erziehungspolitik war klerikal und reaktionär. Er wollte die
höhere Bildung auf eine bevorzugte kleine Schicht beschränken; die Masse
der Jugendlichen sollte auf dem Land und in den Fabriken arbeiten, für sie
genügte daher, daß sie lesen, schreiben und gehorchen lernte. Auch der
Antisemitismus wurde gefördert. Geschichtsbücher jüdischer Autoren wur-
den verboten. Kurz, die französische Jugend wurde nach dem Vorbild der
Nazis erzogen.
Petains Regime stellte sich die Aufgabe, den Einfluß, die Grundsätze und
die Methoden der Dritten Republik auf allen Gebieten des gesellschaft-
lichen Lebens auszumerzen. Es ist unmöglich, hier alle Einzelheiten dieser
Entwicklung aufzuführen. Wir denken, daß die genannten Tatsachen dem
Leser bereits eine hinreichende Vorstellung über die Art der Reformen ver-
mittelten. Sie wurden trotz des Widerstandes der französischen Bevölkerung
im allgemeinen durchgesetzt.
Zu erwähnen wäre noch die Einrichtung einer Filmzensur. Sie hatte die
Aufgabe, „teuflische Einflüsse auf die französische Jugend zu unterbinden".
Auch eine Art katholischer Gestapo wurde eingeführt. Über ihre Arbeits-
weise erfahren wir einiges aus einer Anordnung des Innenministers Peyrou-
ton, der am 20. November 1940 die Präfekten aller Departements ver-
pflichtete, ihre Untergebenen „moralisch zu kontrollieren". Die örtlichen
Chefs de Cabinet, deren Berufung auf Grund „moralischer und sozialer"
Qualifikation zu erfolgen hatte, sollten ihnen bei der Durchführung der
damit verbundenen Aufgaben zur Seite stehen.
Petain wünschte als entschiedener Gegner aller demokratischen Ideale die
Wahlen abzuschaffen. Da er dies aber nicht ohne weiteres tun konnte, führte
er die sogenannte Familienstimme als ersten Schritt in dieser Richtung
ein. Das hieß, daß bei künftigen Wahlen nur der Haushaltungsvorstand
wählen durfte.
Vereinigungen, die sich gegen die katholische Kirche richteten oder die
die katholische Kirche als ihre Gegner ansah, wurden unterdrückt oder ver-
boten. Die Kirche aber erhielt alle alten Freiheiten und Privilegien schritt-
weise zurück. Auch die Rückgabe der kirchlichen Ländereien und Liegen-
schaften, die nach der Trennung der Kirche vom Staat noch nicht veräußert
worden waren, wurde in die Wege geleitet. Vor allem die religiösen Orden
hatten davon Gewinn. Während die Steuern für die gesamte Bevölkerung
anstiegen, wurde die Besteuerung des kirchlichen Eigentums wesentlich
gesenkt.
Die Beziehungen zwischen dem Petainregime und der Kirche blie-
ben jedoch nicht frei von Mißtönen. Die gleichen Schwierigkeiten, die
bei den faschistischen Regimen auftauchten, stellten sich in Frankreich
ein. Der Streit entzündete sich ebenso wie in Italien und Deutschland
309
an der Jugendfrage. Die Kirche erhob Klage, daß das neue Regime in den
Fragen der Erziehung zu sehr auf die patriotischen Gedanken und nicht
genügend auf die Verbreitung der katholischen Lehre Wert lege. Die Geist-
lichkeit wandte sich sogar einmal gegen den Religionsunterricht in der
Schule, weil der Unterricht dort infolge der antiklerikalen Einstellung vieler
Lehrer nicht wirklich katholisch sei. Aber diese Unstimmigkeiten änderten
nichts an der Tatsache, daß die Kirche und Petain in den wesentlichen
Fragen übereinstimmten. Sie gingen gemeinsam an die Ausarbeitung eines
Konkordats, das für die katholische Kirche nahezu unumschränkte Privilegien
vorsah, Privilegien, die nur mit denen zu vergleichen waren, die sie vor der
Französischen Revolution besaß.
Wie verhielt sich die katholische Kirche zu dem von Potain errichteten
autoritären Regime?
Aus dem, was wir bisher untersuchten, geht klar hervor, daß die katho-
lische Kirche dem Regime nicht nur günstig gesinnt war, sondern es offen
und direkt aus vollem Herzen unterstützte, allerdings mit der einen Ein-
schränkung, daß diese Politik nicht mit den Interessen der Kirche in anderen
Teilen der Welt in Kollision geriet. Wir schilderten auch bereits, wie sich
der Vatikan vor dem Juni 1940 in die inneren Angelegenheiten Frankreichs
einmischte, um jenen Wechsel des politischen Systems zu erreichen, der so
günstige Bedingungen für die geistige und politische Vorherrschaft der
katholischen Kirche schuf.
Daß der Vatikan die französische Hierarchie anwies, sich auf die Seite
Potains zu schlagen, steht außer Zweifel. Der beste Beweis hierfür ist die
Tatsache, daß die französische Hierarchie, mit wenigen bemerkenswerten
Ausnahmen, das neue Regime von seinen ersten Anfängen an wärmstens
unterstützte. Erst viel später geschah es hin und wieder, daß die franzö-
sischen Bischöfe und selbst der Vatikan einige Worte des Protestes äußerten;
aber diese Proteste richteten sich niemals gegen Hitler, niemals gegen das
Nazisystem, niemals gegen das faschistische Petainregime. Sie wurden ledig-
lich erhoben, wenn Petain oder Hitler gewisse Versprechen, die sie der
Kirche gegeben hatten, nicht hielten; wenn es zu Differenzen über Erzie-
hungsfragen oder über die geistliche Betreuung der Arbeiter oder zu Über-
griffen auf Gebiete kam, die in die Interessensphäre der Kirche fielen.
In der ersten Zeit protestierte nicht ein einziger französischer Prälat,
dessen Stimme Gewicht gehabt hätte, gegen die Nazis oder gegen Potain.
Erst allmählich, als die Kirche erkannte, wie stark der Haß des französischen
Volkes gegen die Nazis und gegen Petain war, als der französische Patrio-
tismus erwachte und die Widerstandsbewegungen erstarkten, machte sie hier
und da einige Zugeständnisse und gestattete einigen französischen Bischöfen
oder Kardinälen, ihrem Unwillen Ausdruck zu verleihen. Trotzdem blieben
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die Beziehungen zwischen der Kirche und Petain sehr herzlich. Die höhere
Geistlichkeit bekannte sich offen zu den Idealen der „nationalen Revolution",
wie es in den ersten Tagen nach dem Zusammenbruch hieß. Ihre Gesamt-
haltung brachte Kardinal Suhard zum Ausdruck, als er im Oktober 1942
sagte: „Politik geht uns nichts an. Die römisch-katholische Kirche in Frank-
reich ist ein geistiger Kraftquell, der beim Aufbau des neuen Frankreichs
mithelfen wird."
Wenn die Kirche auch für Petain war, so war sie doch nicht prodeutsch.
Das wäre auch kaum möglich gewesen angesichts der Tatsache, daß Millionen
Franzosen nur ein Ziel hatten : die Vertreibung der Nazis aus ihrem Lande.
Trotzdem gab es viele prominente französische Kirchenführer, die sich offen
und aktiv pronazistisch betätigten. Nur einige Namen seien hier genannt:
Kardinal Baudrillart, Rektor des Katholischen Instituts, der sich, getrieben
von seinem extremen Bolschewistenhaß, der Groupe Collaboration anschloß;
Kardinal Suhard, Erzbischof von Paris, der durch seine plumpen und vul-
gären Ausfälle in seiner Zeitung Soutanes de France zu trauriger Berühmt-
heit gelangte; Gounod, Primas von Tunesien; Gerlier, Erzbischof von Lyon
und viele andere.
Die niedere Geistlichkeit folgte anfangs den Weisungen ihrer Vor-
gesetzten, kühlte aber später in ihrer Haltung merklich ab, da sie engen
Kontakt mit dem Volke und seinen täglichen Sorgen hatte.
Viele katholische Zeitungen waren kollaborationistisch und profaschistisch,
das heißt für Potain eingestellt. Die berüchtigtsten von ihnen waren
La Croix, die größte katholische Zeitung, die nach der Befreiung Frank-
reichs wegen ihrer Unterstützung der Kollaborationspolitik gerichtlich
belangt wurde, und die ultrakatholische Action Frangaise, die fanatisch die
Widerstandsbewegung unter den katholischen Gläubigen bekämpfte. Sie
forderte in vielen Fällen die Entlassung von Gemeindepfarrern, die der
Jugend, nach Meinung der Zeitung, nicht die richtige Anleitung zukommen
ließen. Diese Denunziationspolitik erreichte ihren Höhepunkt am 26. Juni
1943, als sie einen Artikel aus der illegalen Zeitung Courrier Frangaise
du Timoignage Chrdtien abdruckte, in dem ein ungenannter Geistlicher
die Legitimität der Vichy- Regierung anzweifelte und die Auffassung zum
Ausdruck brachte, daß:
„. . . unter den gegenwärtigen Umständen - die Frage der Bürgerpflicht gegenüber
einer Regierung, die nur dem Namen nach eine Regierung ist, begrifflich neu gefaßt
werden muß; der Bürger ist durch keinerlei Gehorsamspflicht in rechtlichen oder poli-
tischen Fragen gebunden; das Recht, anderen Autoritäten zu gehorchen, kann nie-
mandem, wenn sein Gewissen es fordert, verweigert werden".
Dem Abdruck des Artikels folgte eine Flut von Beschimpfungen. Dem
niederen Klerus wurde vorgeworfen, daß er die Jugend zur Revolte oder
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zum Eintritt in den Maquis aufhetze und die Legitimität der Petainregierung
anzweifle, was als Staatsverbrechen angesehen wurde.
Diese Haltung der niederen Geistlichkeit alarmierte den Vatikan und
die französische Hierarchie. Sie unternahmen Schritte, um jede aktive Teil-
nahme von Geistlichen an der Widerstandsbewegung zu unterbinden. Die
Generalversammlung der Kardinäle und Erzbischöfe von Frankreich be-
faßte sich im Oktober 1945 mit dieser Frage. Sie veröffentlichte eine Er-
klärung, in der die oben zitierten Theorien des ungenannten Geistlichen
verworfen wurden. Die Kardinäle und Erzbischöfe bekräftigten aufs neue
ihre Loyalität zum Pe'tainregime, das sie als völlig legitim bezeichneten. Es
ist wert, festgehalten zu werden, daß die hohen französischen Kirchenführer
noch im Herbst 1943 eine solche Erklärung veröffentlichten, obwohl sie zu
dieser Zeit das Vertrauen des französischen Volkes und selbst der niederen
Geistlichkeit bereits verloren hatten.
Als Hitler seinen Angriff auf die Sowjetunion begann, setzte in Frank-
reich eine wütende Hetzkampagne gegen die „Roten" ein. Die französische
Hierarchie, die, wie wir aus dem Munde des Kardinals Suhard erfuhren,
Politik nichts anginge, hielt sich bei dieser Kampagne nicht abseits. Die
französischen Katholiken mußten sich unter anderem sagen lassen:
„Zahlreiche französische Katholiken glauben allen Einstes, daß der Bolschewismus
nur ein Schreckgespenst sei, das die Agenten Hitlers erfunden hätten. Diese Katholiken
sollten sich daran erinnern, daß ,der Kommunismus den völligen Ruin der mensch-
lichen Gesellschaft bedeutet*, wie sich Papst Pius IX. ausdrückte; daß ,der Kommunis-
mus eine tödliche Pest ist', wie schon Papst Leo XIII. erklärte, daß ,der Kommunismus
so barbarisch und unmenschlich ist, daß man es kaum zu fassen vermag, wessen er fähig
ist', wie Papst Pius XI. feststellte."
Wer so etwas liest, wird sich nicht wundern, daß viele französische
Katholiken Faschisten wurden, Faschisten, deren ganze politische Über-
zeugung aus einigen antikommunistischen und antisowjetischen Schlag-
worten bestand. Nach solchen haßerfüllten, aber wenig geistreichen Tiraden
eines Kirchenführers ist es ebenfalls nicht verwunderlich, daß sich zahl-
reiche Katholiken freiwillig zu den militärischen Formationen meldeten, die
Seite an Seite mit Hitlers Divisionen gegen die Sowjetunion kämpften.
Wir wissen, weshalb sich die französische Hierarchie so verhielt. Trotzdem
ist es nützlich, die Gründe noch einmal so festzuhalten, wie sie der Erz-
bischof von Auch formulierte:
„Die Hierarchie ist unzweifelhaft ein Gegner des Bürgerkriegs . . . Laßt uns vor allem
Franzosen sein. Schließen wir uns um unsere Fahne zusammen und um den, der sie
trägt."
Der Bischof von Brieuc drückte es plumper aus:
„Sollte die Anarchie kommen, wären wir ihr erstes Opfer."
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Kardinal Gerlier, nach Ansicht des Vatikans ein Mitglied des „ gemäßigten"
Flügels der französischen hohen Geistlichkeit, sagte am 16. Juni 1943:
„Die Vorsehung schenkte Frankreich in einer der tragischsten Stunden seiner Ge-
schichte einen Führer, um den wir uns stolz und glücklich scharen können. Meine
Priester werden sich erinnern, daß ich das schon einmal gesagt habe. Wir beten zu Gott,
daß er unseren Marschall segne und uns als seine Mitstreiter anerkenne, namentlich jene,
deren Auftrag so schwierig ist. Die Kirche setzt auch weiterhin in den Marschall ihr Ver-
trauen und erweist ihm liebevolle Verehrung."
Auf die Vorwürfe einiger andersdenkender Bischöfe und vieler Ange-
höriger der niederen Geistlichkeit, daß der Marschall ein Faschist sei und
mit Hitler zusammenarbeite, daß er ein totalitäres Staatswesen errichte
und bereits wie Hitler in Deutschland beginne, sich in kirchliche Fragen
einzumischen, antwortete der Kardinal in derselben Rede:
„Nichts kann oder wird jemals unser Vertrauen in den Marschall erschüttern; wir
Katholiken werden ihn nicht für Geschehnisse verantwortlich machen, die das Mißfallen
der Kirche erregten."
In späteren Erklärungen (1943) ging der Kardinal so weit, zu fordern, daß
sich die Katholiken weder heute noch in Zukunft gegen Laval stellten.
Am 23. November 1943 erklärte ein hoher Geistlicher namens Piquet:
„Für mich und gleich mir für viele andere ist Marschall Potain das Oberhaupt des
französischen Staates, weil Gott selbst es wünschte, daß er und nicht eine mittelmäßige
Versammlung von Leuten an der Spitze des französischen Staates stehe. Und ich sage,
wenn alle Katholiken Frankreichs - ich betone, alle, Bischöfe, Priester, Doktoren, Laien
und so weiter - ihm religiös, blind nnd fanatisch vor und nach dem Waffenstillstand
gefolgt wären, ihm zugestimmt und auf ihn gehört hätten, das Schicksal Frankreichs
hätte sich anders gestaltet."
Wir erwähnten bereits, daß sich die französische niedere Geistlichkeit
immer stärker der Kollaborationspolitik ihrer Hierarchie widersetzte. Der
Abbe' Daniel Pzeril brachte diese Situation sehr treffend zum Ausdruck, als
er sagte:
„Die Theologen in Paris, Lyon und Lille bemühen sich zwar in gewisser Beziehung,
den Befehlen der Bischöfe nachzukommen, aber gleichzeitig vermitteln sie ihren Gläu-
bigen unangreifbar immer neue Beweise, die ihnen klarmachen sollen, daß Frankreich
die Situation, in der es sich befindet, nicht länger dulden dürfe. Die Kardinäle und Bi-
schöfe sind nicht in der Lage, diese Theologen mundtot zu machen oder ihren Einfluß
zurückzudrängen."
Wir wissen bereits, daß der Vatikan in Frankreich neben seinem innen-
politischen auch ein bestimmtes außenpolitisches Ziel verfolgte. Beide Ziele
waren Bestandteile eines weitgespannten Plans und hatten sich diesem
unterzuordnen.
Dieser umfassende Plan des Vatikans war eine Weiterentwicklung des
Seipelschen Projektes zur Schaffung eines festen Blocks katholischer Staaten
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in Europa. Während Seipel jedoch einen Staatenblock in Mitteleuropa
bilden wollte, dessen Kernstück vor allem die früheren Provinzen Öster-
reich-Ungarns sein sollten, sah der neue Plan einen Block vor, der die
romanischen Länder Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Belgien
und eigenartigerweise auch das katholische Süddeutschland vereinen sollte.
Wie man Süddeutschland in diesen Block einbeziehen wollte, falls Hitler,
was man ja hoffte, den Krieg gewann, bleibt ein Rätsel.
Die Vereinigung dieser Staaten sollte auf der Grundlage des Stände-
systems vor sich gehen. Dadurch wäre ein Gemisch der Regime Salazars in
Portugal, Francos in Spanien, Mussolinis in Italien und Petains in Frank-
reich zustande gekommen, das von der katholischen Kirche als Faßreifen
hätte zusammengehalten werden müssen. Hitler wußte von diesen Plänen.
Ein Beweis dafür ist, daß er Petain, als dieser noch Botschafter in Madrid
war, das Versprechen gab, er werde die Bildung eines „festen Blocks katho-
lischer Länder, die mit Großdeutschland beim Aufbau der Neuen Ordnung
in Europa und der Welt zusammenarbeiten, gestatten" (Aus einem Brief des
italienischen Botschafters in Madrid, August 1939).
Viele Leute hielten diesen Plan für wert, ernsthaft erwogen zu werden.
Er wurde vor allem von einflußreichen Persönlichkeiten der reaktionären
katholischen Kreise in Frankreich, Portugal und Spanien unterstützt. Sie
hatten dabei nicht die Sache des Katholizismus im Auge, sondern ihre
eigenen, durchaus weltlichen Interessen. Manche französische Katholiken
sagten sich, daß ein isoliertes Frankreich Gefahr laufe, zu einem Vasallen
Großdeutschlands degradiert zu werden, während es innerhalb eines
romanischen Blocks das Zentrum des neuen Systems darstellen könne. Die
einzige Alternative zu diesem Projekt sei der Kampf gegen Hitler. Aber
wenn Hitler und Nazideutschland geschlagen würden, gebe es nichts mehr,
so fürchteten sie, was die Flut des Kommunismus hindern könne, Frank-
reich zu überschwemmen; Hitler müsse mit seinen Eroberungen im Osten
beschäftigt werden, inzwischen könne sich der neue Block der romanischen
Länder konsolidieren.
Wie weit Hitler diesen Plan unterstützte, ist nicht bekannt. Tat-
sache ist aber, daß er Potain, Laval und Kardinal Suhard versprach, nach
dem Kriege seine Beziehungen zur katholischen Kirche in ganz Europa
erheblich zu verbessern. Dieses Versprechen deckte sich mit dem Ver-
sprechen - das er dem Papst gegeben hatte -, nach dem Ende der Feind-
seligkeiten mit dem Vatikan ein neues Konkordat abzuschließen. Kardinal
Suhard, Salazar, Franco und der Sekretär der Faschistischen Partei Italiens
nahmen bei zahlreichen Gelegenheiten auf diesen Plan Bezug. Der nazi-
stische Rundfunk sprach über ihn in den höchsten Tönen, malte ein
verlockendes Bild eines neuen, christlichen Europas, gebildet von den
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katholischen Staaten und dem „siegreichen Deutschland", ohne die „tyran-
nische Einmischung jüdischer Unruhestifter aus London und New York".
Das war der auf lange Sicht berechnete Plan, den die katholischen und
rechtsgerichteten Elemente in Frankreich im Sinn hatten, als sie mit Hitler
und Petain zusammenarbeiteten. Im Lichte dieses Planes wird, wenn auch
nur teilweise, die Haltung der französischen Hierarchie verständlich, die
sich der Unpopularität ihrer Handlungen durchaus bewußt war. Kenntnis
von diesem Plan hatte nur ein kleiner Kreis Eingeweihter, die große Mehr-
heit der französischen Katholiken, einschließlich der Bischöfe und der
niederen Geistlichkeit, wußte nichts von ihm. Damit können wir uns auch
die gelegentlichen Proteste und Aktionen erklären, die diese Kreise in der
Absicht, dem Wohl ihres Landes zu dienen, als notwendig und richtig er-
achteten.
Der große Plan des Vatikans und der französischen Hierarchie wurde,
abgesehen von seinem ersten Stadium — der Gründung eines, wenn auch von
einer fremden Macht besetzten, autoritären französischen Staates — , niemals
Wirklichkeit. Wohl waren die romanischen Länder faschistisch und auf der
Grundlage des von der Kirche propagierten Ständesystems aufgebaut, aber
ihr Zusammenschluß hing nicht nur von der Gnade Hitlers, sondern vor
allem davon ab, wie der Krieg end-ete. Der Sieg der Alliierten brachte das
Projekt zum Scheitern.
Der Vatikan hatte bei seinen Anstrengungen, ein autoritäres katholisches
Europa zu schaffen, einen neuen Rückschlag erlitten. Es war ihm nicht ge-
lungen, den Plan zu verwirklichen, den er seit dem Ende des ersten Welt-
krieges verfolgte. Dieser Schlag traf ihn besonders schmerzlich, weil es noch
wenige Jahre zuvor ausgesehen hatte, als stände er kurz vor seinem Ziel.
Der Plan schlug fehl. Spricht das aber den Vatikan und alle anderen
Kräfte, die ihn unterstützten, von der schweren Verantwortung frei, die sie
vor den Völkern tragen?
Als die Deutschen aus Frankreich hinausgeworfen wurden und das Land
sich unter einer provisorischen Regierung mit General de Gaulle an der
Spitze neu organisierte, befand sich die Kirche, genauer gesagt die fran-
zösische Hierarchie, in einer nicht sehr beneidenswerten Lage. Der päpst-
liche Nuntius wurde ziemlich unhöflich aufgefordert, Frankreich zu ver-
lassen. Der Primas der französischen Kirche, Kardinal Suhard, wurde unter
Hausarrest gestellt; ihm wurde verboten, an der ersten großen religiösen
Zeremonie in Notre-Dame teilzunehmen. Dort versammelten sich die neue
Regierung und ganz Paris, um Gott feierlich für die Befreiung der Stadt zu
danken. Einige Bischöfe, unter ihnen der berüchtigte Bischof von Arras,
wurden verhaftet. Es schien, als wollte das befreite Frankreich alle, die mit
Petain und Hitler zusammengearbeitet hatten, ohne Unterschied der Person
bestrafen. Besondere Gerichtshöfe wurden eingesetzt, die Internierungs-
lager füllten sich, Gerichtsverhandlungen waren an der Tagesordnung, viele
französische Kollaborateure wurden verurteilt; schwere Strafen, einschließ-
lich der Todesstrafe, wurden über Journalisten, Rundfunkkommentatoren,
Beamte des Petainregimes und Führer der französischen faschistischen
Parteien und Gruppen verhängt.*
Wohl wurden auch gegen die hohe katholische Hierarchie einige ein-
schneidende Maßnahmen ergriffen, aber die Zeit verging, und nicht ein
einziger Kardinal oder Bischof kam vor Gericht. Man ließ die Angelegenheit
im Sande verlaufen. De Gaulle, obwohl selbst ein guter Katholik, hatte vom
Vatikan die Genehmigung gefordert, Kardinal Suhard und andere Kirchen -
führer der Gerechtigkeit zu übergeben. Aber die Zeit verstrich, und nichts
geschah. Das heißt, es geschah doch etwas. Eben jene Kardinäle, die Petain
von Anfang bis Ende unterstützt hatten, eben jene Kardinäle, die jahrelang
das französische Volk aufgerufen hatten, sich um Petains Fahne zu scharen,
begannen von neuem ihre Stimme zu erheben und die Franzosen aufzu-
fordern, sich nun um die Fahne der neuen Macht zu scharen.
Wenige Tage nach dem Eintreffen der neuen Behörden in Paris hielt
Kardinal Gerlier, Erzbischof von Lyon, eine Rundfunkrede, in der er unter
anderem sagte:
„Wir werden der Regierung, die der Unterstützung aller Gutwilligen bedarf, ent-
sprechend den traditionellen Lehren der Kirche die Loyalität freier Bürger erweisen . . .
Dabei lassen wir uns von der unaufhörlich wachsenden Zustimmung des Landes zu der
neuen Autorität leiten, der einzigen Autorität, die zur Zeit in der Lage ist, die Ordnimg
aufrechtzuerhalten . . , M
Auch Kardinal Suhard rühmte, als man ihm schließlich gestattete, wieder
in der Öffentlichkeit aufzutreten und zu sprechen, die neue Macht und
forderte die Bevölkerung auf, sie zu unterstützen.
Der päpstliche Nuntius war aus Frankreich abgereist. Ein neuer päpst-
licher Nuntius mit reiner Weste wurde bei der französischen Regierung
akkreditiert. Petains Botschafter beim Vatikan wurde aufgefordert, zurück-
zutreten. Dies geschah auch, nachdem der Marschall im Troß der Nazi-
truppen Frankreich verlassen hatte. Ein Botschafter der „neuen Autorität"
nahm seinen Platz ein. Zu derselben Zeit hatte Kardinal Tisserant nach
einem Besuch bei General Catroux und den nordafrikanischen Bischöfen eine
längere Unterredung mit General de Gaulle.
Im ganzen Land begann bald darauf eine Kampagne mit dem Ziel, den
Anteil der katholischen Kirche an der Widerstandsbewegung herauszu-
streichen. Die einfachen Katholiken und Gemeindepfarrer, die noch kurz
* DoriotundLaval wurden zum Tode verurteilt und im Herbst 1945 hingerichtet; Potain
wurde ebenfalls zum Tode verurteilt, aber dann zu lebenslänglicher Festungshaft
begnadigt.
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zuvor von der Hierarchie und ihren Organen wegen ihrer Teilnahme am
Widerstandskampf